Theorie

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Rabea Kleymann Autor*inneninformationen

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Erstveröffentlichung: 25.05.2023

Version 2.0: 18.06.2024

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Letzte Überprüfung aller Verweise: 06.06.2024

GND-Verschlagwortung: Diskurs | Empirie | Forschungsmethode | Paradigma | Terminologie | 

Empfohlene Zitierweise: Rabea Kleymann: Theorie. In: AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. (Hg.): Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). Wolfenbüttel 2023. 25.05.2023. Version 2.0 vom 18.06.2024. HTML / XML / PDF. DOI: 10.17175/wp_2023_013_v2


Version 2.0 (18.06.2024)

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Synonyme und ähnliche Begriffe: Erklärung | Hypothese | Lehre | Modell | Reflexion | System
Pendants in kontrollierten Vokabularen: Wikidata: Q17737 | TaDiRAH: Theorizing

1. Begriffsdefinition

[1]Der wissenschaftliche Theoriebegriff bezeichnet ein »sprachliches Gebilde«[1], das in »methodisch demonstrierter und systematisch strukturierter«[2] Form Aussagen zur Betrachtung und Erklärung von Gegenständen, Ereignissen und Tatsachen bereithält und auf die Vermittlung von (neuen) Erkenntnissen zielt.[3] Die Theoriearbeit befasst sich u. a. mit Begriffsbildungen, Strukturen von wissenschaftlichen Erklärungen und → Interpretationen, Fragen zur → Methodologie, Prüfverfahren und Anwendungskontexten.[4] So reflektieren Theorien die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und sind notwendiger Bestandteil von Forschungssettings.[5] Einerseits kann zwischen allgemeinen und speziellen Wissenschaftstheorien sowie fach- und gegenstandsspezifischen Theorien unterschieden werden.[6] Andererseits können Theorien nach strukturellen Merkmalen typisiert werden, wie die Satz-, Begriffs- oder Diskursmodelle von Theorien in Vergangenheit und Gegenwart veranschaulichen.[7]

2. Begriffs- / Ideengeschichte

[2]Weder für die Wissenschaften im Allgemeinen noch für die Geisteswissenschaften im Besonderen liegt bislang ein einheitliches Verständnis des Theoriebegriffes vor.[8] Je nach Sprecher*inneninstanz, disziplinärem Kontext, Zeitpunkt und geografischem Raum spielen unterschiedliche Bedeutungen eine Rolle.[9] Begriffsgeschichtlich lässt sich der Theoriebegriff bis in die Antike zurückführen. Im 16. Jahrhundert wird das deutsche Wort ›Theorie‹ aus dem spätlateinischen ›theoria‹ entlehnt, das seinerseits auf das griechische Wort ›θεωρία‹ zurückgeht.[10] Die Theorie bezeichnet »die Tätigkeit und die Funktion des Beobachtens, Schauens, Sehens [...]«.[11] Damit gemeint ist auch ein »Zuschauen«,[12] z. B. beim Besuch sakraler und anderer Festveranstaltungen.[13] Theorie meint dann eine »Art der Wahrnehmung […], deren Besonderheit zur Sprache gebracht werden sollte«[14] oder eine spezifische »Wahrnehmungssituation«[15]. Alltagssprachlich kann unter Theorie auch eine »fiktive und willkürliche Konstruktion«[16] oder eine »bloße Vermutung«[17] verstanden werden.

[3]Ideengeschichtlich sind für den Theoriebegriff in der westlichen Philosophie die (Differenz-)Setzungen zu den Begriffen ›Erfahrung‹, ›Empirie‹ sowie ›Praxis‹ prägend.[18] Dabei liefert der Erfahrungsbegriff über die Sinneswahrnehmungen einen Zugang zur empirischen Welt, der u. a. in Beobachtungen festgehalten werden kann.[19] Die Begriffe Theorie und Praxis hingegen verhalten sich korrelativ, indem die Funktion der Theorie in der Anleitung der Praxis vorgestellt wird und sich in ihr expliziert.[20] Das semantische Gefüge von Theorie, Erfahrung und Praxis wird im Zuge der Genese der modernen (Natur-)Wissenschaften vielfach umgewertet und neu bestimmt.[21] Wissenschaftstheoretische Überlegungen für die Geistes- und Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum nehmen traditionellerweise auf den Historismus sowie die Hermeneutik Bezug.[22] Methodologisch spielt vor allem die Erklären-Verstehen-Kontroverse eine Rolle.[23]

[4]Mit dem Theoriebegriff sind auch Ansprüche auf Allgemeingültigkeit, Wahrheit und objektive Erkenntnis verbunden. Das als Theorie bezeichnete Wissen gilt als generalisiertes und von der Empirie transferierbares Wissen, da es ggf. das Ergebnis einer (höheren) Syntheseleistung, Abstraktion oder Formalisierung darstellt.[24] In den Geschichtswissenschaften bedeutet das beispielsweise, dass ein singuläres Phänomen als »Fall einer gewissen Klasse«[25] von Ereignissen betrachtet wird. Dieses »Verfahren zur Gewinnung allgemeiner Aussagen«[26] kann auch als induktives Schlussverfahren beschrieben werden.[27] Erklärungen zur Sichtbarmachung von Regeln, Prozessen und Strukturen, die für das Verständnis des singulären Phänomens wirksam erscheinen, kommen hierbei »unter Berücksichtigung theoretischer Annahmen zustande, die mit Allgemeinheiten operieren [...]«[28]. Dabei können die Herleitungen und Formen solcher Erklärungen variieren. Es kann sich z. B. um → Modelle, → Simulationen oder → Experimente handeln.[29] Die Allgemeingültigkeit eines in der Theorie vermittelten Wissens über empirische Phänomene wurde wissenschaftshistorisch auch als Merkmal zur disziplinären Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eingesetzt.[30] So nehmen die Unterscheidungen zwischen nomothetischer und idiografischer Forschung,[31] individuellen und generalisierbaren Methoden,[32] erlebtem Verstehen und Kausalerklärungen[33] u. a. in der Verallgemeinerungsfähigkeit von Theorien ihren Ausgang. Konstruktivistische und non-dualistische Ansätze, die aktuell in den Digital Humanities eine Rolle spielen, lehnen diesen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Wahrheit jedoch weitestgehend ab.[34] An die Stelle tritt vielmehr das Konzept einer »Beobachtung zweiter Ordnung«[35], die »ausschließlich im Modus der Selbstreferenzialität«[36] verfährt. Damit verschiebt sich auch das Verhältnis von Theorie zur Empirie, die nunmehr »als [...] Form der Beobachtung [...] [gefasst wird], deren Maßstab nicht mehr Wahrheit, sondern Intersubjektivität«[37] ist.

[5]Strukturell betrachtet werden geistes- und sozialwissenschaftliche Theorien als »ein interessengeleiteter Diskurs [verstanden], dessen semantisch-narrative Struktur von einem Aussagesubjekt [...] selbstkritisch reflektiert [...] wird«.[38] Das Diskursmodell unterscheidet sich z. B. von einer formallogischen Vorstellung einer Theorie als Satzsystem, wie sie u. a. im Kritischen Rationalismus prägend ist. In der diskursiven und narrativen Struktur geistes- und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung ist zugleich eine »Einsicht in die Unvermeidbarkeit der durchgängigen, sozialen, historischen, kulturellen Präformiertheit jeglicher Theoriegestalt«[39] angelegt. So können nicht nur Kontingenz, (Inter-)Subjektivität und Partialität als Merkmale geisteswissenschaftlicher Theoriebildung genannt werden. Vielmehr geht damit auch »die Notwendigkeit eines selbstkritischen Diskurses als Rahmenbedingung seriöser geisteswissenschaftlicher Theoriebildung«[40] einher. Dieser selbstkritische Diskurs findet in Form einer Reflexion über die Modalitäten, Relevanzkriterien und Setzungen des jeweiligen theoretischen Diskurses statt.[41]

3. Erläuterungen

[6]Die Theoriediskurse in den DH sind vielfältig. Hinsichtlich der Verwendungskontexte sind drei allgemeine Aspekte hervorzuheben: Erstens spielen in den DH u. a. Theorien digitaler Epistemologien, disziplinspezifische Theorien sowie wissenschaftstheoretische Überlegungen eine Rolle.[42] Zweitens gibt es sprachliche Unterschiede, wie u. a. am Theoriebegriff in Abschnitt 2 gezeigt werden kann. Drittens hat eine jüngst geführte Debatte um epistemische Hegemonien in den DH auch die Frage nach der Theoriebildung neu in den Fokus gerückt. In den DH, so die These, dominieren Erkenntnisweisen und Theorien, die vor allem auf epistemischen Prämissen und Heuristiken des globalen Nordens beruhen.[43] Dies betreffe u. a. Sprachregelungen und den Ausschluss oraler und nonverbaler Wissensformen.

3.1 Mehrdeutigkeiten

3.1.1 Theorie und Reflexion

[7]Der Theoriebegriff taucht im Kontext von Überlegungen auf, die sich mit Fragen nach dem kritischen und / oder reflexiven Potenzial der DH beschäftigen. Ausgangspunkt der Theoriearbeit ist häufig die digitale Transformation der Gesellschaft, die einer kritischen Reflexion bedarf: »Theorizing, not a theory, is needed; we need to cultivate reflection, interruption, standing aside and thinking about the digital«.[44] Alan Liu fragt daher, »[w]here is cultural criticism in the digital humanities?«[45] Damit verbunden sind allgemeine Überlegungen zur Rolle der DH als geisteswissenschaftliche Disziplin in Gesellschaft und Wissenschaft.[46] Gegenstände der theoretischen Reflexion sind u. a. Phänomene einer (post-)digitalen Gesellschaft, → Daten, Algorithmen, Software und andere soziotechnische Systeme. In diesem Zusammenhang wird häufig von »critical digital humanities«[47] oder einem »critical turn«[48] in den DH gesprochen. Hier zeigt sich eine besondere Nähe zu den Science and Technology Studies.[49]

3.1.2 Theorie und Interpretation

[8]Der Theoriebegriff in den DH ist eng mit geisteswissenschaftlichen → Interpretationspraktiken verbunden. Geisteswissenschaftliche Interpretationen beruhen in der Regel auf theorieabhängigen Kontextannahmen. Theorien beeinflussen nicht nur die Art, wie Phänomene interpretiert werden, sondern auch, welche bedeutungstragenden Einheiten überhaupt einer Interpretation bedürfen. Das bedeutet, dass Theorien innerhalb eines bestimmten Problem- oder Gegenstandsbereichs erstens festlegen, welche Fragestellungen möglich sind und / oder welche Argumentationsverfahren plausibel sind. Zweitens klären Theorien, wie wissenschaftliche Fragestellungen begründet, → Methoden eingesetzt und Ergebnisse bewertet werden können. Was theoretische Unternehmungen in den DH folglich leisten, sind diskursive Rahmenbedingungen für situierte Interpretationen als Formen einer (re-)kontextualisierten Bedeutungszuweisung.[50] Johanna Drucker erklärt: »Humanistic theory provides ways of thinking differently, otherwise, specific to the problems and precepts of interpretative knowing – partial, situated, enunciative, subjective and performative«.[51] Das heißt, dass die Semantik und Struktur geisteswissenschaftlicher Theoriebildung so angelegt sind, dass es sich um eine partikulare Repräsentation eines ambivalenten Phänomens handelt, die reflektiert und kritisiert wird.[52] Wissenschaftler*innen in den DH beziehen sich also auf Theorien, um sich über ihre kontingenten Deutungen, Wissensrepräsentationen und Erkenntnisbedingungen zu verständigen und diese ggf. intersubjektiv neu zu verhandeln.[53] Eine Besonderheit in den DH besteht darin, dass die kontingenten Deutungen durch die Struktur und die Signatur des Digitalen bereits präformiert sind.[54]

3.1.3 Theorie und Praxis

[9]Ein weiterer Verwendungskontext des Theoriebegriffes in den DH ist praxeologisch geprägt. Theorie bezieht sich auf Formen des impliziten Wissens, die schon Teil von Praktiken und Aktivitäten sind. Dabei gehört nicht nur die Auflösung der binären Setzung von Theorie und Praxis zur Selbstbeschreibung der DH.[55] Vielmehr treten auch Vorstellungen einer universalen DH-Theorie und metatheoretische Ansprüche in den Hintergrund. Es geht um lokale Formen der Theoriebildung auf mittlerer Ebene.[56] Der jüngst ausgerufene laboratory turn hat die Aufmerksamkeit auf die sich verändernden Arbeitsstrukturen in den DH gerichtet, die auch mit bestimmten Wissensproduktionen korrespondieren.[57] Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Relevanz des → Experiments als Teil einer DH-Laborkultur.[58]

[10]Im Gefüge von Theorie und Praxis spielt die (Daten-)Modellierung als Kerntätigkeit der DH eine besondere Rolle (→ Modell). An Ontologien, wie z. B. dem CIDOC Conceptual Reference Model, sowie Vokabularen, Datenstandards und Auszeichnungssprachen, wie z. B. XML oder RDF, werden theoretische Erwägungen explizit gemacht.[59] So erklären Arianna Ciula et al., dass das Modellieren eine Kombination aus Theorie und Praxis darstellt.[60] Francesca Tomasi versteht Modelle als Bindeglieder zwischen Theorie und Praxis in den DH: »Models play an important role in moving from theory (the abstract model) to practice, understood as the actions that can be performed (the formal language«).[61] Eine »Orientierung an Modellen«[62] stellt darüber hinaus eine wichtige Parallele zum Theorieverständnis der (Computational) Social Science sowie der Informatik dar.[63]

3.1.4 Theorie und Rezeption

[11]Der Theoriebegriff bezieht sich in den DH darüber hinaus auf eine Sammlung (kanonischer) Texte und ggf. Lektüren sowie dazugehörige Autor*innen.[64] Hier knüpft der Theoriebegriff an geisteswissenschaftlichen Traditionslinien an, die jüngst von Steffen Martus und Carlos Spoerhase beschrieben wurden. Theoretisieren bedeutet in diesem Zusammenhang das Referenzieren und Rezipieren von Ansätzen und Texten, die u. a. von der eigenen Forschungscommunity oder im Wissenschaftssystem als Theorien bereits etabliert sind.[65] Für die DH spielen einerseits theoretische Ansätze, wie z. B. die Hermeneutik oder der Poststrukturalismus, eine Rolle.[66] Andererseits werden bestimmte Autor*innen, wie z. B. Michel Foucault und Roland Barthes, mit Methoden und Konzepten assoziiert (z. B. Diskursanalyse, Autorschaftskonzept).[67] Theoretische Ansätze werden explizit auch aus anderen disziplinären Kontexten importiert und für DH-spezifische Anwendungskontexte fruchtbar gemacht (z. B. Grounded Theory, Game Theory oder computerlinguistische Theorien, vgl. Abschnitt 3.2.3).[68]

3.2 Differenzen der Begriffsverwendung

[12]Die in Abschnitt 3.1 genannten Verwendungskontexte des Theoriebegriffes in den DH setzen oftmals ein diskursives Verständnis sowie eine semantisch-narrative Struktur theoretischer Ansätze voraus. Julia Flanders und Fotis Jannidis betonen hingegen, dass die logischen, computationalen und mathematischen Systeme, welche die Grundlage für die verwendeten digitalen Strukturen bilden, auch theoretisch berücksichtigt werden müssen.[69] Ansätze aus z. B. der Mathematik, der Informatik und der Statistik weisen jedoch oftmals eine andere Theoriestruktur auf.[70] Gabriele Gramelsberger spricht in ihrer Studie zur Erkenntniskraft der Mathematik allgemein von ›operationalen Theorien‹. Der Übergang von einer Theorie als kontemplative Schau hin zur »operationalen (Re-)Organisation von Theorie« sei durch die »Transformation der Wissensobjekte in mathematisierte Prozessobjekte«[71] gekennzeichnet. Erst die Prozessobjekte konstituieren den Möglichkeitsraum einer operationalen Theorie: »Die epistemische Struktur dieses Möglichkeitsraums ist mathematisch-operativ, potentiell sowie prinzipiell prognostisch«.[72] In den DH, so könnte mit Gramelsberger argumentiert werden, begegnen sich also allgemein diskursive Theorien mit semantisch-narrativer Struktur und operationale Theorien. Hier rücken insbesondere Verfahren der → Operationalisierung in den Fokus. Strittig ist ferner die Frage, welche theoretischen Grundlagen z. B. im Rahmen eines datenwissenschaftlichen Kompetenzerwerbs vermittelt werden sollen. So führt beispielsweise Benjamin Schmidt aus: »[D]igital humanists do not need to understand algorithms at all. They do need, however, to understand the transformations that algorithms attempt to bring about«.[73]

3.2.1 Informatik

[13]Die Bestimmung eines dezidiert informatischen Theoriebegriffes für die DH steht vor der Herausforderung, dass auch die Informatik stark interdisziplinär ausgerichtet ist.[74] Damit einher geht auch eine nicht eindeutige disziplinäre Zuordnung der Informatik, z. B. als Technikwissenschaft oder Ingenieurwissenschaft.[75] Theoretische Überlegungen können nicht von den durch die Informatik vorangebrachten sozialen und politischen Transformationsprozessen isoliert betrachtet werden.[76] Nicola Angius et al. halten jedoch fest, dass eine ›Philosophie der Informatik‹ sich im Allgemeinen mit den ontologischen und methodologischen Fragen beschäftigt, die sich innerhalb der akademischen Disziplin der Informatik sowie in der Praxis der Softwareentwicklung und ihrer kommerziellen und industriellen Anwendung ergeben.[77] Untersuchungsgegenstände seien u. a. Computersysteme (Software und Hardware), Spezifikationen, Algorithmen, Programme, Implementierungen und Verifikationsverfahren.[78] Eine spezifische Theorie der Informatik umfasst, so Wolfgang Reisig, eine »formale Theorie der diskreten dynamischen Systeme [...] nach dem Vorbild der Naturwissenschaften«.[79] Weiter heißt es: »[E]ine Theorie der Informatik geht weit über die Manipulation von Zeichenketten hinaus; vielmehr geht es um die Interpretation von Zeichen in der realen Welt«.[80]

[14]Ein erster Zugang zur Theoriebildung kann über das Teilgebiet der theoretischen Informatik skizziert werden.[81] Die theoretische Informatik befasst sich mit numerischen Methoden, der Verwendung von Formeln oder anderen Beweis- und Argumentationstechniken, um Eigenschaften von formalen Systemen oder Modellen zu etablieren, die bestimmte Algorithmen, Datenstrukturen oder Programme rechtfertigen oder erklären. Die Automatentheorie, die Theorie formaler Sprache und berechenbarer Funktionen, die Komplexitätstheorie, die Kryptografie und die Quantenmechanik werden u. a. genannt.[82] Insbesondere die Theorie formaler Sprache bildet eine Brücke zur Theoriebildung in den DH (siehe 3.1.2). In der theoretischen Informatik liefert beispielsweise die boolesche Algebra eine theoretische Grundlage für den praktischen Bau digitaler Schaltungen.[83] Der Suchalgorithmus Quicksort hingegen basiert auf dem in der Komplexitätstheorie etablierten Konzept, ein Problem in kleinere Probleme zu unterteilen und diese dann einzeln zu lösen (Divide-and-Conquer).[84] Im Rahmen der Komplexitätstheorie beschäftigt sich die theoretische Informatik ferner mit theoretisch lösbaren, aber praktisch nicht umsetzbaren Problemen (z. B. durch die exponentielle Zunahme des Ressourcenbedarfs). Es handelt sich um sogenannte NP-vollständige Probleme (z. B. SAT, CLIQUE).[85]

[15]Einen zweiten Zugang zu erkenntnistheoretischen Fragen in der Informatik bietet das Konzept computational thinking. Darunter werden Denkweisen und Techniken zusammengefasst, die der konkreten Problemlösung dienen, wie z. B. Dekomponieren, Muster erkennen, Abstrahieren, Algorithmen definieren und → Simulieren.[86] Der Fokus auf Problemlösungen unterscheidet sich vom iterativen Erkenntnisprozess der Geisteswissenschaften. Johanna Drucker hält fest: »One role of humanistic scholarship is to keep ambiguity, complexity, and the capacity for contradiction present in the face of techniques that privilege efficiency and problem-solving. Humanists do not approach their research as problems to be solved, but as investigations of the cultural record«.[87]

[16]Drittens referiert der Theoriebegriff auch in der Informatik auf die Herstellung und Prüfung von → Modellen.[88] Mit Blick auf die für den Theoriebegriff entscheidende Differenzsetzung zu Erfahrungs- und Praxisbegriffen erklären Peter J. Denning und Matti Tedre für die Informatik: »For centuries, theory and experiment were the two modes of doing science. Supercomputers changed this, opening a new approach to doing science based on computational exploration and modeling«.[89] Sie fügen hinzu, dass insbesondere → Simulationen bei der Exploration eine Rolle spielen.

3.2.2 Statistik

[17]Statistische Methoden und Verfahren werden in den DH in unterschiedlichen Anwendungsbereichen eingesetzt.[90] Taylor Arnold und Lauren Tilton erläutern, dass die Statistik eine Reihe von Ansätzen für die Exploration, die Analyse und das kritische Nachdenken über Daten für die DH bietet.[91] Eine statistische Methode setzt Daten und Hypothesen in Form von Wahrscheinlichkeitsverteilungen in eine Beziehung. Statistische Theorien beschäftigen sich daher mit den Prinzipien und der korrekten Interpretation von statistischen Methoden, ihres Einsatzes und ihrer Ergebnisse.[92] In diesem Zusammenhang sind Bestätigungstheorien von Bedeutung, welche die Beziehung zwischen wissenschaftlicher Theorie (bzw. Hypothese) und empirischer Evidenz beschreiben und rechtfertigen.

[18]In den DH sind vor allem deskriptiv- und / oder inferenzstatistische Verfahren etabliert, die je nach Forschungssetting unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen.[93] Zwei Herangehensweisen an die theoretischen Grundlagen der Statistik lassen sich in den DH beobachten. Zum einen setzt sich die Forschungscommunity kritisch mit den Grundlagen und Praktiken der Statistik auseinander. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der historischen Verortung statistischer Verfahren.[94] Zum anderen werden statistische Grundlagen u. a. im Rahmen von Datenanalysen in Python und R konkret an Fallbeispielen vermittelt.[95] Ein prominentes Beispiel für die Auseinandersetzung mit einem statistischen Theorem aus Sicht der DH ist der Satz von Bayes.[96] Die Bayessche Statistik ist eine spezielle Form der statistischen Signifikanzberechnung. Sie berücksichtigt das Vorwissen über die Gültigkeit der zu prüfenden Hypothese und erlaubt damit die Integration von subjektiven Elementen in den Prozess der Aktualisierung von Wahrscheinlichkeiten. In den DH spielt die Bayessche Statistik u. a. auch bei überwachten maschinellen Lernverfahren eine Rolle. Am Beispiel der Hypothesenprüfung mit dem Satz von Bayes werden darüber hinaus grundsätzliche Fragen zum theoretischen Erkenntnisinteresse und zur Evidenzgenerierung in den DH aufgeworfen.[97]

3.2.3 Computerlinguistik

[19]Die Computerlinguistik beschäftigt sich mit der Verarbeitung natürlicher Sprache durch den Computer.[98] Historisch betrachtet ist die Verbindung von Logik, Statistik und (Computer-)Linguistik für die Entstehung der DH zentral. Carstensen et al. unterscheiden zwischen Computerlinguistik als »Teildisziplin der Linguistik«, als »linguistische Datenverarbeitung«, als »maschinelle Sprachverarbeitung« und als »Sprachtechnologie«.[99] Die theoretische Computerlinguistik beschäftigt sich, so Carstensen et al., mit grundlegenden Fragestellungen wie Modellierung, Berechenbarkeit, Adäquatheit und Erlernbarkeit der Strukturen, die einer maschinellen Verarbeitung natürlicher Sprache zugrunde liegen. Um die spezifischen Merkmale natürlicher Sprachen angemessen darzustellen, werden mathematische, informatische und formallogische Theorien erweitert oder geändert. Dazu gehören u. a. die Grundlagen der Mengenlehre, Prädikatenlogik, Automatentheorie, Graphentheorie und Wahrscheinlichkeitstheorien.[100] Diese theoretischen Grundlagen der Computerlinguistik bilden wesentliche Voraussetzungen für den Einsatz computergestützter → Methoden und Programmbibliotheken (z. B. Natural Language Toolkit) in Forschung und Lehre der DH. Am Beispiel zweier syntaktischer Theorien – der Konstituentengrammatik und der Dependenzgrammatik – hat Melanie Andresen jüngst die Implementierung der Computerlinguistik und die Anwendungsfelder in den DH u. a. für Kollokationsanalysen aufgezeigt.[101]

4. Kontroversen und Diskussionen

[20]Fragen nach der Theoriebildung und -arbeit haben in den DH zu Diskussionen geführt. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Ambiguität des Begriffes oder der interdisziplinären und internationalen Ausrichtung der DH. Vielmehr haften am Theoriebegriff auch bestimmte wissenschaftliche Wertvorstellungen, die eine forschungspolitische Relevanz aufweisen können. Drei für die DH relevante (Theorie-)Diskussionen werden exemplarisch skizziert:

4.1 »End of Theory«-Diskussion

[21]Die Diskussion um ein »Ende der Theorie« steht in Verbindung mit einem im Jahr 2008 erschienenen gleichnamigen Artikel von Chris Anderson.[102] Anderson vertritt darin die These, dass Big Data imstande sei, das Paradigma einer theoriegeleiteten Forschung abzulösen: »With enough data, the numbers speak for themselves«.[103] Obwohl Anderson nicht spezifisch auf die Geisteswissenschaften eingeht, stößt er eine Diskussion über das Verhältnis von datengetriebener Forschung und Theoriebildung an. Im Rekurs auf die in den Geisteswissenschaften bereits Ende der 1990er Jahre stattgefundene Diskussion über Posttheorie wird die Theoriebildung zeitlich konnotiert.[104] Die DH wurden nicht nur in einem prä- und / oder posttheoretischen Stadium verortet.[105] Vielmehr wurden diese Diagnosen auch von der Forderung nach mehr Theorie und Reflexion begleitet, die sich bis heute fortsetzen.[106]

4.2 »More Hack, Less Yack«-Diskussion

[22]Die häufig falsch verstandene Phrase »more hack, less yack«[107] rückte die Diskussion um Materialitäten, Arbeitsabläufe und soziale Strukturen einer DH-spezifischen Theoriebildung in den 2010er Jahren in den Fokus.[108] Im Unterschied zum Diskursmodell sowie einer bestimmten Textualität der Theorie in den Geisteswissenschaften wurden nun andere materielle Ausdrucksformen in den Blick genommen. Damit gingen zum einen Überlegungen zur Bedeutung und Bewertung von Code und Software sowie eine Diskussion um zu vermittelnde Kernkompetenzen einher. Gemäß dem Motto »thinking-through-practice«[109] wurden zum anderen Forschungsgegenstände und Programme als materialisierte und verkörperte Theoriegebilde beschrieben. Vor diesem Hintergrund wurden u. a. die Äußerungen »every prototype is a theory«[110], »every edition is a theory«[111] und »the database is the theory«[112] formuliert.

4.3 »Again Theory«-Diskussion

[23]Vor dem Hintergrund der Konjunktur großer generativer Sprachmodelle (Large Language Models) in den DH wurde jüngst die Rolle von (Literatur-)Theorien in den Blick genommen. Im Forum des Critical Inquiry mit dem Titel »Again Theory: A Forum on Language, Meaning, and Intent in the Time of Stochastic Parrots«[113] diskutierten Wissenschaftler*innen aus den DH über das literaturtheoretische Problem des Verhältnisses von Intention und Bedeutung am Gegenstand eines KI-generierten Textes. Im Zuge der Diskussion wurde u. a. die Frage nach dem Zusammenspiel von Literaturtheorien und Künstlicher Intelligenz aufgeworfen.[114] Drei Positionen können, wie Gengnagel et al. erläutern, unterschieden werden: »(a) die intentionalistische Position, wonach Bedeutung in einer Sprecher*innenabsicht gegründet sein müsste, so dass KI-generierte Texte keine Bedeutung haben könnten, [...] (b) die Position, dass die Sprachmodelle anti-intentionalistische und poststrukturalistische Sprachtheorien bestätigen, [...] und (c) die Position, dass man es mit interpretationsbedüftigen Texten zu tun habe und deshalb von Schattierungen der Bedeutung zu sprechen sei«.[115]


Fußnoten


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