Interpretation

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Janina Jacke Autor*inneninformationen

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Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 183976709X

Erstveröffentlichung: 25.05.2023

Version 2.0: 04.07.2024

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Letzte Überprüfung aller Verweise: 26.06.2024

GND-Verschlagwortung: Bedeutung | Erklärung | Hermeneutik | Interpretation | Verstehen | Terminologie | 

Empfohlene Zitierweise: Janina Jacke: Interpretation. In: AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. (Hg.): Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). Wolfenbüttel 2023. 25.05.2023. Version 2.0 vom 04.07.2024. HTML / XML / PDF. DOI: 10.17175/wp_2023_006_v2


Version 2.0 (04.07.2024)

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Synonyme und ähnliche Begriffe: Analyse | Auslegung | Deutung | Exegese
Pendants in kontrollierten Vokabularen: Wikidata: Q280221 | TaDiRAH: Interpreting

1. Begriffsdefinition

[1]Interpretation ist die Zuschreibung (nicht-offensichtlicher Facetten) von Bedeutung an Entitäten (z. B. ästhetische Objekte, Handlungen, Naturerscheinungen etc.). Interpretation basiert meist auf Beschreibung bzw. Analyse der zu untersuchenden Entitäten (die beispielsweise in Form von → Daten vorliegen kann). Sie dient typischerweise der Erklärung deskriptiv feststellbarer Eigenschaften (beispielsweise der Identifikation kausaler Gründe oder funktionaler / praktischer Folgen dieser Eigenschaften) zum Zweck eines tieferen Verständnisses des fraglichen Gegenstands. Dafür werden im Rahmen von Interpretation in der Regel theorieabhängige Kontextannahmen herangezogen (z. B. über singuläre Sachverhalte oder regelhafte Zusammenhänge) und / oder nicht-wahrheitserhaltende Schlussformen wie Abduktion angewendet. Beides führt dazu, dass die Gültigkeit von Interpretationen zuvorderst relational zu den in Anschlag gebrachten Rahmenannahmen und Zielen festgestellt werden kann.

2. Begriffs- / Ideengeschichte

[2]Die Verwendung des Wortes ›Interpretation‹ (von lateinisch ›interpretatio‹ = Auslegung, Erklärung, Deutung, Übersetzung; Entsprechung des griechischen ›ερμηνεία‹ [hermeneía]) ist seit dem 16. Jahrhundert belegt.[1] Für das lateinische Verb ›interpretārī‹ lassen sich drei Bedeutungen unterscheiden:[2] (1) verstehen, (2) erklären und (3) übersetzen. In den ersten beiden Bedeutungen ist ›Interpretation‹ bzw. ›Interpretieren‹ auch Teil der deutschen Alltagssprache. Als (Fach-)Begriff für die philologische und juristische Auslegung von → Texten wird ›interpretatio‹ seit der Antike genutzt.[3]

[3]Als engerer Terminus für die methodengeleitete Deutung literarischer Texte findet ›Interpretation‹ im 19. Jahrhundert mit dem Entstehen der Literaturwissenschaft Verwendung.[4] Interpretation gilt gemeinhin als eines der zentralen Anliegen literaturwissenschaftlichen Arbeitens, steht als Ziel des Umgangs mit literarischen Texten jedoch insbesondere seit den 1960er Jahren auch immer wieder in der Kritik.[5]

[4]Zum Quasi-Terminus mit leicht anderer Ausrichtung entwickelt sich ›Interpretation‹ im Zuge der Entstehung der Statistik bzw. der Data Science als Forschungsfeld im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts. Bei dem zu interpretierenden Gegenstand handelt es sich hier nicht um Texte, sondern um (meist quantitative) empirische Daten, aus denen Schlüsse über die Welt gezogen werden sollen.[6]

[5]In den Digital Humanities ist ›Interpretation‹ zwar ein zentraler,[7] aber noch nicht standardisiert verwendeter Begriff. Probleme werden hier insbesondere durch die unterschiedlichen – wenn auch ähnlichen – Verwendungsweisen von ›Interpretation‹ in den verschiedenen Bezugsdisziplinen verursacht sowie durch die Tatsache, dass entgegen geisteswissenschaftlicher Tradition Daten über Texte und Kunstwerke zu interpretieren sind.

3. Erläuterung

3.1 Mehrdeutigkeiten

[6]Mehrdeutigkeiten hinsichtlich des Ausdrucks ›Interpretation‹ lassen sich in mindestens dreierlei Hinsicht feststellen. Gegenüber stehen sich hier

  1. die alltagssprachliche und die fachwissenschaftliche Verwendung von ›Interpretation‹,
  2. die Verwendung von ›Interpretation‹ in Bezug auf ästhetische Objekte und die Verwendung in Bezug auf empirische Daten sowie
  3. die Verwendung von ›Interpretation‹ für den Prozess und für das Ergebnis von Bedeutungszuschreibung.

[7]Zu 1.: In der deutschen Alltagssprache stehen sich laut Duden vor allem die Bedeutungen ›verstehen‹ / ›auffassen‹ und ›deuten‹ / ›auslegen‹ für das Verb ›interpretieren‹ gegenüber.[8] Dabei scheint die erste Variante (verstehen / auffassen) im Vergleich zur zweiten dadurch gekennzeichnet zu sein, dass es sich um einen mehr oder weniger automatisierten, wenn auch fehleranfälligen Prozess handelt, dessen Ergebnis sich evaluieren lässt. Die zweite Variante (deuten / auslegen) scheint dagegen eher eine absichtsvolle Tätigkeit zu sein, deren Ergebnis zunächst subjektiv ist und in der Regel nicht in unkomplizierter Weise evaluiert werden kann.

[8]Wenn ›interpretieren‹ bzw. ›Interpretation‹ als Fachterminus verwendet wird, so ist die fachbereichspezifische Bedeutung in der Regel aus der Alltagsbedeutung abgeleitet, wobei jeweils unterschiedliche Facetten übernommen, betont und fachwissenschaftlich spezifisch erweitert werden (siehe hierzu auch 3.2). Wünschenswert für fachsprachliche Termini ist eine Definition, die die Verwendung des fraglichen Ausdrucks möglichst klar und explizit (etwa mittels notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen) festlegt[9] – im Falle aus der Alltagssprache entlehnter Ausdrücke in Form einer Explikation.[10]

[9]Zu 2.: In zahlreichen Fachwissenschaften haben sich verschiedene spezifische Verwendungsweisen von ›Interpretation‹ herausgebildet. Besondere Ähnlichkeiten lassen sich dabei auf der einen Seite für Disziplinen feststellen, die sich mit ästhetischen Objekten wie literarischen Texten auseinandersetzen, und auf der anderen Seite für Disziplinen, die mit empirischen Daten über natürliche oder soziale Phänomene arbeiten (siehe hierzu auch 4.1).

[10]Die Hermeneutik setzt sich als zentrale → Theorie mit den Spezifika menschlichen Verstehens auseinander – besonders im Fokus stehen Verstehen und Interpretation von Texten bzw. Kunstwerken. Als charakteristisch für die Auslegung von Texten wird eine zirkelhafte bzw. spiralförmige ›Bewegung‹ erachtet, bei der das Verstehen von Textteilen und Textganzem sowie von Text und Kontext sich gegenseitig beeinflusst.[11] Gerade im Rahmen der klassisch-hermeneutischen Methode[12] der Textauslegung bleibt hinsichtlich der konkreten Verfahren des Textverstehens einiges im Unklaren bzw. wird explizit als nicht regelhaft rekonstruierbar dargestellt – beispielsweise wenn Friedrich Schleiermacher die Notwendigkeit von Divination (d. h. des Einfühlens der Interpret*innen in die Denkweise der Autor*innen) betont.[13] Da es sich bei Texten und Kunstwerken um intentional (und meist mit kommunikativer Absicht) geschaffene Objekte handelt, wird im Rahmen einiger hermeneutischer Theorien die Identifikation der kommunikativen Absichten von Autor*innen bzw. Künstler*innen als Ziel von Interpretation betrachtet.[14] Dabei geht es meist insbesondere um die Identifikation eines übertragenen bzw. symbolischen Sinns der Texte. Bei Beiträgen aus dem Feld der Literatur- und Kulturwissenschaft ist eine Diversifikation der Ziele, Methoden und Qualitätskriterien für Interpretationen feststellbar.[15] Beispiele sind der New Historicism, demzufolge die Bedeutung literarischer Texte in Bezug auf ihren kulturhistorischen Kontext u. a. mittels transdisziplinärer dichter Beschreibung erschlossen wird, oder die psychoanalytische Literaturwissenschaft, die Literatur etwa unter Bezugnahme auf Sigmund Freuds Seelenmodell im Hinblick auf die Manifestation unbewusster psychischer Prozesse (z. B. von Autor*innen oder literarischen Figuren) interpretiert.[16]

[11]In den Natur- und Sozialwissenschaften geht es typischerweise nicht um das Verstehen von Texten bzw. Kunstwerken, wodurch weder die Identifikation kommunikativer Absichten noch die Herausstellung übertragener bzw. symbolischer Bedeutung im Fokus steht. In den traditionellen Naturwissenschaften wird (möglicherweise deswegen) der Ausdruck ›Interpretation‹ für das Verstehen der Bedeutung (im Sinne von Gründen für bzw. Folgen) von beobachteten Phänomenen durch ›Erklärung‹ ersetzt.[17] Etabliert hat sich hier das deduktiv-nomologische Modell (auch: Hempel-Oppenheim-Schema): Eine (natur-)wissenschaftliche Erklärung besteht aus einem explanandum (d. h. einem Satz, der ein zu erklärendes Phänomen beschreibt) und einem explanans (d. h. den Sätzen, die das Phänomen erklären).[18] Eine gute Erklärung ist ein beweiskräftiges Argument, bei dem die Konklusion notwendig aus den wahren Prämissen folgt.[19] Eine Rückkehr des Ausdrucks ›Interpretation‹ lässt sich mit dem Aufkommen der Statistik bzw. Data Science feststellen, in deren Rahmen Beschreibungen von Phänomenen in Form von Daten vorliegen, die (u. a. mit computationellen → Methoden) analysiert und interpretiert werden müssen.[20] Es geht darum, Zusammenhänge zu verstehen, Gründe und mögliche Konsequenzen zu identifizieren. Teilweise wird ›Interpretation‹ hier allerdings auch für weniger kontextabhängige Operationen verwendet, beispielsweise für die Präsentation und (deskriptive) Analyse der Daten zwecks Erkennung von Mustern und anderen Auffälligkeiten.

[12]Zu 3.: Für alle (fachwissenschaftlichen) Verwendungsweisen von ›Interpretation‹ lässt sich feststellen, dass dieser Ausdruck sowohl den Prozess als auch das Produkt von Bedeutungszuschreibung bezeichnen kann. Im Zusammenhang mit dem Prozess sind Fragen der Methoden und Praktiken vordergründig (worunter auch die Entdeckung von Interpretationshypothesen fällt), im Zusammenhang mit dem Produkt stehen dagegen Fragen nach den Qualitätskriterien bzw. nach der Rechtfertigung von Interpretationshypothesen im Zentrum theoretischer Auseinandersetzung.[21]

3.2 Differenzen der Begriffsverwendung

[13]

  • In der Linguistik basiert die Interpretation eines Satzes auf der lexikalischen Bedeutung der enthaltenen Wörter und der syntaktischen Struktur. Finden sich in einem Satz lexikalische oder syntaktische Mehrdeutigkeiten, indexikalische Ausdrücke oder nicht-wörtliche Sprachverwendung, wird Kontextwissen notwendig, um den Satz adäquat verstehen zu können.[22] Hier geht es in der Regel darum, die von dem oder der Sprecher*in intendierte Bedeutung möglichst eindeutig zu identifizieren.
  • In der Literaturwissenschaft wird unter ›Interpretation‹ die Deutung eines literarischen Textes verstanden, insbesondere im Hinblick auf die (übertragene) Bedeutung des Gesamttextes.[23] Für die Bestimmung und Identifikation dieser Gesamtbedeutung gibt es text-, autor*in-, leser*in- und kontextzentrierte Literatur- bzw. Interpretationstheorien. Teilweise wird auch die Beantwortung weniger umfassender Fragen über literarische Texte als Interpretation bezeichnet. Weit verbreitet ist die Annahme, dass mehrere (auch einander widersprechende) Interpretationen desselben Textes gleichermaßen gültig sein können.
  • In der Kunstgeschichte geht es bei Interpretation um die Bestimmung der Bedeutung von Kunstwerken, die allerdings nicht (rein) sprachlicher Natur sind, beispielsweise von Gemälden. Während sich Theorie und Methode der Interpretation aufgrund der anderen Medialität unterscheiden, sind die Ziele ähnlich divers wie in der Literaturwissenschaft.[24]
  • In Musik- und Theaterwissenschaft wird unter ›Interpretation‹ die Ausführung eines Musik- oder Theaterstücks verstanden. Analog zur Verwendung des Interpretationsbegriffs in anderen Geisteswissenschaften wird ›Interpretation‹ daneben aber auch für auslegende und erläuternde Kommentare zu Musikstücken verwendet, die Hypothesen über Wirkung und Aussage des Stücks enthalten.[25]
  • In der Theologie geht es bei der Interpretation (Exegese) biblischer bzw. religiöser Texte vor allem darum, schwer verständliche Bibelstellen aufzuschlüsseln. Historische Wichtigkeit kommt der Lehre vom vierfachen Schriftsinn zu: So lassen sich bei der Bibel-Interpretation die Entschlüsselung des Literalsinns (wörtlich), des allegorischen (übertragen), des tropologischen (moralisch) und des anagogischen (endbezogen) Sinns unterscheiden. Im 20. Jahrhundert diversifizieren sich Ziele und Methoden der Exegese.[26]
  • Im Rahmen der Rechtswissenschaft hat die Interpretation von Gesetzestexten das Ziel, abstrakte Rechtsnormen zu konkretisieren, d. h. sie für juristische Entscheidungen in konkreten Fällen anwendbar zu machen. Da in Gesetzestexten zum Ausdruck kommende juristische Auffassungen nicht immer eindeutig und vollständig sind, können verschiedene Auslegungen vertretbar sein. Rechtswissenschaftliche Interpretation hat eine unmittelbare praktische Relevanz, weshalb eindeutige Entscheidungen notwendig sind. Heute werden vier Auslegungsweisen unterschieden: die grammatische (Wortlaut), die systematische (Zusammenhang), die historische (Entstehung) und die teleologische (Zweck) Auslegung.[27]
  • In der Geschichtswissenschaft findet Interpretation statt, wenn auf der Basis einer typischerweise uneindeutigen Quellenlage mittels Schlussfolgerung oder Spekulation Hypothesen darüber aufgestellt werden, wie und warum signifikante Ereignisse stattgefunden haben.[28] Es geht darum, etwas über die Welt außerhalb der Texte zu erfahren – da der eigentliche Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen (die Vergangenheit) allerdings nicht mehr existiert, ist eine direkte Überprüfung von Hypothesen in der Regel nicht möglich.[29] Neben der Interpretation von Quellen lässt sich in der Geschichtswissenschaft auch dann von Interpretation sprechen, wenn als gegeben angenommenen historischen Phänomenen Bedeutung zugeschrieben wird – beispielsweise indem sie (etwa kausal) mit anderen Phänomenen oder übergeordneten Prinzipien in Verbindung gebracht werden.
  • In den Naturwissenschaften taucht Interpretation vor allem bei der Auswertung von Beobachtungs- und Messdaten auf. Dabei geht es um die Erklärung dieser Daten bzw. der durch Daten repräsentierten Phänomene, also um die Herausstellung von Kausalbeziehungen. Naturwissenschaftliche Erklärungen sind in der Regel wie ein Argument aufgebaut, bei dem die zu erklärende Proposition (explanandum) aus den Prämissen (explanans) deduktiv folgt (deduktiv-nomologisches Modell) oder von Letzteren induktiv gestützt wird (Modell der statistischen Relevanz).[30]
  • In der Statistik geht es bei der Interpretation von Daten vor allem darum, diese auszuwerten, also z. B. Muster zu erkennen, Daten sinnvoll zusammenzufassen, darzustellen und gegebenenfalls eine Erklärung für das Zustandekommen dieser Daten zu finden. In der Data Science verhält es sich ähnlich – mit dem Unterschied, dass tendenziell größere Datenmengen erhoben und untersucht werden und die Auswertung vor allem mit computergestützten Methoden vollzogen wird. Auffällig ist hier, dass auch Mustererkennung und Zusammenfassung oft bereits als ›Interpretation‹ bezeichnet werden, nicht nur Kontextualisierung und Erklärung der Daten.[31]

4. Kontroversen und Diskussionen

4.1 Erklären-Verstehen-Kontroverse

[14]Die Erklären-Verstehen-Kontroverse geht auf den Historiker Johann Gustav Droysen und den Philosophen Wilhelm Dilthey zurück, die Natur- und Geisteswissenschaften eine grundsätzlich verschiedene Methodologie zuschreiben. Aufgrund der unterschiedlichen Natur der Untersuchungsgegenstände (objektive Gesetzmäßigkeiten versus Sinnzusammenhänge menschlichen Verhaltens) könnten die Methoden und Erfolgskriterien in beiden Forschungsfeldern nicht dieselben sein. So könne menschliches Handeln nur durch einen kreativen Prozess des Nacherlebens verstanden, aber nicht objektiv-wissenschaftlich durch Gesetzmäßigkeiten erklärt werden.[32]

[15]Die absolute Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften wurde immer wieder in Frage gestellt, u. a. durch die Anhänger des Logischen Empirismus. Versuche, eine Einheitswissenschaft bzw. gemeinsame Arbeits- und Erkenntnisweisen zu etablieren, scheiterten aber immer wieder an der Unvereinbarkeit fachspezifischer wissenschaftstheoretischer Annahmen. Bis heute ist die Diskussion eines typisch geisteswissenschaftlichen Verstehens Gegenstand wissenschaftstheoretischer Debatten.[33]

[16]Für den Interpretationsbegriff würde eine absolute Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften bedeuten, dass es sich bei ›Interpretation‹ um einen auf schädliche Weise mehrdeutigen Begriff handelt, der Gemeinsamkeiten dort suggeriert, wo unüberwindbare Unterschiede bestehen. Die Existenz des Forschungsfeldes der Digital Humanities basiert allerdings auf der Annahme, dass auch Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung fruchtbar mit Methoden untersucht werden können, die eher den Forschungsparadigmen der Naturwissenschaften entsprechen. Dabei müssen aber fachspezifische Forschungsparadigmen und Begriffsverwendungen beachtet und reflektiert werden.

4.2 Zusammenhang zwischen deskriptiver Analyse und Interpretation

[17]Ungeklärte Fragen betreffen den Zusammenhang zwischen deskriptiver Analyse und Interpretation: Lässt sich hier eine klare Grenze ziehen? Wie hängen beide Operationen zusammen? Sind statistisch-deskriptive computationelle Methoden geeignet, um geisteswissenschaftliche Interpretation zu befördern – und, wenn ja, in welcher Hinsicht?

[18]Obwohl in unterschiedlichen Fachwissenschaften deskriptive Analyse und Interpretation unterschieden werden, scheint es schwierig zu sein, klare Kriterien für die Abgrenzung anzugeben. Tentativ formuliert, erfolgt bei Beschreibung und Analyse eine recht direkte Übersetzung von sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften in Propositionen über das zu untersuchende Phänomen. Dennoch finden auch dabei bereits interpretative Vorgänge im alltagssprachlichen Sinn statt. Darüber hinaus muss eine Auswahl aus den beschreibbaren Phänomenen getroffen werden. Dieser Schritt wird dann zum methodischen Problem, wenn eine große Fülle an Daten vorliegt. Bei der Interpretation von Texten erfolgt eine beschreibende Analyse dagegen von vornherein oft stark selektiv und ist bereits auf bestimmte Interpretationshypothesen zugespitzt.[34]

[19]Grundsätzlich geht einer Interpretation von Daten, Texten oder Kunstwerken eine deskriptive Analyse voraus. Letztere dient der Identifikation und Explizitmachung der Phänomene, die im Rahmen der Interpretation gedeutet werden sollen. Gegenstand literaturwissenschaftlicher Debatten ist die Frage, in welcher Weise deskriptive Analysen für die Interpretation fruchtbar gemacht werden können.[35] Abhängig von der Antwort hierauf scheint auch die Antwort auf die Frage zu sein, inwieweit Methoden der Digital Humanities geisteswissenschaftliche Interpretation befördern können: Sie können es in dem Maße, in dem deskriptive Analyse der Interpretation von Texten und Kunstwerken zuträglich ist. Denkbar wären dabei etwa die Möglichkeiten, dass deskriptive Analyse der Rechtfertigung von Interpretationen dienen kann (etwa der Stützung oder Schwächung, ggf. auch der Widerlegung von Interpretationshypothesen) oder dass sie die Entdeckung bzw. Genese von Interpretationshypothesen fördert.

4.3 Qualitätskriterien und Interpretationspluralismus

[20]Interpretation in wissenschaftlichen Kontexten zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass ihre Evaluation nicht unproblematisch ist: Sofern in einer Fachwissenschaft überhaupt Kriterien für die Evaluation von Interpretationen angegeben bzw. diskutiert werden, ist die Beurteilung, ob ein Kriterium zutrifft oder nicht, oft schwierig. Zudem müssen meist unterschiedliche Kriterien gegeneinander abgewogen werden, wofür es keine festen Vorgaben gibt. Dies führt dazu, dass häufig mehrere Interpretationen nebeneinander bestehen, ohne dass entscheidbar ist, welche die beste ist. Oft wird – insbesondere etwa in der Literaturwissenschaft – solch ein Interpretationspluralismus als unausweichlich akzeptiert, meist sogar als positiv bewertet. Allerdings ist in vielen Fällen unklar, ob der Grund für verschiedene Interpretationen tatsächlich in unterschiedlichen Auffassungen zu Qualitätskriterien für Interpretationen liegt oder etwa in der Mehrdeutigkeit ästhetischer Objekte. Methodisch hilfreich wäre deswegen auch hier die Auseinandersetzung mit Qualitätskriterien für Interpretationen[36] – auch wenn sich diese jeweils nur relational zu einem interpretationstheoretischen Ansatz bestimmen lassen sollten.


Fußnoten


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