Wege bereiten, vermitteln und Denkräume schaffen! Reflexionen zu institutionellen und infrastrukturellen Erfolgsfaktoren für Digital Humanities an deutschen Universitäten auf Grundlage von Expert*inneninterviews

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Ulrike Wuttke Autoreninformationen

DOI: 10.17175/2022_006

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 1818159465

Erstveröffentlichung: 27.10.2022

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autor*innen.

Letzte Überprüfung aller Verweise: 12.10.2022

GND-Verschlagwortung: Hochschule | Experteninterview | Infrastruktur | Wissenschaftstheorie | Scientific Community |

Empfohlene Zitierweise: Ulrike Wuttke: Wege bereiten, vermitteln und Denkräume schaffen! Reflexionen zu institutionellen und infrastrukturellen Erfolgsfaktoren für Digital Humanities an deutschen Universitäten auf Grundlage von Expert*inneninterviews. In: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften. Wolfenbüttel 2022. text/html Format. DOI: 10.17175/2022_006


Abstract

Dieser Beitrag stellt am Beispiel der ›Universität‹ exemplarisch dar, welche institutionellen Rahmenbedingungen die Digital Humanities brauchen, um Innovationspotenziale freizusetzen und eine tragende Rolle bezüglich der digitalen Transformation der Geisteswissenschaften einzunehmen. Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die Betrachtung der Digital Humanities als community-induziertes Phänomen und die sich daraus ergebende wichtige Rolle von Induktion (d. h. von Wegbereiter*innen und Vermittler*innen) und Inkubation (d. h. institutionellen Denk- und Begegnungsräumen). Hiervon ausgehend wird ausgelotet, inwieweit diese Betrachtungsweise für andere institutionelle Kontexte fruchtbar gemacht werden kann.


This article uses the example of the ›university‹ to illustrate which institutional framework conditions the Digital Humanities need in order to release innovation potential and to take on a leading role in the digital transformation of the Humanities. The focus of the discussion is on the consideration of the Digital Humanities as a community-induced phenomenon and the resulting important role of induction (i.e. of pioneers and mediators) and incubation (i.e. institutional spaces for thought and encounter). Taking the above as a starting point, it will also be explored to what extent this approach can be made fruitful for other institutional contexts.



1. Einleitung

[1]Die fortschreitende Integration digitaler Technologien in alle Bereiche der Forschung (wie z. B. Datenerhebung, Arbeitsmethoden oder Publikations- und Verwertungskanäle) und der Lehre verändert grundlegend die Forschungsorganisationen sowie die Anforderungen an die Forschungsunterstützung & -infrastruktur und damit die Forschung selbst.[1] In der Wissenschaft stellt die systematische Unterstützung der digitalen Transformation eine große Herausforderungen dar, die sich in den wissenschafts- und förderpolitischen Agenden in Schwerpunktthemen wie Open Access, Informationskompetenz, Forschungsinfrastrukturen und Forschungsdatenmanagement widerspiegeln.[2] Neben neuen Berufsbildern, neuen Studiengängen, neuen Anreizsystemen und einer neuen Datenkultur benötigt die digitale Transformation auch geeignete infrastrukturelle Rahmenbedingungen, um ihre Potenziale für nachhaltige Innovationen zu entfalten.[3]

[2]Das Tempo der digitalen Transformation variiert in den Wissenschaftsbereichen (von denen die Geisteswissenschaften lediglich einen darstellen) und den konstituierenden (Teil-)Disziplinen (hier z. B. Geschichte, Philosophie oder Kunstwissenschaft). Es gibt erhebliche disziplinspezifische Unterschiede bezüglich des Ausmaßes und Umfangs, d. h. bezüglich der Intensität des Transformationszustandes, basierend auf disziplinspezifischen Merkmalen der Forschungskultur. Im Fall des Wissenschaftsbereichs Geisteswissenschaften kann man mit Fug und Recht behaupten, dass computergestützte Methoden und Technologien inzwischen in der geisteswissenschaftlichen Forschung und Lehre fest etabliert sind, mittlerweile meist unter dem Begriff Digital Humanities (im Folgen abgekürzt als DH).[4] Doch trotz dieser von den DH ausgehenden Impulse sind die Geisteswissenschaften in ihrer Gänze ein Wissenschaftsbereich mit wenig Erfahrungen im Umgang mit digitalen Daten und Methoden. Stark digitalisierte (Teil-)Disziplinen stehen neben (Teil-)Disziplinen, in denen die neuen technologischen und methodischen Möglichkeiten aus verschiedenen Gründen noch nicht vollständig in den Forschungs- und Lehralltag eingedrungen sind (und auch zwischen Institutionen derselben Disziplin können Unterschiede in der Realisierung des digitalen Wandels bestehen).[5]

[3]Derzeit werden von verschiedenen nationalen und internationalen Infrastrukturinitiativen, Projekten und Institutionen spezialisierte Ressourcen und Dienste für die DH entwickelt und bereitgestellt, wie z. B. CLARIAH[6], einzelne Konsortien der deutschen Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI[7]) oder die europäischen Forschungsinfrastrukturen CLARIN-EU[8] und DARIAH-EU[9]. Neben diesen – mehr oder weniger breit angelegten – digitalen Infrastrukturen gibt es eine wachsende Zahl von regionalen und disziplinspezifischen DH-Kompetenzzentren und Datenzentren. Auch wissenschaftliche Bibliotheken bieten infrastrukturelle, forschungsunterstützende Dienstleistungen an und gehen Partnerschaften mit DH-Projekten ein, Tätigkeiten, die als Erweiterung ihrer traditionellen Rolle gesehen werden können.[10] Trotz dieser vielfältigen und sich entwickelnden Infrastrukturlandschaft ist unser Verständnis für neue Organisationsformen und infrastrukturelle Bedürfnisse, die durch die Digitalisierung der Geisteswissenschaften an einzelnen Institutionen entstehen, unvollständig.[11]

[4]Die Arbeitsgruppe Forschungsdaten der Schwerpunktinitiative Digitale Information der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen hat 2018 eine Empfehlung formuliert für die Entwicklung sogenannter Digital-Strategien auf institutioneller Ebene, die auch die Perspektive von kleineren Communities, bzw. von Communities mit wenig Erfahrung im Umgang mit digitalen Daten und Methoden, einbeziehen.[12] Ausgehend von dieser Empfehlung wird in diesem Artikel ausgelotet, welche Rahmenbedingungen DH-Forschungsaktivitäten und der breiteren Digitalisierung geisteswissenschaftlicher Forschungsprozesse besonders zuträglich sind, d. h. es wird der Frage nachgegangen, welche systemisch-strukturellen Veränderungen in den Bereichen Forschung und Lehre notwendig sind.[13] Während im anglo-amerikanischen Sprachraum die Zentralität dieser Fragestellung schon früh erkannt wurde,[14] existieren in Deutschland zwar verschiedene Modelle und Ansätze zur institutionellen Förderung der DH, jedoch werden ihre institutionellen und infrastrukturellen Dimensionen noch relativ selten übergreifend reflektiert.[15]

[5]Im Folgenden wird daher zunächst die Bedeutung der DH für die breitere digitale Transformation der Geisteswissenschaften skizziert[16] und dann – basierend auf Fallbeispielen aus vier deutschen Universitäten – eine Zusammenschau institutioneller und infrastruktureller Erfolgsfaktoren zur Förderung der DH-Forschung vorgestellt.[17] Es wird eine allgemeine Empfehlung für die Schaffung eines fruchtbaren Umfelds für das den DH innewohnende Innovations- und Transformationspotenzial für universitäre Forschungs- und Lehraktivitäten in den Geisteswissenschaften gegeben, ohne ein bestimmtes Organisationsmodell (z. B. DH-Zentrum) zu empfehlen. Im Sinne der Erkenntnisse aus den Fallbeispielen, liegt der Fokus auf der Betrachtung der DH als gemeinschaftsinduziertes Phänomen und der daraus resultierenden Bedeutung von Induktion (d. h. von Wegbereiter*innen und Vermittler*innen) und Inkubation (d. h. institutionellen Denk- und Begegnungsräumen).[18]

[6]Der vorliegende Beitrag rekapituliert zuerst die zentrale Forschungsfrage sowie die Methodik und Ergebnisse der Untersuchung. Dann diskutiert er, wie sich das aus der Studie abzuleitende, augenscheinliche Paradox der DH als community-induziertes Phänomen, bei dem technologische Aspekte für die Art und Weise der Institutionalisierung an zweiter Stelle stehen, für die weitere Entwicklung der DH fruchtbar machen lässt, sowie Möglichkeiten der Übertragung der Ergebnisse auf andere institutionelle Kontexte.

[7]Die hier vorgestellte Perspektive trägt zur aktuellen Diskussion über infrastrukturelle und organisatorische Modelle der DH auf institutioneller Ebene bei. Sie ergänzt bestehende Forschungsliteratur, die entweder stark auf den angloamerikanischen Raum fokussiert oder auf die Perspektive von Infrastrukturakteuren (insbesondere Bibliotheken) beschränkt ist.[19] Darüber hinaus leistet sie einen Beitrag zur breiteren Diskussion über zukünftige Entwicklungspfade der Geisteswissenschaften, die durch die Digitalisierung vor Herausforderungen stehen. Sie kann als Ausgangspunkt und Inspiration für den Auf- und Ausbau von DH-Forschungsprogrammen an deutschen Universitäten und darüber hinaus dienen.

2. Forschungsstand und Herausforderung

[8]Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen, dass die digitale Transformation organisatorische und infrastrukturelle Anforderungen an einzelnen Hochschulstandorten beeinflusst.[20] Dies wirft die Frage auf, wie einzelne Hochschulen kleinere oder im Umgang mit digitalen Daten und Methoden wenig erfahrene Communities wie die Geisteswissenschaften in diesen Prozess einbeziehen, unterstützen und die oben diskutierten institutionellen Digitalstrategien fruchtbar machen können. Bevor in diesem Artikel das Verständnis für die neuen Organisationsformen und infrastrukturellen Bedürfnisse, die durch die Digitalisierung der Geisteswissenschaften auf der Ebene einzelner Institutionen, in diesem Fall deutscher Universitäten, hervorgerufen werden, vertieft wird, muss zunächst die Prämisse erörtert werden, dass den DH eine im positiven Sinne treibende Rolle für die Digitalisierung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und deren Auswirkungen zukommt.

2.1 Die Digital Humanities und die Digitalisierung der Geisteswissenschaften

[9]Die Auswirkungen der sogenannten digitalen Transformation der Geisteswissenschaften, insbesondere der sich im Rahmen dieser Entwicklung ausdifferenzierenden DH, bzw. Digitalen Geisteswissenschaften, auf das Selbstverständnis und den theoretischen und methodologischen Rahmen der geisteswissenschaftlichen Forschung und Lehre sind immer wieder Gegenstand kritischer Reflexionen. Diese manifestieren sich im deutschen Sprachraum z. B. im Rahmen der interdisziplinären Symposienreihe Digitalität in den Geisteswissenschaften[21] und ihren Begleitpublikationen.[22]

[10]Generell könnte man sagen, dass die DH ein Ausdruck der zunehmenden digitalen Transformation der Geisteswissenschaften sind. Sie sind Geisteswissenschaften, aber ›mit Computern‹, um mit dem historischen Begriff ›Humanities Computing‹ zu spielen.[23] Angesichts der Entwicklung des Feldes und seiner fortschreitenden Professionalisierung ist diese Definition natürlich nicht ausreichend. In Anbetracht der sich schnell verändernden Forschungslandschaft und der unterschiedlichen Denkschulen ist es aber auch nicht einfach, den Begriff Digital Humanities prägnanter zu definieren, denn obgleich die relativ jungen DH beträchtliche Aufmerksamkeit und Fördergelder anziehen, sind sie gleichzeitig noch auf der Suche nach ihrer Identität. Die verspielte Website What is Digital Humanities?[24] sammelte mehr als 800 verschiedene Definitionen aus der Community, um die Dimension dieser Fragestellung zu verdeutlichen.

[11]Die Frage der Definition des Begriffs Digital Humanities ist eng mit der Frage verbunden, ob die DH als eigenständige Disziplin oder als übergreifendes Phänomen in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen betrachtet werden sollten.[25] Grundlage für die folgenden Überlegungen ist die Betrachtung der DH als übergreifendes Phänomen, sie stehen für den Wandel der wissenschaftlichen Gegenstände und Methoden in den Geisteswissenschaften durch den Einsatz digitaler Technologien, das Aufkommen von Internet und Big Data und die damit verbundenen Veränderungen der Forschungskultur mit Offenheit und Kollaboration als neuen Paradigmen.[26] Diese breite, pragmatische Betrachtung des Begriffs DH als Sammelbegriff (umbrella term) oder »disziplinübergreifendes Forschungsparadigma«[27] soll keineswegs ausschließen, dass sich in Zukunft eine eigenständige Disziplin um einen theoretischen und methodologischen Kern etablieren wird.[28] Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass ausgehend von theoretischen Überlegungen zum Status der DH z. B. diskutiert werden könnte, ob sie per definitionem interdisziplinär sind, weil sie im Grenzbereich zwischen Geisteswissenschaften und Informatik ›leben‹, also ein »Brückenfach« sind.[29] Während es für die weitere Professionalisierung der DH notwendig erscheinen mag, ihren disziplinären Status und ihre Reichweite genauer zu definieren, ist es für diesen Artikel wichtiger, das ›Versprechen‹ der DH im Kontext der Geisteswissenschaften zu diskutieren, um besondere Maßnahmen zur Förderung der DH zu rechtfertigen.

[12]Die Rolle der DH für die Digitalisierung der Geisteswissenschaften wird inzwischen verstärkt thematisiert.[30] Die Bedeutung, die den DH in Deutschland beigemessen wird, wird nicht zuletzt durch umfangreiche Investitionen, wie das Förderprogramm eHumanities des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)[31], unterstrichen. Wir sehen auf der einen Seite, dass den DH eine wichtige Rolle als Treiber für die allgemeine Digitalisierung der Geisteswissenschaften und daraus resultierende Forschungsinnovationen zugeschrieben wird, wie z. B. im folgenden Zitat:

[13]»Wir möchten betonen, dass die digitale Wende aus unserer Perspektive mehr verspricht und auch einlösen wird, als die inflationären Turns innerhalb der Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten, da sie nicht nur die Fachdisziplinen methodisch neu konturiert, sondern eine disziplinenübergreifende Schnittstelle bietet.«[32]

[14]Diese positiven Erwartungen sind jedoch nicht unumstritten. Den DH wird auch mit Vorbehalten begegnet und sie werden als ressourcenintensiver Hype diskutiert, der sich noch nicht bewährt hat.[33] In einer Zeit, in der diese Auseinandersetzung aufgrund der (gefühlt) starken Konkurrenz um knappe Mittel zwischen ›traditionellen‹ Geisteswissenschaften und DH teilweise hitzig geführt wird, scheint es besonders notwendig, die Lernkurve der DH in den letzten Jahren sachlich fundiert zu diskutieren und anzuerkennen, nicht zuletzt, weil sie ein noch recht junges Phänomen sind.[34]

[15]Neben spezifischen Forschungsinnovationen werden auch weitere Effekte der digitalen Transformation der Geisteswissenschaften in der Forschungsliteratur diskutiert[35], u. a. im breiteren Kontext der sogenannten Krise der Geisteswissenschaften, wonach die Geisteswissenschaften Gefahr laufen, für breite Teile der Gesellschaft irrelevant zu werden und auch an den Universitäten marginalisiert zu werden.[36] Ohne diese Diskussion an dieser Stelle in der dafür notwendigen Tiefe verfolgen zu können, sei als Potenzial der DH in diesem Zusammenhang genannt, dass sie Raum für »riskantes Denken«[37] schaffen, das als notwendig erachtet wird, um die Geisteswissenschaften an den Universitäten wiederzubeleben und darüber hinaus ins Gespräch zu bringen. Zusätzlich zu immer intensiveren theoretischen Ansätzen[38] bieten die DH gleichzeitig ein Laboratorium bzw. einen Experimentierraum (ein zentrales Element des Call for Participation der vDHd2021[39]), um neue geisteswissenschaftliche Methoden und Forschungsfragen zu entwickeln, neue Materialien zu erschließen, neue Zielgruppen zu erreichen und neue Formen der Zusammenarbeit, der Wissenschaftskommunikation und der Lehre und Verbreitung auszuprobieren.[40]

[16]In diesem Zusammenhang besteht ein deutlicher Bedarf, das Innovationspotenzial digitaler Forschungsmethoden für die Geisteswissenschaften in der Breite weiter auszuloten und daraus resultierende Herausforderungen und Maßnahmen genauer zu untersuchen, da die digitale Transformation Auswirkungen auf das Selbstverständnis, den theoretischen Rahmen und die angewandten Methoden in weiten Bereichen der Geisteswissenschaften hat:

[17]»Die Digitalisierung führt aber nicht nur zu einer wachsenden Bedeutung der Geisteswissenschaften, sondern wirkt sich auf diese auch selbst transformativ aus. Ihre Forschungspraktiken und Ergebnisse werden zum Teil digital verändert, wenn auch langsamer und diskursiver als in den Natur- und Technikwissenschaften.«[41]

[18]Aus diesem Grund ist kritisch zu hinterfragen, welche Rahmenbedingungen der Computational Turn in den Geisteswissenschaften im Allgemeinen benötigt, wie innovationsfördernde Impulse gegeben werden können und wie die daraus resultierenden Bedürfnisse in institutionellen Digitalstrategien adressiert werden könnten:

[19]»Developing institutional strategies for the support of digital humanities will accelerate the initiation and growth of sustainable programs that add value for practitioners of digital humanities and for the institutions within which they work.«[42]

2.2 Infrastrukturelle Rahmenbedingungen für die Digital Humanities als Forschungsfrage

[20]Für das in den Geisteswissenschaften zu beobachtende unterschiedliche Tempo der digitalen Transformation sind nicht nur Spezifika der jeweiligen Fachkulturen verantwortlich, sondern auch institutionelle Rahmenbedingungen, wie z. B. Schwerpunktsetzungen individueller Standorte oder Institutionen, scheinen eine Rolle zu spielen. Hierdurch bietet sich Institutionen die Chance, die Transformations- und Innovationspotenziale der DH durch die Schaffung geeigneter institutioneller, infrastruktureller Rahmenbedingungen für die breitere geisteswissenschaftliche Forschung und Lehre fruchtbar zu machen. Es geht nicht um eine umfassende digitale Transformation der gesamten Geisteswissenschaften, denn es ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersehbar, wie umfangreich diese sein wird,[43] sondern um die Schaffung eines potenziell günstigen Umfelds, eines Nährbodens.

[21]Momentan besteht konkreter Forschungs- und Handlungsbedarf bezüglich der durch die Digitalisierung bedingten neuen Organisationsformen und infrastrukturellen Bedarfe der Forschung und Lehre an einzelnen Hochschulstandorten.[44] Aus der Perspektive einzelner Wissenschaftseinrichtungen steht in diesem Zusammenhang die Entwicklung sogenannter institutioneller Digital-Strategien zentral, mit deren Hilfe bestimmte Disziplinen bzw. Gruppen von Disziplinen gefördert werden können, und die disziplin- bzw. organisationsspezifische Eigenheiten und Bedarfe adressieren.[45]

[22]Insbesondere die Geisteswissenschaften zählen zu denjenigen Fächern, die es bei der Entwicklung institutioneller Digital-Strategien spezifisch zu adressieren gilt, um Spielräume für die Entwicklung neuer Methoden und Forschungsfragen, die Erschließung neuer Materialien, das Erreichen neuer Zielgruppen sowie das Ausprobieren neuer Formen der Zusammenarbeit, der Wissenschaftskommunikation und der Lehre und Dissemination zu schaffen.[46] Es gilt daher, das Innovationspotenzial digitaler Forschungsabläufe und ‑methoden für die Geisteswissenschaften in der Breite auszuloten und schrittweise zu implementieren.[47]

[23]Den DH wird, wie oben erwähnt, in diesem Kontext eine Rolle als Impulsgeber für den bisherigen Status Quo der breiteren geisteswissenschaftlichen Forschung und Lehre übersteigende digitale Transformations- und Innovationsprozesse zugesprochen. Wenn man die digitale Transformation der Geisteswissenschaften als einen ergebnisoffenen Prozess betrachtet, in dem die Potenziale digitaler Methoden und Werkzeuge weiter ausgelotet werden, dann wird deutlich, dass dieser Prozess nicht nur besonderer Reflexion bedarf, sondern auch gezielter Stimulation.

[24]In einer idealen Welt reagieren infrastrukturelle Entwicklungen auf Veränderungen innerhalb des Wissenschaftssystems im Allgemeinen (sie sind sozusagen wissenschaftsgetrieben). Der durch die digitale Transformation erforderliche Kulturwandel kann nur durch eine breite Akzeptanz innerhalb der wissenschaftlichen Communities und ein Gleichgewicht zwischen Top-Down- und Bottom-Up-Ansätzen entstehen. Aus diesem Grund wird z. B. der Aufbau der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) in Deutschland in den Geisteswissenschaften von tiefgreifenden infrastrukturellen Aushandlungsprozessen begleitet. Diese verfolgen zwei Ziele:

  1. die Schaffung von Knotenpunkten eines nationalen verteilten Netzwerks und
  2. die Ermöglichung eines Paradigmenwechsels in der geisteswissenschaftlichen Forschungskultur hin zu einer breiten Akzeptanz der FAIR-Datenprinzipien.[48]

[25]In diesem Prozess, der die Modi des Zugangs, des Umgangs und der Kommunikation von Wissen, Daten und Informationen in den Geisteswissenschaften verändern wird, sind einerseits technologische Aspekte wichtig. Andererseits spielen die notwendigen kulturellen Veränderungen, um diese Vision einer neuen Forschungskultur mit Leben zu erfüllen, ebenso eine ausschlaggebende Rolle und erfordern eine kontinuierliche kritische Reflexion der neuen Bedingungen.

[26]Schon zu Beginn der Anwendung von Computertechnologien in den Geisteswissenschaften ab etwa Mitte des letzten Jahrhunderts zeigte sich, dass diese Ansätze die Ressourcen der traditionell arbeitenden Geisteswissenschaften oft übersteigen. Daher wurden schon in der frühen Pionierphase erste Technologiezentren als unterstützende Infrastrukturen eingerichtet, wie z. B. das Linguistic Computing Centre in Cambridge (1964), das den Zugang zu Rechenleistung ermöglichte.[49] Neben spezialisierten Technologiezentren wurden zunehmend Institutionen des kulturellen Erbes wie Archive, Bibliotheken und Museen zu Akteuren der digitalen Transformation der Geisteswissenschaften als Anbieter des Zugangs zu digitalisierten und digitalen Quellen.[50] Jahrzehnte später spielt eine Vielzahl lokaler, nationaler und internationaler digitaler Forschungsinfrastrukturen eine wichtige Rolle in den Geisteswissenschaften, z. B. für den Zugang zu und die langfristige Bewahrung eines Pools kollektiver Ressourcen, als Anbieter von Werkzeugen, Technologien und Beratungs- und Informationsdiensten für die Nutzung digitaler Methoden sowie für die Sicherstellung des Austauschs von Informationen, Daten und Wissen unter dem Open-Science-Paradigma.[51]

[27]Institutionelle Empfehlungen für die digitale Transformation der Geisteswissenschaften müssen die Perspektiven verschiedener Akteure auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene in Einklang bringen, von einzelnen Wissenschaftler*innen und Institutionen über Forschungsinfrastrukturen bis hin zu (inter-)nationalen Aggregatoren und Akzeleratoren wie der NFDI und der European Open Science Cloud (EOSC). Der erste Schritt zur Gewinnung von Erkenntnissen über infrastrukturelle Erfolgsfaktoren für die DH auf Hochschulebene muss daher eine Diskussion der Implikationen des Begriffs DH-Infrastruktur sein, der zweite Schritt die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Analyse der institutionellen und infrastrukturellen Dimensionen eines DH-Ökosystems auf Hochschulebene.

[28]Forschungsinfrastrukturen – wie beispielsweise Anlagen, Ressourcen, Institutionen und Dienstleistungen – sind Infrastrukturen, die der Forschung und den Forschenden dienen; sie werden von verschiedenen Akteuren angeboten und können analoger oder digitaler Natur sein (oder hybrid).[52] Für e-Research spielen insbesondere digitale Infrastrukturen (oder e-Infrastrukturen), wie technische und organisatorische Dienste und Einrichtungen für den Zugang zu und die Bewahrung von Daten und Informationen, eine wichtige Rolle.[53] Forschungsinfrastrukturen sind oft tief in Forschungsprozesse eingebettet und eine Voraussetzung für komplexe Analysen, technologische Fortschritte und die Entdeckung neuer Forschungsthemen. Dies macht ihre Förderung zu einem relevanten Thema für die nationale und internationale Wissenschaftspolitik.[54]

[29]Während traditionelle Forschungsinfrastrukturen in den Geisteswissenschaften Kulturerbe-Institutionen sind, die analoge Quellensammlungen pflegen und zugänglich machen, bieten (zusätzlich) zunehmend digitale Forschungsinfrastrukturen Zugang zu Rechenleistung, Software oder digitalen Sammlungen und ermöglichen Geisteswissenschaftler*innen die Nutzung neuer Methoden, Werkzeuge und Kommunikations- und Kollaborationsplattformen.[55] Vernetzte (offene) digitale Sammlungen bieten neue Forschungsmöglichkeiten, wobei der Grad der Digitalisierung, Integration und Datafizierung von kulturhistorischen Sammlungen in Deutschland (und Europa) bislang eher gering ist.[56] Auch generell ist die digitale Forschungsinfrastrukturlandschaft in den Geisteswissenschaften, verglichen mit den Naturwissenschaften, weniger ausgereift, was methodische Innovationen behindert.[57]

[30]Während in der Vergangenheit vor allem technologische Aspekte digitaler Forschungsinfrastrukturen in der Literatur diskutiert wurden, werden in jüngster Zeit verstärkt soziale Aspekte digitaler Forschungsinfrastrukturen hervorgehoben, wie z. B. von Leslie Chan:

[31]»While revealing the complexities of creating open and enabling infrastructures, this project highlights that the social dimensions of building such tools are key to their long-term success. In that way, the successes of infrastructure should not be based on just their ›open‹ design, but on the longer-term outcomes and social relations between partnering institutions that they facilitate.«[58]

[32]Die Betrachtung digitaler Forschungsinfrastrukturen als soziale Netzwerke (sogenannte Peer-to-Peer-Netzwerke) hat Diskussionen über deren Bedeutung im Hinblick auf eine sich verändernde Forschungskultur eröffnet.[59] Mit anderen Worten: Der Begriff digitale Forschungsinfrastruktur sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass in ihrem Mittelpunkt immer Menschen und ihre Interaktionen, Bedürfnisse und Forschungsinteressen stehen (sollten), d. h. digitale Forschungsinfrastrukturen in den Geisteswissenschaften haben wichtige soziale und transformative Komponenten und Potenziale.[60] Indem sie Verbindungen zwischen analogen und digitalen Welten schaffen, indem sie analoge Prozesse in digitaler Form abbilden, sollen digitale Forschungsinfrastrukturen neue Möglichkeiten für die Forschung eröffnen, ohne traditionelle und bewährte Wissensinfrastrukturen zu ersetzen.[61]

[33]Als Schlüsselaspekte dieser Diskussion der infrastrukturellen Rahmenbedingungen der DH sollen folgende Punkte aus der semantischen Debatte um Forschungsinfrastrukturen herausgegriffen werden: digitale Forschungsinfrastrukturen in den Geisteswissenschaften stellen einen technologischen, sozialen und politischen Rahmen für Menschen, Technologien, Werkzeuge und Dienstleistungen dar und sie manifestieren sich auf unterschiedlichen Ebenen. Heruntergebrochen auf die universitäre Ebene bedeutet dies, dass idealerweise ganzheitliche institutionelle Digitalstrategien für die Geisteswissenschaften harte (personelle und finanzielle) und weiche Faktoren (Kooperationsformen und konkrete Rollenzuweisungen) sowie technologische Bedarfe (Werkzeuge und andere technologische Dienstleistungen) und Kompetenzen berücksichtigen und den Begriff der Forschungsinfrastruktur eher weit gefasst werden sollte. Diese grundlegenden Überlegungen leiteten das Forschungsdesign, insbesondere die Entwicklung des Fragebogens für die semi-strukturierten Expert*inneninterviews, wie im folgenden Kapitel beschrieben wird.

3. Studienmethodik und Ergebnisse

3.1 Auswahl der Standorte für die Expert*inneninterview

[34]Im deutschsprachigen Raum existiert im universitären Kontext eine Vielzahl an Modellen zur Förderung der DH. In Ermangelung allgemeiner Empfehlungen für den Aufbau von universitären DH-Schwerpunkten, die die Entwicklung institutioneller Digital-Strategien informieren könnten, wurde im Rahmen der Studie Infrastrukturelle Erfolgsfaktoren für einen Digital Humanities Schwerpunkt an deutschen Universitäten[62] unmittelbare Einsichten in spezifische DH-›Labore‹ bezüglich der Rahmenbedingungen und Entwicklungspfade erfolgreicher deutscher DH-Standorte aus Sicht beteiligter Wissenschaftler*innen durch Expert*inneninterviews gewonnen.[63] Die Ergebnisse der qualitativen Analyse der Interviews wurden unter Einbeziehung relevanter Forschungsliteratur aus dem In- und Ausland zu übergreifenden infrastrukturellen Erfolgsfaktoren und Empfehlungen synthetisiert.

[35]Die Standortauswahl für die Interviews mit Vertreter*innen erfolgreicher deutscher universitärer DH-Standorte als Grundlage für die qualitative Erhebung der Erfahrungswerte erfolgte anhand eines im Rahmen der Studie erarbeiteten Modellvorschlags für die Quantifizierung der Forschungsstärke von DH-Standorten mit den Kriterien ›Erfolg in der DH-Forschung‹, ›Erfolg in der DH-Lehre‹ und ›Erfolg in der DH-Institutionalisierung‹. Zur Ermittlung der Spitzenreiterpositionen für das im Rahmen der Studie am stärksten gewichtete Kriterium ›Erfolg in der DH-Forschung‹ wurde für den Zeitraum 2015–2018 die Anzahl der Einreichungen für die Jahreskonferenzen des DHd-Verbands,[64] das wichtigste Event der deutschsprachigen DH-Community[65], erhoben (siehe Tabelle 1). Bei dieser Auslegung des Kriteriums ›Erfolg in der DH-Forschung‹ stand das Ziel im Vordergrund, im Rahmen der Studie ein pragmatisch handhabbares Kriterium für die Ermittlung der DH-Forschungsstärke einer Institution zu erhalten. In anderen Kontexten ist eine Erweiterung um Aspekte, wie die Anzahl der Publikationen in Fachzeitschriften oder die Summe eingeworbener Drittmittel, zu erwägen. Die Datenlage ist bezüglich letztgenannter Faktoren jedoch weitaus weniger transparent.

[36]Die Auswertung der Anzahl der Einreichungen zu den DHd-Jahreskonferenzen 2015–2018 führte zu Spitzenreiterpositionen folgender Universitäten für das Kriterium ›Erfolg in der DH-Forschung‹: Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Universität zu Köln, Humboldt-Universität zu Berlin, Universität Stuttgart, Georg-August-Universität Göttingen (siehe Tabelle 1).


Name der Universität Erfolg in der DH-Forschung (Anzahl der Einreichungen DHd 2015–2018)[66]
Julius-Maximilians-Universität Würzburg 38
Universität zu Köln 37
Humboldt-Universität zu Berlin 31
Georg-August-Universität Göttingen 30
Universität Stuttgart 25

Tab. 1: Ergebnisse Auswertung Kriterium ›Erfolg in der DH-Forschung‹ (Ausschnitt). [Wuttke 2022]

[37]Die Datenerhebung bezüglich der im Rahmen der Auswahl der zu untersuchenden Standorte weniger stark gewichteten beiden Kriterien, nämlich ›Erfolg in der DH-Lehre‹ und ›Erfolg in der DH-Institutionalisierung‹, brachten weitere interessante Erkenntnisse, die indirekt die letztendliche Standortauswahl bestätigten. Insbesondere zeigte sich, dass individuelle Standorte teilweise sehr unterschiedliche Stärken haben. Eine starke Institutionalisierung, z. B. durch ein DH-Zentrum (eng. Digital Humanities Center, kurz DHC), führt nicht automatisch zu einem großem Forschungserfolg. Einige Universitäten haben kein institutionelles DH-Zentrum, sind dafür aber sehr aktiv in der DH-Lehre, reichen jedoch wenig Beiträge zu den DHd-Jahreskonferenzen ein. Gerade die führenden Institutionen beim Rankingkriterium ›Erfolg in der DH-Forschung‹ waren jedoch fast alle auch in den anderen beiden Kriterien stark.[67]

3.2 Durchführung und Ergebnisse der Expert*inneninterviews

[38]Letztendlich wurden mit vier Vertreter*innen der Spitzenreiterpositionen des Kriteriums ›Erfolg in der DH-Forschung‹ aus dem Bereich der universitären DH-Forschung (siehe Tabelle 1) leitfadenbasierte Expert*inneninterviews durchgeführt, d. h. mit Expert*innen von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, der Universität zu Köln, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Stuttgart; das Interview mit einer*m Vertreter*in der Georg-August-Universität Göttingen kam nicht zustande.

[39]Beim Expert*inneninterview handelt sich um eine ursprünglich aus dem Bereich der Sozialforschung stammende qualitative Forschungsmethode, die sich besonders für explorative Studien zu neuen Problemfeldern eignet.[68] Vor allem für explorative Untersuchungen ist die Anzahl der durchgeführten Interviews nicht entscheidend, da im Mittelpunkt dieser qualitativen Forschungsmethode nicht auf eine große Population generalisierbare Ergebnisse stehen, sondern die Einsichten einer sorgfältig ausgewählten, besonders informierten Anzahl von Personen zum Untersuchungsgegenstand.[69] Die Auswahl der Expert*innen wurde in diesem Fall anhand eines vorher festgelegten Kriteriums getroffen (siehe Kapitel 3.1). Um die Ergebnisse der explorativen Studie zu erhärten, böte es sich an, als nächster Schritt der Fragestellung in weiterführenden, umfangreicheren Studien nachzugehen, um repräsentativere Aussagen zu erhalten. Eine Strategie könnten ›Tiefenbohrungen‹ sein, also die Erweiterung des Teilnehmerkreises an Einzelstandorten, eine andere mögliche Strategie wäre die strukturierte empirische Erhebung von Daten an mehreren Standorten, z. B. auch unter Einbeziehung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, bzw. eine Kombination beider Strategien.

[40]Das Design des für die Expert*inneninterviews verwendeten Leitfadens beruht auf den grundlegenden Prämissen, dass

  1. eine institutionelle Digital-Strategie für die Geisteswissenschaften im Idealfall harte (personelle und finanzielle) und weiche Faktoren (Formen der Kooperation und konkrete Rollenverteilungen) sowie technologische Bedarfe (Werkzeuge und andere technologische Dienstleistungen) und Kompetenzen adressieren, und
  2. der Begriff Forschungsinfrastruktur für die digitalen Geisteswissenschaften breit aufgefasst werden sollte.[70]

[41]Diese beiden anhand der vorliegenden Forschungsliteratur entwickelten Prämissen unterstreichen, dass neben den in fachlichen und (wissenschafts-)politischen Diskussionen oftmals stark betonten technologischen Aspekten von digitalen Forschungsinfrastrukturen, den Interaktionen, Bedürfnissen und Forschungsinteressen von Menschen eine ebenso zentrale Bedeutung zukommt, weil digitale Forschungsinfrastrukturen in den Geisteswissenschaften wichtige soziale Komponenten haben. Daher wurden – neben digitalen Methoden und technischen Prozessen – die Leistungsfähigkeit des Digital-Humanities-Ökosystems eines Standorts und seine Ausstrahlung auf alle, die breiteren Geisteswissenschaften beeinflussenden, sozialen und wissenschaftspolitischen Faktoren integral in das Forschungsdesign einbezogen. Der Interviewleitfaden umfasste die Themenbereiche Institutionalisierung, Lehre, Professoralisierung, allgemeine Rahmenbedingungen, den Lebenszyklus von DH-Projekten sowie eine eigene Einschätzung der Interviewpartner*innen zu Erfolgsfaktoren und Hemmnissen bezüglich des Erfolgs ihres Standorts.

[42]Die Interviews wurden virtuell und persönlich durchgeführt und anschließend die vollständige Transkription der Interviews kodiert und thematisch ausgewertet, um Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Die Ergebnisse der Interviews werden im folgenden Kapitel zu allgemeinen Voraussetzungen für erfolgreiche universitäre DH-Standorte synthetisiert.[71]

4. Analyse und Diskussion

4.1 Infrastrukturelle Erfolgsfaktoren für DH-Schwerpunkte an deutschen Universitäten: Wegbereiter, Vermittler und Denkräume

[43]Aus den Ergebnissen der Expert*inneninterviews kann ein fünfstufiges Modell infrastruktureller Erfolgsfaktoren in den DH abstrahiert werden (siehe Abbildung 1). Dieses Modell ist erweiterbar und modifizierbar. Seine aufeinander aufbauenden Ebenen hängen eng miteinander zusammen bzw. bedingen sich gegenseitig und reichen von der Schaffung von Grundvoraussetzungen (state of mind) bis zur Etablierung komplexer bzw. langfristiger Strukturen.

Abb. 1: Grafik
                                    DH-Erfolgsfaktoren. [Wuttke 2022]
Abb. 1: Grafik DH-Erfolgsfaktoren. [Wuttke 2022]

[44]Es ist deutlich, dass allein aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen kein allgemeingültiges Erfolgsrezept für den Aufbau von universitären DH-Schwerpunkten existieren kann: »[A] one-size-fits-all approach to digital scholarship support never fits all«.[72] Die Punkte des in Abbildung 1 abgebildeten Modells bilden vielmehr einen generischen Maßnahmenkatalog aus dem, je nach individuellen Rahmenbedingungen und Zielsetzungen eines Standorts (z. B. Forschungs- oder Serviceorientierung), eine Auswahl getroffen werden kann.[73]

[45]Die auf Basis der Studie entwickelten Erfolgskriterien können einerseits wegweisend für den sukzessiven Aufbau von DH-Schwerpunkten an Universitäten sein. Andererseits bieten sie wichtige Anhaltspunkte für die Formulierung von institutionellen Digital-Strategien für die Geisteswissenschaften, weil ein wichtiger Erfolgsfaktor für die breitere Akzeptanz und digitale Durchdringung der Geisteswissenschaften das Aufgreifen der DH als institutionelles Schwerpunktthema und die Entwicklung einer entsprechenden institutionellen Strategie ist:

[46]»[…] developing support at an institutional level can lower the barrier to entry for a larger and more diverse group of scholars to adopt DH tools and methodologies. Institutional support is particularly helpful when scholars want to apply well-established techniques within a new discipline or to a new set of research questions or courses. Central support at an institution can also take advantage of economies of scale by coordinating software license purchases to leverage bulk discounts, determining which technology platforms will be supported, or establishing digital preservation practices that apply broadly.«[74]

[47]Es empfiehlt sich demnach, eine institutionelle Digital-Strategie für die Geisteswissenschaften zu entwickeln, die auf den Transformations- und Innovationspotenzialen der DH für die Geisteswissenschaften durch enge Integration der Digital Humanities in die traditionellen Geisteswissenschaften aufsetzt, d. h. die DH nicht zu stark abzugrenzen oder in Konkurrenz zu letzteren zu bringen. Diese stärkere Integration könnte auch vor der von Markus Krajewski beschriebenen Gefahr der überzogenen auf die DH projizierten Heilserwartungen bewahren bzw. dazu beitragen, dass die DH nicht als Dienstleister der traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gesehen werden.[75]

[48]Um die in Abbildung 1 spezifizierten Erfolgsfaktoren für die Entwicklung einer spezielle Bedarfe der Geisteswissenschaften adressierenden Digital-Strategie für einen individuellen Standort fruchtbar zu machen, sollte zunächst eine pragmatische Erhebung des Ist-Zustands in Form einer umfassenden Standortanalyse (environmental scan) und Bedarfsanalyse (needs assessment) erfolgen.[76] Diese Erhebung sollte sowohl die Perspektive verschiedener Akteure als auch eine breite Spanne infrastruktureller Faktoren inklusive des DH-Ökosystems einbeziehen.[77] Anhand der Ergebnisse können dann strategische Ziele (Entwicklungspfade und Aufbaubereiche), konkrete Bedarfe, Kooperationsmöglichkeiten etc. formuliert werden.

4.2 Digital Humanities als community-induziertes Phänomen

[49]Wenn man die in Abbildung 1 aufgeführten Erfolgsfaktoren näher betrachtet, fällt die große Rolle von sozialen bzw. weichen Faktoren wie Interdisziplinarität, Kooperationsklima, personelle und räumliche Bündelung von DH-Aktivitäten oder die Etablierung einer Kultur des Lernens für den Erfolg eines Standorts auf.[78] Der Erfolg der DH scheint maßgeblich durch ein Gleichgewicht der beiden Bestandteile ›Humanities‹ und ›Digital‹ geprägt zu sein. Durch diese Feststellung soll keineswegs die Rolle technologischer Aspekte schmälern, sondern bestätigt die Wichtigkeit sozialer Faktoren und weist darauf hin, dass eine zu technologische Sicht auf ein DH-Ökosystem die Gefahr des Scheiterns in sich birgt.

[50]Die Ergebnisse der Studie rechtfertigen die Betrachtung des Erfolgs von DH-Schwerpunkten als primär community-induziertes Phänomen. Eine kooperative, interdisziplinäre Geisteshaltung innerhalb einer universitären Community ist die Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Dialog zwischen (digitalen) Geisteswissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen weiterer in diesem Kontext relevanter Fächer wie Informatik oder Medienwissenschaften.[79] Sie bildet den Nährboden für das Entstehen von innovativen Lösungen auf der Grundlage genuiner, gemeinsamer Forschungsinteressen[80] und letztendlich den Forschungserfolg und kann durch strukturbildende Maßnahmen gezielt gefördert werden. Dazu kommt, dass bei Forschungskooperationen mit der Informatik gute Kenntnisse mathematischer Konzepte der Informatik eine Grundvoraussetzung für das Erlangen innovativer Resultate durch Kooperationen auf Augenhöhe (im Gegensatz zur eher kontraproduktiven, starken Aufgabenteilung zwischen Material und Methode) spielen.[81] Die Aneignung dieser Kenntnisse sollte idealerweise schon in der Lehre, sowohl im Rahmen dedizierter DH-Studiengänge mit verschiedenen Modellen und Schwerpunktsetzungen (B. A. und M. A.) als auch im Rahmen der breiteren geisteswissenschaftlichen Lehre, einsetzen.[82] Nicht zuletzt legen interdisziplinär ausgerichtete Studiengänge wichtige Grundlagen für die Entwicklung des gegenseitigen Verständnisses für verschiedene Fachkulturen und interdisziplinäre Kompetenzen, z. B. durch das Einüben von Teamarbeit in Praxisprojekten.[83]

[51]Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass folgende aus den Expert*inneninterviews extrahierten Grundmuster entscheidend zur Schaffung eines für den DH-Forschungserfolg und breitenwirksame Transformationsimpulse günstigen institutionellen Klimas beitragen können:[84]

  1. Bündelung: Die institutionelle Unterstützung der DH durch die Schaffung von zentralen Vermittler*innen und institutionellen Denkräumen, kann entscheidend zur Induktion und Inkubation von DH-Forschungsaktivitäten und somit zum Forschungserfolg, z. B. durch die Einwerbung von (drittmittelbasierten) Projekten und das Gewinnen neuer Erkenntnisse betragen.[85]
  2. Inklusion: Die gezielte und enge Verzahnung von DH-Aktivitäten mit der geisteswissenschaftlichen Community – im Fall von Universitäten insbesondere mit geisteswissenschaftlichen Fakultäten – kann zur breiteren Akzeptanz, Kooperationsanbahnungen (Stichwort: Ansteckungseffekt) und Transformationsimpulsen beitragen.
  3. Lehre: Der Einrichtung von dedizierten DH-Professuren und -Studiengängen kann eine wichtige Rolle für die Stärkung der universitären DH u. a. durch Profilschärfung, Schwerpunktsetzung in der Lehre und höhere Akzeptanz als Ansprech- und Kooperationspartner*in, zukommen.
  4. Nachhaltigkeit: Die Digital Humanities benötigen technische und personelle Nachhaltigkeit ihrer Infrastrukturen, wobei fortwährend die Balance zwischen Service- und Forschungsaktivitäten sowie Innovationsdrang und Standardisierungsbestrebungen austariert werden muss.

[52]Insbesondere der Aspekt der Bündelung drückt sich momentan in der deutschen universitären Forschungslandschaft in der Form sogenannter DH-Zentren aus. Diesen wird als institutionellen Inkubatoren und Katalysatoren für Innovationen eine wichtige Rolle zugesprochen, wobei eine Herausforderung die Abstimmung der Aufgabenbereiche und Beiträge zu lokalen, nationalen und internationalen digitalen Forschungsinfrastrukturen darstellt. DH-Zentren und deren Mitarbeiter*innen können dieser Rolle jedoch nur gerecht werden, wenn sie nicht als ›Antragsfabriken‹, d. h. ohne entsprechende Ausstattung und Forschungsauftrag, konzipiert sind.

[53]Das Ziel muss jedoch nicht immer der Aufbau eines DH-Zentrums – eine fortgeschrittene (und nicht unumstrittene) Form der Institutionalisierung – sein.[86] Ausschlaggebend sind hier Faktoren wie Größe der Einrichtung und Community, vorhandene Ressourcen und spezielle Bedarfe (Stichwort: Degrees of Capacity[87]). Niedrigschwelligere Möglichkeiten der Bündelung und Unterstützung von DH-Aktivitäten sind u. a. die Einrichtung von DH-Koordinationsstellen bzw. -Ansprechpartner*innen an geisteswissenschaftlichen Fakultäten oder Universitätsbibliotheken[88] oder die Etablierung von Service-Kooperationen mit standorteigenen Infrastrukturpartnern. Informelle Foren (wie DH-Stammtische[89], Brown-Bag-Lunches oder Arbeitsgruppen) sind aufgrund mangelnder Ressourcen meist zunächst ohne nennenswerten institutionellen Effekt, können aber einen starken Netzwerkeffekt entfalten und als Keimzelle für weitere Institutionalisierungsstufen dienen.

5. Fazit und Ausblick

[54]Die im Beitrag herausgearbeitete Rolle sozialer Faktoren bietet einerseits Ansatzpunkte für die zukünftige Gestaltung der Lehre. Es zeichnet sich ab, dass insbesondere digitale Geisteswissenschaftler*innen an ›Schnittstellen‹, als Vermittler*innen zwischen verschiedenen Welten, neben geisteswissenschaftlicher, informatischer und technologischer Expertise, umfangreiche Sozial- und Projektmanagementkompetenzen[90] benötigen, die früh eingeübt werden sollten. Außerdem sollten innerhalb klassischer geisteswissenschaftlicher Studiengänge mehr Berührungspunkte mit den DH geschaffen werden, um Berührungsängste zu nehmen.[91] Um den eingangs erwähnten kritischen Diskurs um die DH auf einer sachlichen Ebene zu führen, scheint es wichtig, in Zukunft bei Geisteswissenschaftler*innen und Studierenden geisteswissenschaftlicher Fächer stärker Neugierde zu wecken, sich mit den Möglichkeiten der DH vertraut zu machen sowie sie aktiv dabei zu unterstützen, selbst transparente und nachhaltige digitale Forschungsparadigmen umzusetzen.[92] Die digitale Transformation geisteswissenschaftlicher Forschung und Lehre und der damit erhoffte Innovationssprung durch die Etablierung einer »Grunddatenkompetenz von Lernenden, Lehrenden und Forschenden«[93] kann jedoch nur durch die breite Integration digitaler Praktiken in den geisteswissenschaftlichen Fächern Realität werden. Daher ist es wichtig, den Einsatz digitaler Medien und Methoden durch Lehrende sowohl in der universitären als auch in der schulischen Praxis anzuregen, um die Kompetenzentwicklung der nächsten Generationen zu fördern.[94]

[55]Die Rolle sozialer Faktoren im Begegnungsraum der (digitalen) Geisteswissenschaften und im Austausch mit weiteren relevanten Disziplinen, lädt andererseits dazu ein, im Rahmen geisteswissenschaftlicher Digital-Strategien verstärkt über ein gezieltes Change bzw. Innovation Management nachzudenken, um die digitale Transformation positiv zu begleiten, disruptive Tendenzen aufzufangen, Berührungsängste zu nehmen und nicht zuletzt Raum für »riskante[s] Denken«[95] – für Experimente, auch mit der Möglichkeit zu scheitern und daraus zu lernen – zu schaffen. Noch ist die Situation vor allem, dass »failure remains [...] a strong taboo in digital humanities«[96].

[56]Die digitale Transformation der Geisteswissenschaften erfordert einen technologischen Sprung und eine Transformation tradierter geisteswissenschaftlicher Forschungsparadigmen bzw. des sozialen Gefüges. Sie wird weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklungspfade der Geisteswissenschaften mit sich bringen. Wohin die Reise gehen wird, welche Rolle die DH innerhalb des Wissenschaftsgefüges spielen werden, als eigene Disziplin oder als Teil der verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, ist schwer vorherzusagen, aber immer stärker zeichnet sich als eines der maßgeblichen Potenziale der DH die Möglichkeit zur Grenzüberschreitung ab:

[57]»Dass gerade in der Grenzüberschreitung die maßgeblichen Möglichkeiten der Digital Humanities liegen, den von C.P. Snow beschriebenen Graben zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu überwinden, ist ein greifbares Resultat dieses Bandes. Die Digital Humanities bewähren sich damit als eine Praktik, die als ›umbrella‹ für eine konstruktive inter- und transdisziplinäre Diskussion wirksam werden kann, wo es – unbeschadet weiterer Definitionsbemühungen – letztlich unerheblich bleibt, mit welchen abgrenzenden bzw. definitorischen Charakteristika die Digital Humanities bedacht werden.«[97]

[58]Um Schwierigkeiten und Synergien an den Berührungspunkten zwischen DH, tradierten geisteswissenschaftlichen Disziplinen und darüber hinaus weiter zu erforschen, scheinen die im Zitat anklingenden Ansätze der Erforschung der Kooperationspraktiken der DH als Grenzüberschreitung unter Einbeziehung des Konzepts der sogenannten Boundary Practices wegweisend.[98] Neben solchen theoretischen Ansätzen scheint es außerdem erstrebenswert, die Ergebnisse der Expert*inneninterviewstudie auf eine breitere Basis zu stellen (d. h. eine empirische Überprüfung durch eine Erweiterung der Datenbasis) sowie der Frage nachzugehen, inwieweit die Empfehlungen für den Aufbau von DH-Schwerpunkten an Universitäten für andere Einrichtungstypen, z. B. außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, modifiziert werden können.


Fußnoten


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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

  • Tab. 1: Ergebnisse Auswertung Kriterium ›Erfolg in der DH-Forschung‹ (Ausschnitt). [Wuttke 2022]
  • Abb. 1: Grafik DH-Erfolgsfaktoren. [Wuttke 2022]