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1.0
Anne Lorenz Autor*inneninformationen

DOI: 10.17175/wp_2023_012

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 183976709X

Erstveröffentlichung: 25.05.2023

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autor*innen

Letzte Überprüfung aller Verweise: 24.04.2023

GND-Verschlagwortung: Intertextualität | Linearität | Schrift | Terminologie | Text | 

Empfohlene Zitierweise: Anne Lorenz: Text. In: AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. (Hg.): Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). Wolfenbüttel 2023. 25.05.2023. HTML / XML / PDF. DOI: 10.17175/wp_2023_012


Dieser Glossareintrag wurde abweichend nicht im Rahmen eines externen Begutachtungsverfahrens geprüft. Das Reviewverfahren war ein Open Public Peer Review. Leider konnte die Autorin keine Gutachtenden für diesen Beitrag gewinnen.


[1]Synonyme und ähnliche Begriffe: Rede | Diskurs | Schriftstück | Dokument | Literatur | Werk | Schreiben / Lesen | Kohärenz
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1. Allgemeine Begriffsdefinition

[2]Im alltagssprachlichen Gebrauch bezeichnet ›Text‹ gemeinhin eine sprachliche, meist schriftlich fixierte Kommunikationseinheit, die aus einer im Wortlaut festgelegten und inhaltlich zusammenhängenden Folge von Aussagen besteht. Im sprachwissenschaftlichen Kontext wird die Kategorie ›Text‹ nach textinternen und textexternen Kriterien bestimmt, die je nach theoretischem Ansatz und spezifischem Fokus auf einzelne der vielfältigen textuellen Aspekte unterschiedlich akzentuiert werden. Dementsprechend existiert keine eindeutige, auf alle Textphänomene zutreffende Definition. Während eine Bestimmung auf Basis textexterner pragmatischer Parameter auf den Text in seiner situationsspezifischen kommunikativen Funktion abhebt, werden ihm nach textinternen (grammatischen, strukturellen) Kriterien in der Regel zentrale Merkmale wie Kohärenz auf grammatischer wie lexikalischer Ebene, eine relative Abgeschlossenheit und ein dominierendes Thema zugeschrieben. Je nachdem, ob neben der Sprache andere semiotische Systeme, wie z. B. Bilder, Gestik, Symbole, als konstitutiver Bestandteil in die Textstruktur einbezogen werden, wird der Textbegriff enger oder weiter gefasst.

2. Begriffs- / Ideengeschichte

2.1 Vom rhetorischen Leitbegriff der Rede zum schriftlich fixierten Text der Neuzeit

[3]Entsprechend seinem sprachlichen Ursprung werden die ersten Ansätze zur Bestimmung des Textbegriffs üblicherweise in der klassisch-römischen Antike bei Cicero und Quintilian unternommen.[1] Dort wie bei anderen klassischen Autoren insgesamt findet sich das lateinische Etymon des heutigen Begriffs, ›textus‹, zu Deutsch ›Gewebe‹ bzw. ›Geflecht‹, aber nur selten. Als »impliziter Grundbegriff«[2] wird es für sprachliche Sachverhalte bis zur frühen Neuzeit entweder metaphorisch oder alltagssprachlich verwendet. Stattdessen herrschen in den römisch-antiken Beschreibungen komplexer sprachlicher Einheiten die Fachtermini sermo und oratio vor.[3]

[4]Erst die späteren mittelalterlichen Autoren wie der Grammatiker Priscian erheben die schriftliche Fixierung zum neuen grundlegenden Kriterium der oratio.[4] Die Begriffe ›textus‹ und ›contextus‹ treten dagegen auch im Mittelalter weder in der grammatisch-rhetorischen noch in der hermeneutischen Sprachreflexion als Fachtermini auf.[5] Im Kontext der Liturgie dient text wiederum der Bezeichnung des Codex, der die Evangelien enthält, in seiner Bedeutung als Trägermedium und bleibt auf die Materialität der Heiligen Schrift bezogen.

[5]In der allgemeinen Hermeneutik erfährt der Textbegriff schließlich eine Neuausrichtung, weil die Überlieferungsform der antiken Werke, die in Schrift Niederschlag gefundene Rede, für ihren Verstehens- und Auslegungsprozess zur Grundvoraussetzung wird. Das hermeneutische Textkonzept, etwa Georg Friedrich Meiers, rückt in der Folge von einer allgemeinen Verwendung ab, hin zur rationalistischen Vorstellung, erst eine sinnhafte, die Ratio fordernde Rede gelte als Text.[6]

2.2 Die Vorläufer der strukturalistischen Texttheorie im 20. Jahrhundert

[6]Ausgehend von der wegweisenden linguistischen Theorie Ferdinand de Saussures identifiziert Karl Bühler in seiner Sprachtheorie (1934) vier für den »Textaufbau«[7] grundlegende Aspekte von Sprache: »Sprechhandlung«, »Sprachgebilde« nach lexikalischen und grammatischen Regeln, »Sprechakt« im Sinn einer auf den Gegenstand bezogenen Intention sowie »Sprachwerk«, das losgelöst von der Produktionshandlung für sich steht.[8] Bühlers axiomatische Unterscheidung von »Sprechhandlung« und »Sprachwerk«, die er im Rückgriff auf Wilhelm von Humboldt und de Saussure vollzieht, trägt dem Phänomen Rechnung, dass Texte losgelöst von Autor:in und Entstehungskontext, dem »Standort im individuellen Leben und Erleben seines Erzeugers«[9], Sinn entfalten.

[7]Der russische Formalismus wendet sich hingegen ausschließlich dem Text als Sprachkunstwerk zu und fragt nach den kunstästhetischen Bedingungen, den »Verfahren«[10] seiner Herstellung. Das Hauptaugenmerk liegt hier wie auch beim New Criticism und der ontologisch-phänomenologischen Ästhetik nicht mehr länger isoliert auf den Textebenen, die in der traditionellen hermeneutischen Betrachtung nach formaler Struktur und kognitivem Gehalt getrennt werden. An ihre Stelle tritt die wechselseitige Abhängigkeit zwischen beiden Aspekten, die Interdependenz zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur eines Textes, die sowohl für die heutige hermeneutische als auch für die Digitale Literaturwissenschaft weiterhin wesentlich ist. Folglich verdankt »das literarische Faktum«, so der russische Formalist Jurij Tynjanov, seine Struktur nicht etwa einem völlig autonom agierenden Autor:innensubjekt, sondern den Bedingungen einer poetischen, selbstreferenziellen Sprache, die wiederum im wechselseitigen Verhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit steht.[11]

2.3 Die moderne Textwissenschaft

[8]Mitte der 1960er Jahre etabliert sich die Textlinguistik als spezifischer Zweig der Sprachwissenschaft, der Text wird zum »primären sprachlichen Zeichen«.[12] In der Literaturwissenschaft weitet sich der Gegenstandsbereich auf nicht im strengen Sinn literarische Texte aus und der Textbegriff setzt sich allmählich gegenüber dem Terminus Werk durch.[13] Auf Anregung von u. a. Klaus Brinker und Siegfried J. Schmidt entsteht das Fach Textwissenschaft,[14] in dem sich fächerübergreifend unterschiedliche, teils konkurrierende Perspektiven auf das Phänomen Text herausbilden. Eine erste systematische und theoretisch fundierte Bestandsaufnahme der daraus abgeleiteten unterschiedlichen Textbegriffe unternimmt Maximilian Scherner,[15] ohne dass allerdings eine solch reflektierte differenzierte Begriffsverwendung in der sprach- und literaturwissenschaftlichen Praxis bisher der Realität entsprochen hätte.[16] Zu den prominenten Ansätzen zählen:

  • der strukturbezogene Textbegriff: Einen entscheidenden Anteil an der Herausbildung der Textwissenschaft hat die strukturalistische Theorie. Einer ihrer Hauptvertreter, Roman Jakobson, hebt im Rückgriff auf seine frühen Arbeiten mit der Einführung der »poetischen Funktion« der Sprache auf die Bestimmung der Poetizität von Texten ab. Durch »die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen« ermöglicht sie »die unmittelbare Erfahrbarkeit der Zeichen«[17] und damit überhaupt erst die bewusste Reflektion des Verhältnisses zwischen Signifikat und Signifikanten. Der strukturorientierte Textbegriff bezieht sich somit auf die überstrukturierte Ebene der »Textformung«, die auf derjenigen der »Textbildung« aufsitzt.[18]
  • der poststrukturalistische Textbegriff: Im Gegensatz zum strukturalistischen Axiom der linearen Zeichenverkettung geht der Poststrukturalismus von der Annahme aus, dass jedes wahrnehmbare sprachliche Zeichen immer schon in einem Verweisungszusammenhang zu anderen nicht präsenten Sprachelementen steht. Das Beziehungsgeflecht, das aus diesem »jeu systématique des différences«[19] hervorgeht, mündet schließlich in dem durch Julia Kristeva eingeführten Schlagwort der Intertextualität.[20] Gemeint ist die Vorstellung eines »texte générale«[21] als unendlicher universaler Zeichenkosmos, in dem jeder Text nur durch seine Differenzbeziehungen zu anderen Texten verortet und damit Resultat einer unendlichen Verweiskette ist. Bei Roland Barthes verlagert sich mit der Abschaffung der Autorinstanz und der Bestimmung einer transgressiven Grundstruktur des Textes als »la traversée«[22] der produktionsästhetische Fokus auf die Rezeptionsseite. Der »Tod des Autors« gestattet erst die »Geburt des Lesers«,[23] der durch Interpretation dem Text Bedeutung zuweist.
  • der sprachsystematische Textbegriff: Für den sprachsystematischen Ansatz steht als die erste deutschsprachige textlinguistische Arbeit Roland Harwegs Monografie Pronomina und Textkonstitution (1968). Darin definiert Harweg Text unabhängig von seiner medialen Verfasstheit als »ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten«.[24] Mit der Erweiterung dieses Textmodells um die Konzepte »Großraumtext«, »Textkosmos« und »Textgemeinschaft«[25], die die prinzipielle Anschlussfähigkeit und Koexistenz von Texten betonen sowie ihre pragmatische Dimension einbeziehen, legt Harweg anschließend den Grundstein für die theoretische Erfassung serieller und plurilinearer Textphänomene, wie z. B. Texte mit → Annotationen.
  • der kommunikationsorientierte Textbegriff: Im Zuge der pragmatischen Wende kommt es Anfang der 1970er Jahre auch in der Textlinguistik zu einer Fokussierung auf die sozialen Handlungszusammenhänge, in die der Text, und sprachliche Äußerungen generell, eingebettet sind.[26] So entfalten Texte nach Siegfried J. Schmidt ihre Bedeutung erst als »Texte-in-Funktion«.[27] Auch für Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser ist der Text prozesshaft an seine Rezeption durch die Leserin / den Leser im Leseakt gebunden, in dem sich sein Sinn wie bei einer »Partitur« erst konstituiert.[28]
  • der handlungsbezogene Textbegriff: Eine besondere Ausprägung erfährt der pragmatisch orientierte Ansatz durch die Übernahme zentraler Theoreme der Sprechakttheorie von John L. Austin und John Searle. Beispiele hierfür sind zum einen das funktional-pragmatische Textverständnis Konrad Ehlichs, der Text über die primäre unmittelbare Sprechsituation hinaus bestimmt als eine »Sprechhandlung, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert ist«[29]; zum anderen die auf die Literaturwissenschaft übertragene pragmatische Leitvorstellung Karlheinz Stierles, der »Text als Handlung« dialektisch dem »Text als Werk«[30] gegenüberstellt und somit als einer der wenigen Literaturwissenschaftler:innen am Werkbegriff festhält.[31]
  • der kognitiv orientierte Textbegriff: Im Zentrum des für den kognitiven Ansatz paradigmatischen Textmodells von Teun van Dijk und Walter Kintsch steht die Auffassung, dass sich das Verstehen von Text in einem komplexen kognitiven Prozess vollzieht, der auf drei Repräsentationsebenen stattfindet: Zu den beiden Ebenen der Oberflächen- und der semantischen Struktur kommt die Ebene der mentalen Repräsentation der im Text sprachlich dargestellten Sachverhalte hinzu. Bei der Konstruktion dieses »situation model«[32] ist neben den Informationen aus der Textbasis der Wissenshorizont des Lesers / der Leserin beteiligt. Eine ebenfalls kognitive Perspektive bestimmt das Textverarbeitungsmodell von Robert-Alain de Beaugrande und Wolfgang Dressler, das sieben Kriterien der Textualität benennt: Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität.[33] Die dem Modell zugrunde liegende trennscharfe Grenzziehung zwischen Text und Nicht-Text ist immer wieder Gegenstand von Kritik.[34]

2.4 Entgrenzung des Textbegriffs und Neuorientierung um 2000

[9]Die stete Zunahme des Bildlichen im Zuge der sogenannten Digitalen Revolution veranlasst die unlängst pragmatisch ausgerichtete Textlinguistik dazu, ihren Textbegriff einer Revision zu unterziehen. In dem von Ulla Fix et al. 2002 herausgegebenen Sammelband spricht sich die Mehrheit der Beitragenden denn auch für ein offenes, integratives Textkonzept aus.[35] Wie Heinz Vater sehen Ulla Fix und Kirsten Adamzik in der Prototypentheorie jedoch die zielführendste Methode, um Texte zu identifizieren.[36] Entsprechend weist Adamzik den von de Beaugrande und Dressler formulierten Textualitätskriterien eine primär funktionale Bedeutung zu als »Beschreibungsdimensionen für wesentliche Eigenschaften von (prototypischen) Texten«.[37] Statt einer terminologischen Erweiterung plädiert Adamzik für eine Ergänzung durch die zusätzlichen Begriffe Kommunikat und Diskurs. Ingo Warnkes Position geht weiter, wenn er sich für die generelle Ausweitung der Textlinguistik auf Diskurse einsetzt, die als »transtextuelle oder besser metatextuelle Größen«[38] gegenüber dem Text die größere sprachwissenschaftliche Einheit darstellen.

3. Erläuterung

3.1 Mehrdeutigkeiten

[10]Die Diskussion um eine Ausdehnung des Textbegriffs auf auch außersprachliche Zeichensysteme hält an. Im Zentrum steht vor allem das dynamische Beziehungsgeflecht aus im engen Sinn textlichen Elementen und Bildelementen, wie etwa Hybridformen bei der typografischen Gestaltung. Gleichzeitig rückt der Text mit der Auflösung seiner materiell-physischen Grenzen im digitalen Medium in die Nähe des → Hypertexts (vgl. dort Abs. 7), der sich durch eine große Dynamik und generelle Offenheit gegenüber unterschiedlichen Zeichensystemen auszeichnet.

[11]Zudem deutet die neuere editionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Text als Dokument und seiner Transkription auf eine nicht immer differenzierte Verwendungsweise beider Konzepte hin.[39] Wie auch für den häufig alltagssprachlich synonymen Gebrauch von Text in der Bedeutung als Medium einerseits und als sprachliche Äußerung andererseits gilt insbesondere für nativ digitale Dokumente, dass nicht immer zwischen dem Trägermedium und dem Text als sprachlicher Code unterschieden wird.

[12]Im Bereich der Diskurslinguistik kommt es innerhalb des Forschungsfeldes von Text und Diskurs zu Überschneidungen, nicht zuletzt auch dadurch, dass native digitale Texte als Forschungsobjekt und in Korpora zunehmend relevant werden. So konstatiert Janina Wildfeuer, dass in aktuellen diskurslinguistischen Arbeiten beide Gegenstände nicht mehr terminologisch eindeutig voneinander abgegrenzt werden.[40]

3.2 Differenzen der Begriffsverwendung

[13]Die unterschiedlichen einschlägig linguistischen sowie interdisziplinären Entwicklungslinien seiner Begriffsgeschichte stecken das Spannungsfeld ab, in dem sich auch der heutige Textbegriff zwischen den Dichotomien Schriftlichkeit versus Mündlichkeit, Linearität versus Multimodalität, Mono- versus Multimedialität, Minimalumfang versus Abgeschlossenheit, fertigem Sinnprodukt versus offenem Bedeutungsprozess bewegt.[41]

[14]Die anhaltende Zunahme von Bildern und die voranschreitende Digitalisierung veranlassen jedoch auch die Textwissenschaft, sich perspektivisch einer multimodalen Textauffassung zu öffnen,[42] die zugleich Bezüge zu den noch jungen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen Bildlinguistik und Hypertextlinguistik herstellt.[43] Zudem werden nichtsprachliche Wahrnehmungsfaktoren von Texten berücksichtigt, wie sie Ulla Fix mit den Kategorien Medialität, Materialität und Lokalität auch für das Erfassen textübergreifender Muster beschreibt.[44]

[15]Eine breite interdisziplinäre Perspektivierung erhält der Textbegriff ebenfalls auf dem noch relativ jungen Gebiet der digitalen Geisteswissenschaften, insbesondere in der digitalen Editorik, in der ein pluralistischer Textbegriff favorisiert wird, um so inhaltlich wie technisch passende Anschlussstellen für unterschiedliche Disziplinen bereitzustellen. Wegweisend für diesen editorischen Ansatz ist die Arbeit Patrick Sahles, der den zu edierenden Text nach seinen unterschiedlichen Bedeutungen in einem »Textrad« auffächert und diese Grundbegriffe innerhalb der Edition verortet.[45] Dabei ergeben sich teils Überschneidungen mit den Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR), dem bibliothekarischen Datenmodell für bibliografische Metadaten,[46] wie z. B. beim Textbegriff als spezifische sprachliche Äußerung mit der FRBR-Kategorie »Expression«.[47] Auf die Rekonstruktion der sprachlichen Äußerung zielt darüber hinaus auch der in einer Auszeichnungssprache codierte Quelltext einer digitalen Edition ab; er vermittelt den Bedeutungsgehalt eines Textes mit seinen materiellen und medialen Dokumenteigenschaften. Genau genommen bildet damit jedes in Programmiersprache verfasste Skript als Paratext, der einen Text um eine analytische Struktur ergänzt, eine textuelle Einheit.

4. Kontroversen und Diskussionen

[16]Trotz aktueller Versuche, mit einer Rehabilitation des seit dem Poststrukturalismus in Misskredit geratenen Werkbegriffs den Textbegriff in Bezug auf ein pragmatisches Literaturverständnis zu spezifizieren, wird eine Gleichsetzung beider Konzepte mehrheitlich abgelehnt.[48] Andrea Polaschegg sieht in dem aufgeladenen Ablöseprozess des Textbegriffs gerade seine interdisziplinäre Anschlussfähigkeit gewährleistet, weil »dieser wissenschaftsdiskursive ›master term‹ keinerlei terminologische Kontur«[49] besitze. Ähnlich betont Warnke in Bezug auf die Diskurslinguistik den entgrenzenden, »antikategoriell[en]« Charakter.[50]

[17]Indessen plädieren Fix und Adamzik angesichts einer verstärkt interdisziplinär ausgerichteten Sprachwissenschaft nach wie vor für eine an der Alltagssprache orientierte einheitliche Terminologie im Rahmen einer Querschnittsdisziplin. Allerdings gilt Adamziks Argument, dass sich die begriffliche Ausweitung des Textbegriffs auf Text-Bild-Hybride im allgemeinen Verständnis nicht durchgesetzt hat,[51] umgekehrt auch für den Begriff des Kommunikats, der sich bisher weder in der alltagssprachlichen noch in der textlinguistischen Praxis etabliert hat. Indessen operiert die digitale Editionswissenschaft als Teildisziplin verschiedenster Geisteswissenschaften weitgehend mit einem pluralistischen Textbegriff. Hierbei deutet sich in der Weiterentwicklung der technischen Erschließungswerkzeuge, z. B. auf den Gebieten VR / AR und → Bildannotation für multimediale Objekte, ein allgemein neues Verständnis von Text an.


Fußnoten


Bibliografische Angaben

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  • Jurij Tynjanov: Das literarische Faktum. In: Russischer Formalismus. Hg. von Jurij Striedter. München 1971 [1924], S. 393–431. [Nachweis im GVK]

  • Heinz Vater: Einführung in die Textlinguistik. Struktur, Thema und Referenz in Texten. München 1992. [Nachweis im GVK]

  • Ingo Warnke: Text adieu – Diskurs bienvenue? Über Sinn und Zweck einer poststrukturalistischen Entgrenzung des Textbegriffs. In: Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Hg. von Ulla Fix / Kirsten Adamzik / Gerd Antos / Michael Klemm. Frankfurt / Main 2002, S. 125–141. [Nachweis im GVK]

  • Ingo Warnke: Diskurslinguistik – Verdichtete Programmatik vor weitem Horizont. In: Handbuch Diskurs. Hg. von Ingo Warnke. Berlin u. a. 2018, S. IX–XXXIV. [Nachweis im GVK]

  • Janina Wildfeuer: Diskurslinguistik und Text. In: Handbuch Diskurs. Hg. von Ingo Warnke. Berlin u. a. 2018, S. 134–151. DOI: 10.1515/9783110296075-006