3.1 Mehrdeutigkeiten
[7]Mehrdeutigkeiten hinsichtlich des Ausdrucks ›Interpretation‹ lassen sich
in mindestens dreierlei Hinsicht feststellen. Gegenüber stehen sich
hier
- die alltagssprachliche und die fachwissenschaftliche Verwendung von
›Interpretation‹,
- die Verwendung von ›Interpretation‹ in Bezug auf ästhetische Objekte und die Verwendung in Bezug auf empirische Daten und
- die Verwendung von ›Interpretation‹ für den Prozess und für das Ergebnis von
Bedeutungszuschreibung.
[8]Zu 1.: In der deutschen Alltagssprache stehen sich laut
Duden
vor allem die Bedeutungen ›verstehen‹ /
›auffassen‹ und ›deuten‹ / ›auslegen‹ für
das Verb ›interpretieren‹ gegenüber.[8] Dabei scheint die erste
Variante (verstehen / auffassen) im Vergleich zur zweiten dadurch
gekennzeichnet zu sein, dass es sich um einen mehr oder weniger
automatisierten, wenn auch fehleranfälligen Prozess handelt, dessen
Ergebnis sich evaluieren lässt. Die zweite Variante (deuten / auslegen)
scheint dagegen eher eine absichtsvolle Tätigkeit zu sein, deren
Ergebnis zunächst subjektiv ist und in der Regel nicht in
unkomplizierter Weise evaluiert werden kann.
[9]Wenn ›interpretieren‹ bzw. ›Interpretation‹ als Fachterminus verwendet
wird, so ist die fachbereichspezifische Bedeutung in der Regel aus der
Alltagsbedeutung abgeleitet, wobei jeweils unterschiedliche Facetten
übernommen, betont und fachwissenschaftlich spezifisch erweitert werden
(siehe hierzu auch 3.2).
Wünschenswert für fachsprachliche Termini ist eine Definition, die die
Verwendung des fraglichen Ausdrucks mittels notwendiger und zusammen
hinreichender Bedingungen explizit festlegt[9] – im Falle aus der Alltagssprache
entlehnter Ausdrücke in Form einer Explikation.[10]
[10]Zu 2.: In zahlreichen Fachwissenschaften haben sich verschiedene
spezifische Verwendungsweisen von ›Interpretation‹ herausgebildet.
Besondere Ähnlichkeiten lassen sich dabei auf der einen Seite für
Disziplinen feststellen, die sich mit ästhetischen Objekten wie
literarischen Texten auseinandersetzen, und auf der anderen Seite für
Disziplinen, die mit empirischen Daten über natürliche oder soziale
Phänomene arbeiten (siehe hierzu auch 4.1).
[11]Die Hermeneutik setzt sich als zentrale → Theorie mit den Spezifika
menschlichen Verstehens auseinander – besonders im Fokus stehen
Verstehen und Interpretation von Texten bzw. Kunstwerken. Als
charakteristisch für die Auslegung von Texten wird eine zirkelhafte bzw.
spiralförmige ›Bewegung‹ erachtet, bei der das Verstehen von Textteilen
und Textganzem sowie von Text und Kontext sich gegenseitig
beeinflusst.[11]
Gerade im Rahmen der klassisch-hermeneutischen Methode[12] der Textauslegung bleibt hinsichtlich der konkreten
Verfahren des Textverstehens einiges im Unklaren bzw. wird explizit als
nicht regelhaft rekonstruierbar dargestellt – beispielsweise wenn
Friedrich Schleiermacher die Notwendigkeit von Divination (d. h. des
Einfühlens der Interpret*innen in die Denkweise der Autor*innen) betont.[13] Da es sich bei
Texten und Kunstwerken um intentional (und meist mit kommunikativer
Absicht) geschaffene Objekte handelt, wird im Rahmen einiger
hermeneutischer Theorien die Identifikation der kommunikativen Absichten
von Autor*innen bzw. Künstler*innen als Ziel von Interpretation
betrachtet.[14] Dabei
geht es meist insbesondere um die Identifikation eines übertragenen bzw.
symbolischen Sinns der Texte. Bei Beiträgen aus dem Feld der Literatur-
und Kulturwissenschaft ist eine Diversifikation der Ziele, Methoden und
Qualitätskriterien für Interpretationen feststellbar.[15]
[12]In den Natur- und Sozialwissenschaften geht es nicht um das Verstehen von
Texten bzw. Kunstwerken, wodurch weder die Identifikation kommunikativer
Absichten noch die Herausstellung übertragener bzw. symbolischer
Bedeutung im Fokus steht. In den traditionellen Naturwissenschaften wird
(möglicherweise deswegen) der Ausdruck ›Interpretation‹ für das
Verstehen der Bedeutung (im Sinne von Gründen für bzw. Folgen) von
beobachteten Phänomenen durch ›Erklärung‹ ersetzt.[16] Etabliert hat
sich hier das deduktiv-nomologische Modell (auch:
Hempel-Oppenheim-Schema): Eine
(natur-)wissenschaftliche Erklärung besteht aus einem explanandum (d. h. einem Satz, der ein zu erklärendes
Phänomen beschreibt) und einem explanans (d. h.
den Sätzen, die das Phänomen erklären).[17] Eine gute Erklärung ist ein
beweiskräftiges Argument, bei dem die Konklusion notwendig aus den
wahren Prämissen folgt.[18] Eine Rückkehr des Ausdrucks ›Interpretation‹ lässt
sich mit dem Aufkommen der Statistik bzw. Data Science feststellen, in
deren Rahmen Beobachtungen über Phänomene in Form von Daten vorliegen,
die (u. a. mit computationellen → Methoden) analysiert und interpretiert
werden müssen.[19] Es geht
darum, Zusammenhänge zu verstehen, Gründe und mögliche Konsequenzen zu
identifizieren. Teilweise wird ›Interpretation‹ hier allerdings auch für
weniger kontextabhängige Operationen verwendet, beispielsweise für die
Präsentation und (deskriptive) Analyse der Daten zwecks Erkennung von
Mustern und anderen Auffälligkeiten.
[13]Zu 3.: Für alle (fachwissenschaftlichen) Verwendungsweisen von
›Interpretation‹ lässt sich feststellen, dass dieser Ausdruck sowohl den
Prozess als auch das Produkt von Bedeutungszuschreibung bezeichnen kann.
Im Zusammenhang mit dem Prozess sind Fragen der Methoden und Praktiken
vordergründig (worunter auch die Entdeckung von
Interpretationshypothesen fällt), im Zusammenhang mit dem Produkt stehen
dagegen Fragen nach den Qualitätskriterien bzw. nach der Rechtfertigung
von Interpretationshypothesen im Zentrum theoretischer
Auseinandersetzung.[20]