Abstract
Die frühneuzeitliche Gelehrtenrepublik erscheint in der Forschung hauptsächlich als Briefnetzwerk. Am Beispiel von Leonhard Christoph Sturm (1669–1719) schlagen wir einen breiteren Ansatz vor, der Daten zu Briefen und Publikationen aus dem VD 17, dem VD 18 und dem Kalliope-Verbundkatalog sowie eine Rekonstruktion der Privatbibliothek integriert. Auf dieser Basis führen wir eine explorative Netzwerkanalyse durch, die Ansatzpunkte liefert für die hermeneutische Untersuchung von zwei Hauptfeldern der gelehrten Tätigkeit Sturms: Festungsbau und Theologie. Damit präsentieren wir eine Methodologie, die distant und close reading vereint, um die intellektuellen Netzwerke der Frühaufklärung um 1700 umfassend zu analysieren.
The early modern republic of letters has largely been analysed as an epistolary network. In this case study on Leonhard Christoph Sturm (1669–1719) we suggest a broader approach which integrates data on letters and publications from the VD17, VD18, and Kalliope catalogues along with a reconstruction of Sturm’s library. Based on this data we perform an exploratory network analysis which, in turn, informs a hermeneutic inquiry in two key areas of Sturm‘s scholarly interest: the design of fortifications and theology. In this way, we offer a comprehensive methodology which combines distant and close reading to study the intellectual networks of the early Enlightenment around 1700.
- 1. Einleitung
- 2. Leonhard Christoph Sturms akademisches Itinerar
- 3. Technische und methodische Grundlagen: (Daten-)Quellen, LibReTo und historische Netzwerkanalyse
- 4. Sturms Netzwerke und Konstellationen
- 4.1 Quantitative Exploration: Sturms Diskursnetzwerk, seine Bibliothek und seine Ausleihen
- 4.2 Qualitative Bewertung
- 5. Fazit
- Bibliographische Angaben
- Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
[1]Die Gelehrten in der Frühen Neuzeit lebten und arbeiteten nicht isoliert voneinander, sondern agierten innerhalb vielfältiger Netzwerke. Die Verbindungen wurden durch verschiedene Medien – hauptsächlich Briefe, Drucke und Traktate, Stammbücher und seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Zeitschriften – geknüpft und verfügten mit den Lehr- und Wissensinstitutionen der Universitäten, Lateinschulen, Bibliotheken, Sozietäten, aber auch einzelnen Fürstenhöfen über lokale Knotenpunkte.[1] Als ideelle Klammer dieser vernetzten Vielfalt fungierte seit der Zeit des Renaissancehumanismus im frühen 15. Jahrhundert die Vorstellung einer res publica litteraria, einer Gelehrtenrepublik, die nationale, ständische und konfessionelle Gegensätze überwand und »kein Oberhaupt/ als die gesunde Vernunfft« anerkannte, wie der Frühaufklärer Christian Thomasius schrieb.[2]
[2]Als Forschungsbegriff spielen die Gelehrtenrepublik und ihre lateinischen (res publica litteraria), französischen (république des lettres) und englischen Äquivalente (republic of letters) schon seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle für die Erforschung der Kommunikationsstrukturen innerhalb der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur.[3] Dabei lag und liegt ein Hauptaugenmerk auf den Korrespondenznetzwerken, sodass der Eindruck entstehen konnte, die Gelehrtenrepublik sei primär »epistolarisch vergesellschaftet« gewesen.[4] Dieser Schwerpunkt hat sich im Kontext digitaler und insbesondere netzwerkanalytischer Forschungsansätze in den letzten Jahren eher noch verstärkt.[5] Denn andere Medien und Institutionen blieben zwar nicht unberücksichtigt, fanden aber weniger Beachtung.[6]
[3]Dies wollen wir zum Anlass nehmen, um am Beispiel des Architekturtheoretikers und Mathematikers Leonhard Christoph Sturm (1669–1719) das heuristische Potential auszuloten, das die Kombination verschiedener Datenbestände bietet, die über das Briefnetzwerk Sturms hinausgehen. Sturm ist der Protagonist des Projektes Intellektuelle Netzwerke an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) innerhalb des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsverbundes MWW (Marbach Weimar Wolfenbüttel); das Projekt will das geistige, akademische und religiöse Profil seiner Person schärfen. Dazu werden Sturms persönlicher Bücherbesitz (ca. 500 Titel), seine Ausleihen aus der Fürstlichen Bibliothek in Wolfenbüttel (ca. 450 Titel) und die Briefkorrespondenz mit den Zeitgenossen August Hermann Francke, Gottfried Wilhelm Leibniz und Gottfried Kirch erschlossen, virtuell rekonstruiert und mit weiteren Daten zu seinen eigenen Werken (Sturmiana) und den gegen ihn gerichteten Publikationen (Anti-Sturmiana) in Beziehung gesetzt. Für die Datenanalyse kommt einerseits das von Hartmut Beyer zur digitalen Rekonstruktion historischer Bibliotheken entwickelte Library Reconstruction Tool (LibReTo) zum Einsatz, andererseits das im Projekttitel exponierte Verfahren der historischen Netzwerkanalyse. Allerdings untersuchen wir nicht nur soziale Netzwerke, sondern – in Anlehnung an die ideengeschichtliche Konstellationsforschung sowie neuere Ansätze in der historischen Netzwerkanalyse – auch multimodale Netzwerke, die Dokumente (z. B. Bücher und Briefe), Personen und Ideen bzw. behandelte Themen miteinander verknüpfen.[7] Dieser Zugriff soll exemplarisch erkennbar werden lassen, wie weit ein datengetriebener explorativer Zugang zu neuen Erkenntnissen über das Agieren und die Handlungsspielräume einzelner Gelehrter sowie das Zusammenspiel verschiedener Medien und Institutionen innerhalb der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik führen kann. Unsere Leitfragen lauten: Von wem empfing Sturm intellektuelle Anregungen und welche Impulse gingen von ihm aus? Mit welchen privaten und ausgeliehenen Büchern hat er gearbeitet? Was hat er zu welcher Zeit und unter welchen Umständen publiziert, und in welchen Diskussionszusammenhängen stand der Gelehrte? In einem weiteren Sinn geht es um eine Hypothesenbildung zum intellektuellen Netzwerk Sturms und dem Funktionieren der res publica litteraria seiner Zeit und darum, Suchrichtungen vorzuschlagen, die das notwendige close reading der Quellen lenken können. Den Wert dieses experimentellen Ansatzes sehen wir darin, dass ein Test Case geschaffen wird für ähnliche Vorhaben, die mit explorativem Impetus digitale und klassische geisteswissenschaftliche Methoden verzahnen.
[4]Nach dem akademischen Biogramm Sturms werden wir die technischen und methodischen Grundlagen unseres Vorgehens erläutern, um anschließend die Ergebnisse unseres Datenexperiments anhand mehrerer Netzwerkgraphen zu präsentieren. Am Beispiel von zwei hervortretenden diskursiven Konstellationen wollen wir dann das heuristische Potential der explorativen Netzwerkanalyse für eine anschließende hermeneutische Untersuchung überprüfen. Die Erkenntnisse und Desiderata diskutieren wir abschließend im Fazit.
2. Leonhard Christoph Sturms akademisches Itinerar
[5]1669 in Altdorf bei Nürnberg geboren, kehrte Sturm 1683 nach auswärtiger Gymnasialausbildung in seine Heimatstadt zurück und studierte bis 1687 an der Academia Norica Theologie und Mathematik.[8] Sein Vater, Johann Christoph Sturm (1635–1703), eine Autorität im Fach Mathematik und Pionier der experimentellen Methode in der Physik, lehrte dort als Professor. Nach Erreichen der Magisterwürde 1688 wechselte Sturm Junior nach Jena, ging aber bereits zur Jahreswende 1690 nach Leipzig, wo er sich bis 1694 in mehreren Disputationen weiter qualifizierte. In der Messestadt lernte er u. a. den Ratsherrn Georg Bose (1650–1700) kennen, der ihm Studienreisen nach Dresden und Berlin ermöglichte und das Angebot unterbreitete, einen umfangreichen Traktat aus dem Nachlass des Architekturtheoretikers Nicolaus Goldmann (1611–1665) zu veröffentlichen. Goldmann hatte im niederländischen Leiden Mathematik und Architektur gelehrt und bei seinem Tod jenen Traktat zur Zivilbaukunst unvollendet hinterlassen; vor allem fehlten Abbildungen, um die abstrakten Ideen zu visualisieren. Dieser Editionsauftrag sollte Sturms Karriere nachhaltig beeinflussen.[9] In der Leipziger Zeit intensivierte Sturm zudem sein Bemühen um eine fromme Lebensführung, er wandte sich dem Pietismus zu, und theologischen wie religiösen Fragen galt neben der Architekturtheorie und Baupraxis zunehmend sein Hauptinteresse.[10]
[6]Die Gründung der Universität in Halle (1694) weckte seinen Wunsch auf eine Professur, der sich aber nicht erfüllte; die Anstellung hätte er nicht zuletzt deshalb begrüßt, weil der von ihm verehrte August Hermann Francke (1663−1727), der Begründer des Hallischen Pietismus, ebenfalls in der Stadt an der Saale wirkte. Stattdessen erhielt Sturm einen Ruf nach Wolfenbüttel, um Nachfolger von Johann Balthasar Lauterbach (1663−1694) zu werden und die Professur für Mathematik und Architektur an der Ritterakademie Rudolph-Antoniana zu übernehmen.[11] Der Posten des welfischen Landbaumeisters, den Lauterbach ebenfalls innegehabt hatte, blieb Sturm verwehrt.[12] In Wolfenbüttel verbrachte er acht Jahre, unterrichtete den adligen Nachwuchs in Mathematik, was die Zivil- und Militärbaukunst mit einschloss, und gründete eine Familie. Im Frühjahr 1702 wechselte er nach Frankfurt an der Oder und übernahm an der Viadrina die mathematische Professur. Die brandenburgische Landesuniversität war größer als die Ritterakademie, sie war wahrhaftig universitär und bikonfessionell – weshalb sich der Wechsel für den ehrgeizigen Sturm, der sich als pietistischer Parteigänger zum Beispiel nicht der in Wolfenbüttel aufgrund des Pietistenedikts von 1692 wirksamen orthodoxen Gesinnungszensur beugen wollte, vielversprechend ausnahm. Der von Zeitgenossen als streitlustig beschriebene, oft besserwisserisch auftretende und vor allem aus seiner unorthodoxen Gesinnung keinen Hehl machende Sturm überwarf sich aber in Frankfurt bald mit Kollegen und der Obrigkeit der lutherischen Stadt, wobei Glaubensfragen im Mittelpunkt standen.[13] Nach acht Jahren wechselte er im März 1711 an den Schweriner Hof, wo ihm der Posten des Baudirektors angeboten worden war. Nach dem Tod von Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin (1675−1713) verringerte sich allerdings die Auftragslage für Sturm kontinuierlich; vergrößerte sich damit einerseits der Druck auf die Existenzsicherung, fand er andererseits vermehrt Zeit, die eigene Schriftenproduktion voranzutreiben. Als der Fürst von Blankenburg, Ludwig Rudolph (1671−1735), ihn schließlich als Baudirektor zurück in welfische Dienste rief, zog Sturm im Mai 1719 von Mecklenburg in den Harz.[14] Dort waren ihm nur wenige Wochen vergönnt, er starb fünfzigjährig am 6. Juni 1719 nach einem Schlaganfall.
3. Technische und methodische Grundlagen: (Daten-)Quellen, LibReTo und
historische Netzwerkanalyse
[7]Nach dem Tod Sturms gelangte ein Teil seiner Privatbibliothek, inklusive einer Reihe mathematischer und naturwissenschaftlicher Instrumente, in den Besitz seines letzten Dienstherrn, der sie in die eigene Fürstenbibliothek in Blankenburg integrierte.[15] Dazu ließ Ludwig Rudolph ein Inventar anfertigen, in dem auf 36 Seiten (20 Blatt) 434 Bücherlose (ca. 500 Einzeltitel) von Folio bis Duodez notiert sind.[16] Außer auf seine privaten Bücher und Instrumente griff Sturm während seiner Zeit als Professor in Wolfenbüttel aber auch auf die Bestände der Bibliotheca Augusta zurück, die seit 1664 für Besucher geöffnet war und Ausleihmöglichkeiten bot, ferner dann auch Bücher und Medien für die Ausbildung der Adelssprösslinge an der Ritterakademie bereitstellte. Die Ausleihen wurden in speziellen Ausleihbüchern verzeichnet, sodass sie gut dokumentiert und in Bezug auf Sturm und andere Nutzer rekonstruierbar sind.[17] Diese Daten haben wir im Rahmen unseres Projekts mit dem Tool LibReTo erfasst und visualisiert.[18]
[8]Das seit 2015 im Kontext des Forschungsverbunds MWW an der Herzog August Bibliothek entwickelte, frei nachnutzbare Tool ist im Kern ein Hilfsmittel zur Visualisierung rekonstruierter Bibliotheken, das Transkriptionen von Altkatalogen, Provenienzinformationen zu erhaltenen Beständen oder andere Quellen als Datengrundlage nutzen kann.[19] Die Erfassung erfolgt händisch in CSV oder XML, ein Direktimport von Daten über die SRU-Schnittstellen des Verbundkatalogs K10plus ist aber möglich, wenn Datensammlungen per Suchanfrage greifbar sind. Die Visualisierung erfolgt in Form von statischen HTML-Seiten, in denen frei zwischen allen erfassten Kategorien navigiert werden kann und die durch verschiedene Visualisierungen (Wordclouds, Kreisdiagramme, Kartenansicht im GeoBrowser) ergänzt sind.[20] Die Darstellung ist anders als der Online-Katalog einer Bibliothek nicht für die Suche, sondern für die Exploration und Analyse der Daten konzipiert.[21] Durch die Ausgabe der erfassten Daten in verschiedenen Formaten wie TEI-XML und RDF (RDF-XML und Turtle) wird LibReTo zu einer flexibel einsetzbaren Normierungs- und Anreicherungsmaschine für bibliographische Forschungsdaten. Neben der Rekonstruktion einer Bibliothek anhand eines Altkatalogs gibt es weitere mögliche Anwendungsszenarien, nämlich die Darstellung von Ausleihen oder von Lektürezeugnissen, die Visualisierung einer aktuell vorhandenen Bibliothek oder die Darstellung eines inhaltlich oder formal einzugrenzenden Teilbestands. Auch Handschriften, Inkunabeln, Kunstwerke oder museale Gegenstände können dabei erfasst werden. Im Kontext des Sturm-Projekts erwies sich diese Flexibilität als hilfreich, weil unterschiedliche Datenbestände zu Sturms Wirken auf dieselbe Weise in das Untersuchungscorpus integriert werden konnten. Neben seinen nachgelassenen Büchern waren dies die Ausleihen aus der herzoglichen Bibliothek sowie die von ihm verfassten oder unter seiner Beteiligung oder mit Bezug zu ihm entstandenen Publikationen aus den nationalbibliographischen Datenbanken VD 17 und VD 18.[22]
[9]Im Zuge des Sturm-Projekts erfolgte eine Weiterentwicklung von LibReTo, indem als zusätzliches Exportformat eine Aufbereitung des jeweiligen Datensatzes für das Netzwerkanalyseprogramm Gephi,[23] bestehend aus Tabellen für Knoten und Kanten, eingefügt wurde. LibReTo gibt alle Personen, Personendatenbanken, Bücher, Orte, Druckende / Verlegende und Sachbegriffe als eigene Knoten aus und erlaubt so den Direktimport in die Graphdatenbank. Neben den mit LibReTo erhobenen Datenbeständen wurden weitere Daten mit direktem oder indirektem Bezug zu Leonhard Christoph Sturm digital erhoben, um das Diskursnetzwerk abzubilden, in dem sich Sturm bewegte. Es handelt sich vor allem um Daten zu Korrespondenzen aus dem Verbundkatalog Kalliope[24] und der Leibniz-Korrespondenten-Datenbank,[25] die im Zusammenhang mit Sturm stehen. Sie wurden zunächst im MODS-XML-Format gespeichert und dann mittels eigener XSLT-Skripte weiterverarbeitet. Notwendig war eine händische Kontrolle, Bereinigung und Angleichung. Ergänzt wurden diese Daten durch Mitgliedschaften der im Zusammenhang mit den Korrespondenzen und Publikationen ermittelten Personen in großen europäischen Wissenschaftsakademien, die sich teilautomatisiert aus Wikidata erheben lassen,[26] sowie durch Zeitschriften, in denen die Sturmiana und Anti-Sturmiana diskutiert und erwähnt wurden.[27] Anschließend wurden die Daten in Gephi importiert und ausgewertet.
[10]Bei den entstehenden Graphen handelt es sich nicht um einfache Soziogramme, die nur Personen miteinander verknüpfen, sondern um multimodale Netzwerke, die verschiedene Knotentypen kombinieren. Personenzentrierte soziale Netzwerke sind bereits seit den 1970er Jahren auch in der Geschichtswissenschaft präsent. Eingeführt hatte sie Wolfgang Reinhard im Zusammenhang mit seiner Verflechtungsanalyse.[28] Dabei wurden schon von Reinhard selbst und seinen SchülerInnen Überlegungen zum Einsatz von Computern bei der Dateneingabe und -auswertung angestellt.[29] Jedoch erfolgte ein intensiverer Einsatz der computergestützten historischen Netzwerkanalyse erst nach der Verbreitung erschwinglicher und leicht zu bedienender PCs und entsprechender Programme.[30] Diese erlauben es, auch komplexere Netzwerke mit mehr als einem Knotentyp darzustellen und zu untersuchen, wie wir es tun.[31] Eine wichtige Rolle kommt hier Visualisierungen zu, die sich insbesondere zur Exploration großer Datensätze bewährt haben.[32] Dabei wird in der Forschung im Sinne der Methodenkritik mehr und mehr darüber reflektiert, wie Visualisierungen den Forschungsprozess lenken und beeinflussen, inwieweit sie selbst Interpretationen und folglich auch selbst interpretationsbedürftig sind.[33] Um dem Rechnung zu tragen, verlassen wir uns nicht allein auf die Netzwerkvisualisierungen, sondern nutzen als Korrektiv und Ergänzung auch die Möglichkeiten, die die Netzwerkanalyse bzw. Gephi und LibReTo für quantifizierende Untersuchungen bieten.[34]
[11]Zusätzlich zu dieser digitalen methodischen Rahmung machen wir mit der Einbeziehung von Dokumenten (Bücher / Briefe) und Ideen (Inhalte / Schlagworte) in das Netzwerk Sturms eine bewusste Anleihe bei der ideengeschichtlichen Konstellationsforschung, die Martin Mulsow und Marcello Stamm im Anschluss an die philosophiegeschichtlichen Arbeiten Dieter Henrichs zu einer allgemeinen geisteswissenschaftlichen Methode ausgebaut haben.[35] Dabei spielen Netzwerke nicht so sehr als methodisches Instrument im Sinne der sozialen Netzwerkanalyse, sondern vielmehr als heuristisch und theoretisch fruchtbare Metapher eine wichtige Rolle, um dichte intellektuelle Relationsgefüge in einem Denkraum aufzuspüren, zu beschreiben und zu interpretieren.[36] Indem wir die Konstellationsforschung und die digitale, datengestützte Netzwerkanalyse miteinander kombinieren, wollen wir auch die Methodendiskussion in der historischen Forschung wie in den Digital Humanities bzw. den immer noch recht schleppenden Dialog zwischen beiden Fächern aufnehmen und anregen.[37]
4. Sturms Netzwerke und Konstellationen
4.1 Quantitative Exploration: Sturms Diskursnetzwerk, seine Bibliothek
und seine Ausleihen
[12]Anhand der erhobenen Daten zu Publikationen und Briefen mit Bezug zu Sturm soll nun sein Diskursnetzwerk exploriert werden. Durch die Einbeziehung heterogener Datenbestände, Knotentypen und Relationen erhält bereits dieses Netzwerk einen Umfang und eine Komplexität, die es notwendig machen, digitale Methoden der Netzwerkanalyse einzusetzen, um Schneisen zu schlagen.[38] Insgesamt weist der Graph 406 Knoten und 841 Kanten auf, und es ist wenig verwunderlich, dass er sich primär als Egonetzwerk präsentiert, das auf Leonhard Christoph Sturm zentriert ist (vgl. Abbildung 1).[39]
Eine leicht veränderte, interaktive Visualisierung von Sturms Diskursnetzwerk ist zu finden in: Münkner et al. 2022, hier: Diskursnetzwerk.
[13]Dieser erste visuelle Befund ergibt sich aus dem Algorithmus, mit dem der Graph gezeichnet wurde. Es handelt sich um ein force-directed layout, konkret um den in Gephi integrierten Algorithmus ForceAtlas2.[40] Die Position der Knoten richtet sich hier nach simulierten Anziehungs- und Abstoßungskräften zwischen ihnen, so als ob sie durch elastische Federn verbunden wären und sich zugleich wie gleichartig geladene Teilchen abstoßen. Auf diese Weise werden Knoten mit vielen gemeinsamen Kanten näher zusammen gruppiert und Knoten mit sehr vielen Verbindungen im Zentrum des Graphen positioniert, was ein intuitives Erschließen des Netzwerks erlaubt.[41]
[14]Abgesehen von der zentralen Stellung Sturms treten zunächst drei Personen mit einer prominenten Stellung hervor: im oberen Teil August Hermann Francke (24)[42], im linken Bereich Gottfried Wilhelm Leibniz (19) und Gottfried Kirch (15). Anhand der Farbgebung ist zudem erkennbar, dass diese Personen hauptsächlich über Korrespondenz mit Sturm in direktem oder indirektem Kontakt standen. Hierbei ist anzumerken, dass wir nicht nur direkte Korrespondenzpartner Sturms einbezogen haben, sondern auch Personen und Körperschaften, die in den Briefen lediglich erwähnt werden.[43] Demgegenüber ist im unteren Teil des Netzwerks Nikolaus Goldmann (24) als zentrale Figur zu identifizieren. Als Knoten verdeutlicht er, dass es sich bei der vorliegenden Netzkonstellation eben nicht um ein exklusives soziales, sondern um ein Diskurs-Netzwerk handelt. Goldmann war bereits 1665, vier Jahre vor Sturms Geburt, gestorben, konnte mit ihm also nicht persönlich bekannt sein. Allerdings gab Sturm, wie schon erwähnt, Goldmanns Civil-Baukunst im Druck heraus, er kommentierte und erweiterte das Werk zudem in mehreren Nachfolgepublikationen ausführlich und hielt so Goldmann und seine Arbeiten im aktuellen Architekturdiskurs präsent.[44]
[15]Deutlich erkennbar ist außerdem, dass sich um einzelne Knoten Unternetzwerke bzw. eigene Konstellationen bilden. Dabei kommen Zeitschriften und gelehrten Institutionen, vor allem Akademien, wichtige Funktionen zu, die auf ihre systemisch relevante, nämlich strukturbildende Rolle innerhalb der res publica litteraria verweisen. Konkret lassen sich zwei solcher Funktionen anhand des Sturmschen Diskursnetzes erkennen: Zum einen konsolidierten Akademien und Zeitschriften die diskursiven und sozialen Relationen der Gelehrten, indem sie sie zu Fächergruppen zusammenschlossen. So waren Die Gelehrte Fama (43) und die Neue Bibliothec (22) wichtige Knotenpunkte, die den theologischen Diskurs und vor allem Kontroversen, in die Sturm mit seinen Zeitgenossen verwickelt war, durch Rezensionen, Buchanzeigen und Zusammenfassungen bündelten und ›disziplinierten‹.[45] Ähnliches gilt für die großen naturwissenschaftlichen Akademien wie die Royal Society (6) in London und die Académie des Sciences (8) in Paris, in denen Mathematiker wie Leibniz oder Johann Bernoulli (9) Mitglieder waren.[46] Zum anderen konnten Zeitschriften und Akademien, die thematisch und fachlich breiter aufgestellt waren, auch eine Brückenfunktion zwischen verschiedenen diskursiven Konstellationen einnehmen. In Sturms Netzwerk gilt dies etwa für die 1700 unter der Bezeichnung ›Societet derer Scientien‹ gegründete Akademie der Wissenschaften (13) in Berlin, in der er, wie auch Leibniz oder Gottfried Kirch, seit 1704 Mitglied war; und ebenso für die Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen (11), die sowohl theologische als auch architekturtheoretische Schriften Sturms anzeigten und rezensierten.[47]
[16]Wir fokussieren nun auf die Gruppenbildungen bzw. Unterkonstellationen in Sturms Netzwerk. Diese lassen sich in der gezeigten Visualisierung bereits dank des Layout-Algorithmus in groben Zügen erkennen, treten aber deutlicher hervor, wenn der Netzwerkgraph entsprechend der mit Gephi errechneten Modularitätsklassen eingefärbt wird (vgl. Abbildung 2).[48] Bei der Modularität handelt es sich um ein Maß, mit dem sich Gruppenbildungen in einem Netzwerk identifizieren lassen.[49] Diese Gruppen bzw. Modularitätsklassen werden dadurch berechnet, dass die Knoten in ihnen über mehr Verbindungen untereinander verfügen, als bei einer zufälligen Verteilung der Kanten zu erwarten wären. Zugleich bestehen zwischen den einzelnen Modularitätsklassen weniger Verbindungen als bei einer Zufallsverteilung.[50] In Sturms Netzwerk lassen sich insgesamt 12 solcher Klassen ermitteln, die sich um zentrale Themen und Personen gruppieren.
[17]Die größte Unterkonstellation (Nr. 0) ist um Sturm selbst konzentriert und umfasst thematisch vor allem Architektur, Mathematik, Mechanik und Kriegskunde, letztere konzentriert auf den Festungsbau. Angesprochen sind damit Bücher und Schriften, die am engsten mit Sturms beruflichen Haupttätigkeiten als Mathematikprofessor, Architekturtheoretiker und Baudirektor zusammenhängen.
[18]Die beiden nächstgrößeren Gruppen (Nr. 3 und 7) überschneiden sich partiell und werden durch die Person August Hermann Franckes verklammert. Es handelt sich hier einerseits um den Cluster »Geldwesen, Pädagogik, Medizin« (Nr. 3), der zum großen Teil von Korrespondenz bestimmt ist, die Sturm mit Francke unter anderem über die Erziehung seiner Kinder, Spenden für das Hallesche Waisenhaus und Arzneimittelbestellungen aus der dortigen Apotheke führte. Zudem beriet sich Sturm mit Francke intensiv über theologische Fragen, hatte er doch nicht zuletzt den Wunsch, seine eigenen theologischen Einlassungen in Halle zum Druck zu befördern, wozu er Franckes Einwilligung brauchte. So sind viele der Briefe gleichzeitig dem erwähnten zweiten Cluster um Francke (Nr. 7) zuzurechnen.[51] Neben den Briefen gehören in die Themengruppe »Theologie« dann vor allem Publikationen Sturms und seiner Gegner oder Mitstreiter, die um einschlägige Probleme wie die von Sturm 1714 ausgelöste Abendmahlskontroverse kreisen.[52] Das Knotenfeld Nr. 2, das an vierter Stelle steht, beinhaltet hauptsächlich Korrespondenz mit den Zentralfiguren Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Bernoulli. Sturm tritt hier als Briefpartner Leibniz’ hervor, ansonsten wird er innerhalb dieser Gruppe, zu der auch Christian Wolff und Nikolaus Bernoulli gehörten, eher nur erwähnt. Dies geschieht im Zusammenhang mit anderen Architekten und Mathematikern, und zwar lebenden (z. B. Isaac Newton, Christoph Pfautz) wie bereits verstorbenen (z. B. Euklid, Vitruv, Andrea Palladio, René Descartes, Claude Perrault), sodass es trotz einer fehlenden thematischen Verschlagwortung in den zugrundeliegenden Daten plausibel scheint, dass es in den Briefwechseln zumindest teilweise um Sturms Leistungen auf den Gebieten der Architektur und der Mathematik ging. Die Mitglieder dieser Untergruppe waren zudem, wie auch schon erwähnt, durch ihre Mitgliedschaften in großen Wissenschaftsakademien wie der Royal Society, der Académie des Sciences oder der Akademie der Wissenschaften in Berlin miteinander verbunden. Mit seinem Berliner Akademiekollegen Gottfried Kirch tauschte sich Sturm beispielsweise über astronomische Themen aus (Nr. 12), während Kirchs Frau Margaretha ebenfalls zu diesem Diskussionskreis gehörte.
[19]In numerischer Hinsicht wichtiger als dieser Briefwechsel sind die anschließenden Knoten-Gebilde, die sich um Gelegenheitsschriften (Nr. 4) und philosophische Dissertationen (Nr. 10) gruppieren. Hierzu können noch die Gruppen 9 (juristische Dissertationen) und 8 (Altertumskunde) gezählt werden. Zeitlich gehören die in diesen Clustern versammelten Publikationen vornehmlich in Sturms Studienzeiten in Altdorf[53] und Leipzig. Sie dokumentieren also eine Phase seines Lebens, in der er fachlich noch nicht spezialisiert war, aber gleichwohl bereits begann, sich mit Studenten und Gönnern zu vernetzen.[54] Zu letzteren zählte der Leipziger Ratsbaumeister und Handelsherr Georg Bose, der Sturm während des Studiums förderte und die Herausgabe des Goldmannschen Traktats anregte und finanzierte. Schließlich ist auf eine Gruppe von Publikationen hinzuweisen, die sich vor allem um Astrologie drehen (Nr. 11). Über die Zulässigkeit und Verträglichkeit dieser nach heutigem Verständnis esoterischen Wissenschaft, die sich erst allmählich von der ›seriösen‹ Astronomie trennte, mit dem christlichen Weltbild führte Sturm eine ausgiebige Debatte mit dem Kieler Medizinprofessor Johann Ludwig Hannemann, wobei Sturm als Gegner, Hannemann als Fürsprecher der Astrologie und anderer so genannter »Wahrsager-Künste« auftrat.[55]
[20]Insgesamt lassen sich thematisch zwei Schwerpunkte in der Sturmschen Diskurs-Matrix identifizieren: einmal die Theologie, wozu im weiteren Sinne auch die Auseinandersetzung um die Wahrsager-Künste gehörte, zum anderen die Wissensgebiete, die Sturm als Professor lehrte und für die er heute noch hauptsächlich bekannt ist, nämlich Architektur, einschließlich des Festungsbaus, Mathematik / Mathesis und Mechanik. Eng verbunden mit diesen Disziplinen war die Astronomie, die Sturm etwa mit Kirch diskutierte. Rein numerisch ist das Verhältnis der beiden primären Themenbereiche annähernd ausgewogen, wie insbesondere die Gradzahl für den Knoten Theologie belegt (vgl. Tabelle 1).
GRADZAHL | |
THEOLOGIE | 59 |
ARCHITEKTUR | 48 |
GELEGENHEITSSCHRIFT | 23 |
MATHEMATIK | 14 |
KRIEGSKUNDE | 13 |
DISSERTATIONEN (PHIL. UND JUR.) | 10 |
PÄDAGOGIK | 9 |
ASTROLOGIE | 6 |
ALCHEMIE | 4 |
ALTERTUMSKUNDE | 4 |
GELDWESEN | 4 |
MECHANIK | 4 |
ASTRONOMIE | 2 |
GEOGRAPHIE | 2 |
MEDIZIN | 2 |
BIOGRAPHIE | 1 |
LYRIK | 1 |
GESAMT | 206 |
Tab. 1: Quantitative Verteilung der Themen in Sturms Netzwerk. [Görmar / Beyer / Münkner 2022]
[21]Was die zeitliche Verteilung der Themenschwerpunkte anbelangt, so lassen sich mehrere Phasen unterscheiden, in denen dieser oder jener Schwerpunkt dominierte (vgl. Abbildung 3). Bereits während des Studiums verband Sturm beispielsweise seine Beschäftigung mit der Theologie mit architektonischen Überlegungen; Zeugnis dieser Engführung ist die 1694 erschienene Schrift Sciagraphia Templi Hierosolymitani.[56] Danach setzte er sich als Professor in Wolfenbüttel und Frankfurt an der Oder bis 1707 hauptsächlich mit Architekturtheorie und Mathesis auseinander, während er ab 1709 verstärkt in theologische Dispute verwickelt wurde, mit einem Höhepunkt um 1714 / 1715, als die bereits erwähnte Abendmahlskontroverse besonders heftig tobte. Einmal mehr ist auch hier bezeichnend, dass die Schrift, mit der Sturm die Kontroverse auslöste, nämlich der Mathematische Beweiß Von dem Heil. Abendmahl, auf sein Lehrgebiet, die Mathematik, rekurrierte. Von 1713 bis zu seinem Todesjahr werden dann wieder zahlreiche architekturtheoretische Schriften bzw. verbesserte Neuauflagen seiner Werke gedruckt – eine schriftstellerische Produktivität, die aufgrund der zunehmenden Freistellung von seinen Verpflichtungen als Baudirektor am Schweriner Hof möglich wurde.
[22]Es stellt sich nun die Frage, wie sich Sturms Diskursnetzwerk zu seiner Privatbibliothek und zu den Ausleihen, die er während seiner Zeit in Wolfenbüttel tätigte, verhält. Schließlich handelt es sich hier im Sinne der Konstellationsforschung um Sturms Denkraum,[57] und damit um sein geistiges Arsenal, mit dem er argumentierte und auf seine Gegner reagierte. Erwartungsgemäß lassen sich auch hier die Theologie und die Fachgebiete, die seiner Tätigkeit als Architekturtheoretiker und Mathematiker entsprachen, als Schwerpunkte identifizieren. Das zeigt sich bereits in der Wortwolke, die LibReTo für Sturms private Bibliothek anbietet (vgl. Abbildung 4).
[23]Die Theologie hat mit 184 Nennungen (bei 525 Buchtiteln) sogar ein noch größeres Gewicht als in Sturms Diskursnetzwerk. Dies wird dadurch unterstrichen, dass möglicherweise Sturm selbst seine Bibliothek grob in zwei Sektionen unterteilt hatte: theologische Bücher, die etwas mehr als ein Drittel ausmachten, und nicht-theologische Bücher.[58] Unter den nicht-theologischen Büchern waren Titel mit thematischen Schwerpunkten in der Geographie (47 Nennungen), Mathematik (45 Nennungen), Architektur und Astronomie (je 32 Nennungen) am zahlreichsten vertreten, also wieder die Disziplinen, die Sturm in seinen Publikationen, aber auch in seiner Lehrtätigkeit in Wolfenbüttel und Frankfurt hauptsächlich berücksichtigte. Unter den kleineren Fachgebieten finden sich auch Bücher zu esoterischen Wissenschaften wie der Chiromantie, Astrologie und Alchemie, die Sturm in seinen Veröffentlichungen aber in der Regel vehement kritisierte.
[24]Ähnliche Verhältnisse lassen sich bei Sturms Ausleihen aus der Wolfenbütteler herzoglichen Bibliothek beobachten.[59] Auch hier machen die Theologica etwa 25 Prozent (98 Titel) aus, folglich liegt die Schlussfolgerung nahe, dass sich Sturm auch in Phasen, in denen er keine theologischen Werke publizierte, mit Theologie und religiösen Problemen auseinandersetzte.[60] Bezüglich der Qualität seiner theologischen Interventionen handelt es sich weniger um gelehrte Dogmatik als vielmehr um die Manifestation seiner persönlichen religiösen Überzeugung, was sich in seiner Hinwendung zum Pietismus und dem oben erwähnten Briefwechsel mit August Hermann Francke zeigt. Abgesehen von theologischem und religiösem Schriftgut finden sich unter Sturms Ausleihen aber natürlich schwerpunktmäßig auch die anderen primären Themenfelder Architektur (72 Titel), Geographie (47 Titel) und Mathematik (45 Titel). Die Astronomie ist mit 30 Titeln ebenfalls gut vertreten, Sturm entlieh etwa Werke von Johannes Kepler und Tycho Brahe.[61]
[25]Grundsätzlich, so kann man schlussfolgern, stimmen Diskursnetzwerk und Denkraum bei Sturm also thematisch überein. Da die auf Basis der Daten gewonnenen Befunde, so erhellend sie sind, für sich genommen aber immer noch recht oberflächlich bleiben, soll im Anschluss exemplarisch eine hermeneutisch-qualitative Exploration von zwei der oben identifizierten Konstellationen erfolgen.
4.2 Qualitative Bewertung
[26]Exemplarisch werden im Folgenden zwei Konstellationen hermeneutisch entfaltet, um zu prüfen, wie sich netzwerkanalytische Quellenexploration und klassische Quellenlektüre und -interpretation komplementieren; und wie erstere den Lektüreprozess fragestellungsorientiert lenken kann.
[27]Im Schaubild des auf Sturm zentrierten Diskursnetzwerkes (vgl. Abbildung 1) steht im unteren Bereich der sekundäre Zentralknoten »Nikolaus Goldmann (1611–1665)«. Über ihm erhebt sich bogenförmig die Fächertrias »Mathematik, Architektur, Kriegskunde«. Der Konnex zwischen Goldmann und den drei Fächern, deren Stellenwert in Abbildung 5 präzisiert wird, ergibt sich aus Goldmanns thematischem Fokus (Architekturtheorie) und der prinzipiellen Katalysatorwirkung seiner Arbeit und Ideen für Sturms Spezialisierung und beruflichen Werdegang zum Professor matheseos publicus: Sturms Edition der Goldmannschen Civil-Baukunst (Erstausgabe 1696, Wolfenbüttel) lässt sich zweifellos an den Beginn seiner Karriere stellen. Uns geht es im Folgenden um Sturms Einsatz auf dem Feld der Architectura militaris. Um 1700 ist er bei den Welfen zwar nicht wie erhofft auch Baudirektor geworden, aber er hat manches erreicht, etwa zwei von den Herzögen geförderte Auslandsreisen unternommen,[62] den Hochaltar der Pfarrkirche St. Benedikti in Quedlinburg entworfen und sich zunehmend mit Militärbaufragen beschäftigt.[63] Was letztere anbetrifft, beginnen ab 1700 einschlägige Traktate zu erscheinen, von denen hier eine frühe Arbeit interessiert, die nicht gedruckt wurde, sondern lediglich als Handschrift vorliegt. An ihr wird ablesbar, mit welcher (auch zeichnerischen) Entwurfskompetenz sich Sturm mit dem Festungsbau auseinandersetzt, diesen für Unterrichts- und Übungszwecke dienstbar macht und durchgängig um ökonomisch vertretbare Pläne bemüht ist.
[28]In der Herzog August Bibliothek befindet sich im Bestand der Extravagantes[64] die Handschrift Leonhard Christoph Sturms kurze Anleitung zum Festungsbau nach dessen Manier, nebst den Rißen, mit auch einer kurzen Anleitung zur Mechanik (undatiert, um 1700).[65] Im Vorbericht annonciert Sturm 13 Risse von Festungsbauten, die im Anschluss auf 10 Tafeln präsentiert werden. Ohne auf die Zehnerserie en detail einzugehen, nur ein Blick auf die »kurtze[n] Maximen welche [...] beÿ allen guten Festungen erfordert«, die Sturm ebenfalls im Vorbericht listet und mit denen er die fortifikatorischen Herausforderungen der Zeit unterstreicht. So postulieren »General Maximen«, dass »ein Ingenieur nicht nur bedacht seÿn muss, eine Festung an sich starck zu machen, sondern auch die Guarnison und Canonen der Festung Vor des Feindes Canonen, Granaten und Bomben wol zu versichern.« Es sei wichtig, ein Festungswerk für den schweren Beschuss mit »Stücken [Geschützen], Musqueten und Haubitzen, Steinen und Cartätschen« vorzubereiten und zugleich an den geordneten Rückzug der Verteidiger zu denken. Bei letzterem würden zahlreiche Hindernisse gute Hilfe leisten. »Special Maximen« resümieren Sturms Credo für einen produktiven und ökonomischen Festungsbau. So solle der Hauptwall »der Bomben und Minen wegen hohl gebauet« sein, was auf den ersten Blick schwer einleuchtet, wenn man an die erforderliche Widerstandskraft der Mauer denkt. Allerdings heißt es weiter, dass massiv mit Erde gefüllte Wälle auf einen Ingenieur hindeuten, »der die heüt zu tage übliche attaque nicht verstehet.«
[29]In der Tat ist Sturms Emphase auf hohle Mauern statt Erdwällen kein Widerspruch. Der zeitgenössische Festungsdiskurs gibt mehrere Beispiele für diese Praxis und den Vorteil hohler Mauern, etwa zur Unterbringung von Geschützen und Garnisonstruppen oder zur besseren Verteidigung gegen Mineure.[66] Wie Sturm sich die Konstruktion vorstellte, zeigen die mit den römischen Ziffern IX, X und XII gekennzeichneten Hohlräume bzw. Kasematten in seinem Profil der Courtine (Hauptwall; vgl. Abbildung 6). Sturms Risse und seine gedruckten Traktate erweisen sich als informierte und engagierte Entwurfsräume für Militärbauten, die den State of the Art der zeitgenössischen Fortifikationskunst spiegeln.[67]
[30]Die Handschrift hat zugleich Übungscharakter, wenn man an die adligen Akademisten an der Wolfenbütteler Ritterschule denkt, denen neben der Mathematik »beyde Architecturen« beizubringen sind. Für die Funktion der Handschrift als Unterrichtsmittel spricht, dass Sturm ganz am Ende des Vorberichts auch eine Liste der »besten Auctores« erstellt, »so von der Fortification geschrieben«; ferner die Wissenschaften aufzählt, die »ein guter Ingenieur verstehen muss«. Die folgenden Namen gehören Sturms Meinung nach zu den bedeutenden Papier-Ingenieuren, allen voran Daniel Specklin (1536–1589), auf dessen berühmte Architectura von Vestungen (1589) sich viele Autoren beziehen, gefolgt von Sturms persönlichem Favoriten, Georg Rimpler (auch Rümpler, um 1635–1683), der durch seinen Einsatz zur Verstärkung Wiens während der Zweiten Wiener Türkenbelagerung bekannt wurde.[68] Im ausgiebigen Streit um die beste Manier wird Sturm in seiner 1704 veröffentlichten Schrift Entdeckung der Unstreitig allerbesten Manier zu Befestigen, Aus Herrn George Rimplers, […] Befestigter Festung heraus gezogen (Frankfurt / Oder) mit Nachdruck für Rimpler die Lanze brechen und werben. Zu den weiteren einschlägigen Namen des Faches gehören Johann Jacob Werdmüller (auch Werthmüller, 1649–1693), Menno Baron van Coehoorn (1641–1704) und François Blondel (1618–1686), zu den eher unbekannten Ernst Friedrich von Borgsdorff (gestorben nach 1715), Johann Bernhard Scheither (gestorben 1677) und Donato Rossetti (1633–1688).[69] Wer diese Autoren und ihre Hauptwerke kenne, so Sturm, »wer fleißig liset und wohl verstehet, kan aller übrigen ohne schaden entbehren.« Mit dieser Lektüresondierung wird den jungen Adligen eine pragmatische Orientierungshilfe im Autoren-, Manieren- und Debattenfeld des Festungsbaus geboten, das um 1700 nur noch sehr schwer zu überblicken ist. Die prononcierte Didaxe des Manuskripts wird des Weiteren darin deutlich, dass Sturm all jene Wissenschaften expliziert, die »ein guter Ingenieur […] verstehen muss: Nebst der Fortification selbst, Arithmeticam, Geometriam, Mechanicam, die Zeichen Kunst, das Zimmern, das Steinhauen, item Architecturam civilem und Pyrobolicum [=die Feuerwerkskunde].« Da viele Ingenieure diesen Leistungskatalog nicht erfüllen, sich aber trotzdem an große Werke wagen und »importante Festungen zu bauen sich erkühnen«, geschehe es, dass »ihre Werke gemeiniglich der fürstlichen Cassa, ja Land und Leuten zu großen Schaden ausschlagen.« Genau das, die Schatulle der Herzöge nicht zu überlasten, hatte für Sturm aber große Bedeutung. Schließlich erweist sich die Schrift insofern als Übungsstück, weil Sturm mit ihr sein argumentatives und gestalterisch-zeichnerisches Können trainiert und seine militärarchitektonischen Traktate ab 1700 vorzubereiten scheint.[70]
[31]Die zweite Konstellation, die sich im Rückgriff auf die Briefkorrespondenz zwischen Sturm und August Hermann Francke entfalten lässt, betrifft den durch den Zentralknoten »Francke« verklammerten Nexus von »Geldwesen, Pädagogik und Medizin« (vgl. Abbildung 2) einerseits und »Theologie« (vgl. Abbildung 7) andererseits. Sturm hatte sich seit seinen Studientagen in Altdorf und Leipzig der pietistischen Idee angenähert, wahrscheinlich suchte er von Wolfenbüttel aus den Kontakt zu dem Hallenser Waisenhausgründer, Schulmann und Protagonisten des Pietismus. Die erste erhaltene Korrespondenz mit Francke datiert vom 13. Juni 1701, Sturm schreibt:
[32]»Nachdem ich herzlich gewünschet mit m[einem] h[ochgeehrten] H[errn] Doktor bekant zu werden und bereits lange Zeit nach gelegenheit dazu getrachtet, hat mir die selbe H[err] Legations Rath Alexander dazu gegeben, als er mir zu verstehen gegeben, wie m[ein] h[ochgeehrter] D[octor] Verlangen trüge, daß ich mit meinen wenigen anschlägen zu der Holtzspahrung in dessen Gott zu Ehren und grossen gefallen errichteten Waÿsenhause einigen beÿtrag thun mögte.«[71]
[33]Da sich Franckes Briefe nicht erhalten haben, kennen wir dessen Antworten nicht. Geplant war jedenfalls, dass Sturm im Sommer 1701 über Halle zu seinen Eltern nach Altdorf reisen würde, wie aus demselben Brief hervorgeht. In Halle wollte es Sturm nicht versäumen, Francke seine »dienste anzutragen, und […] einen freund nach den alten regeln des wahren Christenthums abzugeben in hoffnung Sie [=Francke] werden mich so dann in Dero werteste Freundschaft aufzunehmen kein bedenken tragen.« Solche persönlichen Besuche und formalisierten Bitten um Aufnahme »in Dero wertheste Freundschaft« zählten zu den üblichen Verflechtungspraktiken, die die res publica litteraria ebenso wie Sturms persönliches Netzwerk zusammenhielten.[72] Zu den Gepflogenheiten der Gelehrtenkultur gehörte auch, dass Sturm die Hochachtung zum Ausdruck brachte, die er aus Franckes »Christlichen Schrifften gegen den selben geschöpfet und bißhieher aufrichtig behalten habe.« Allerdings dient diese durchaus ehrlich gemeinte ›Lobhudelei‹ nicht nur dazu, Franckes Wohlwollen und Freundschaft zu erwerben, sondern auch Informationen über mögliche Karriereoptionen zu gewinnen. Schließlich nutzt Sturm die Gelegenheit und fragt Francke, ob der etwas von einer vakanten Professur für Mathematik in Halle wisse. Vor drei Tagen habe ihn, Sturm, Bartholomäus Meier[73] »mit seiner ganz unvermutheten Besuchung geehret und Erfreyet […] mit confidenten Vermelden, daß er von H[errn] gen[eral] Superint[endenten] und Doct[or] Vischer aus Halle in commissis habe sich zu erkundigen, ob ich wohl gesonnen wäre, hiesige professionem matheseos mit der zu Halle zu vertauschen.« Ja, dafür interessiere er sich, bitte aber um nähere Informationen: »Weil ich nun außer diesem keine weiteren particularia von demselben erfahren können, habe ich meinen H[och] g[eehrten] H[errn] Doct[or] hiermit dienstlich und im Vertrauen ersuchen wollen, was hiervon etwa wissend sein mögte, mir weiter zu eröffnen.« Vor allem würde er den Umzug gern deshalb unternehmen, weil er in Halle und durch die räumliche Nähe zu Francke und seinen Mitstreitern die Gelegenheit bekäme, »über die wahre Theologie und Auslegung der heil. Schrift mehr conversation zu haben.« Andernfalls sei ihm
[34]»bereits die Professio Mathematum zu Frankfurth an der Oder angetragen worden, und möchte ich wohl genötiget werden, bald darauf eine endliche Resolution von mir zu geben. Wäre es nun an dem, daß meine wenige Dienste in Halle verlanget würden, und mir eine sichere besoldung könnte gemachet werden (die ich höchst nöthig habe zu meinem unterhalt, weil ich nichts gesammlet habe, auch inskünftig nicht groß zu sammeln geflissen seÿn werde, damit ich es mit auszahlung der besoldung auf die lange bank könte verziehen lassen) so bekenne ich mehr neigung zu diesem als zu dem erstern orthe zu haben. Wiewohl ich ganz ruhig Gottes schickung abwarten will […].«
[35]Wolfenbüttel sei indessen nicht schlecht, denn immerhin »biete es eine schöne Besoldung, vergnügliches Auskommen und eine gnädige Herrschaft«; jedoch sei es schwer, hier den »Mangel Gottgefälliger gesellschaft und Zeitverkürzung in der conversation« zu ertragen. Diese Details und die Intentionen, die Sturms Handlungen als Netzwerkakteur bedingten, lassen sich aus den oben analysierten Daten und Netzwerkgraphen nicht ableiten. Sie lassen sich nur durch ein close reading der Quellen ermitteln, informieren aber die auf Personen, Dokumente und Sachinhalte fokussierte Netzwerkanalyse auf entscheidende Weise. Sie erlauben es, die agency der Netzwerkknoten näher zu bestimmen und die Makrostruktur der Verflechtungen mit der Mikrostruktur konkreter Handlungszusammenhänge zu verknüpfen.
[36]Dies bestätigt sich auch, wenn wir die Korrespondenz zwischen Sturm und Francke weiter verfolgen. Sie dauert in den Folgejahren an, jedoch fehlen ab der zweiten Jahreshälfte 1702 Schreiben und es ergibt sich eine große Lücke bis 1709. Am 1. Juli 1709 bedankt sich Sturm, mittlerweile Professor in Frankfurt an der Oder, bei Francke für die Vermittlung des Informators (Lehrer) für seine Kinder, mit dem er vollauf zufrieden sei. Vier Monate später, am 22. November 1709, übersendet er einen Traktat religiösen Inhalts nach Halle und bittet um eine Beurteilung:
[37]»Ich nehme mir die freÿheit dem selben hiebeÿ die primitias [=den ersten Versuch] meiner Erklährung von dem allein guten Weg zum wahren Christenthum zuzuschicken und mir eine geneigte, aber freÿmüthige censur darüber auszubitten. […] Ich kan aber wohl versichern, daß meine begierde überaus groß ist einigen sensum pietatis in hiesige statt [=Frankfurt an der Oder] zu bringen, hingegen der widerstand noch viel größer sich bezeiget, nichts gutes hereinzulassen, daß nicht nur allein jedermann sich fleißig hütet hhlln. [=hochlöblichen] Speners, Franckens, Schadens, Freÿlinghausen u.d.gl. bücher ja nicht zu lesen, sondern auch die Buchführer [=Buchhändler] dieselben ja nicht an sich zu handeln noch einzuführen. Darum habe vor der hand [=einstweilen] kein besser mittel gefunden, als mit dergleichen Schrifft, die einen titul von der Sache führet [=unklar, um welche Schrift genau es sich hier handelt], davon itzt so viel redens und Deliberirens ist, die hier gantz unbekannte, obschon sonst im Christenthum zu vorderste stehende Vermahnung zur wahren Buße ein wenig unter die Leuthe zu bringen.«[74]
[38]Wieder fehlt das Antwortschreiben Franckes, es ist aber davon auszugehen, dass dieser angesichts der zunehmenden Radikalität Sturms in kirchlichen Belangen mehr und mehr Zurückhaltung wahrte. Hatte er anfangs Sturms Frömmigkeit gelobt und ihn zu weiterer Beschäftigung mit Glaubensfragen ermuntert, wollte er das jetzt verhindern: Francke hatte genug zu tun, seinen Pietismus, den die lutherischen Orthodoxen wie die Calvinisten anfeindeten, zu verteidigen. Der die tonangebenden Lutheraner wie die Reformierten provozierende Sturm kam ihm da mehr als ungelegen.[75] Dieser Wandel der Haltung Franckes gegenüber Sturm wird sich aufgrund der fehlenden Schreiben des Hallensers nicht expressis verbis , dafür aber durch eine weitstrahlige Quellenlektüre nachvollziehen lassen, die Stimmen von beteiligten Zeitgenossen zum Konflikt ausfindig machen kann. Denn während die Dynamik im Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Gelehrten in den statischen Netzwerkvisualisierungen nur ansatzweise deutlich wird, allerdings in keiner Weise die Stimmungsvarianz nachgezeichnet wird, kann die qualitative Analyse der Quellen diese Dynamik auch als Geschichte des Wandels einer persönlichen Beziehung andeuten.
5. Fazit
[39]Am Ende unserer Ausführungen steht also die Bekräftigung unserer Eingangsthese, dass es zielführend und wechselseitig befruchtend ist, digital-datengetriebene und analog-hermeneutische Methoden miteinander zu verschränken. Sturm tritt auf diese Weise als ein Mitglied der Gelehrtenrepublik um 1700 hervor, der typisch und atypisch gleichermaßen ist. In seiner Person vereinen sich Talent, Fleiß, Gottesfurcht und Hilfsbereitschaft gepaart mit streitlustiger Wahrheitsliebe und einem Hang zur Rechthaberei. Während Sturm als Mathematikprofessor und Baudirektor ca. 25 Jahre in verschiedenen Anstellungen stand, konnte er als Architekturtheoretiker nur wenige Projekte baupraktisch umsetzen. Seine Ideen und Entwürfe im Bereich der zivilen, vor allem auch der sakralen Baukunst (protestantischer Kirchenbau) machten ihn bekannt. Hinzu kommt sein Einsatz auf dem Gebiet des Militärbaus. Schließlich überrascht der Mann als theologischer Laie, der sich mit starken Überzeugungen, gleichwohl profundem weil studiertem Sachverstand und einem Diskussionsfuror in die entsprechenden Debatten seiner Zeit einmischte. Man kann Sturms Wesen und seine Art, sich in verschiedenste Debatten und Diskurse einzuschalten, als quecksilbrig beschreiben. Dies tritt sowohl bei der Analyse seines Netzwerkes wie auch bei der hermeneutischen Aufarbeitung engerer Unterkonstellationen hervor. Allerdings dürfte dem Vielschreiber Sturm die mediale Brechung durch die Gattungen Traktat und Brief bewusst gewesen sein, so dass sich sein Ausdrucksgebaren auch als Resultat eines self-fashioning begreifen lässt. Was Sturms ambivalentes Verhältnis zur Kirche, insbesondere im Zusammenhang mit dem Pietismus anbetrifft, dem er sich in der Person Franckes so enthusiastisch anzudienen versuchte, sei abschließend seine erste Biographin Isolde Küster zitiert, die resümiert: »Der heftige Mann, der jede Möglichkeit zu einem Zusammenstoß wahrnahm, jeden Fedehandschuh [sic] aufgriff, hat wohl keinen idealen Pietisten abgegeben.«[76]
[40]Im Rahmen unseres Vorhabens, den Wissenshorizont zu kartieren, vor dem sich Sturm bildet, vor dem er seine intellektuellen Anregungen empfängt und seinerseits Impulse gibt, haben wir in diesem Beitrag einen experimentellen Zugang gewählt. Sturm bot sich hierfür als geradezu idealer Testfall an. Weit davon entfernt, einer der ganz großen Gelehrten vom Schlage eines Leibniz oder Francke zu sein, sind seine Person und sein Agieren in der res publica litteraria dennoch interessant genug und einer eigenen Untersuchung wert. Wichtiger aber ist, dass sein epistolärer und publizistischer Output, die Quellen zu seinem Buchbesitz und Leseverhalten quantitativ und qualitativ aussagekräftig genug sind, ohne eine begrenzte Analyse zu überfordern.[77] Die Daten, die zu Sturm vorliegen, eignen sich damit gut für ein methodologisches Experiment, wie wir es vorgeführt haben. Ein wesentliches Bestreben war es, gerade nicht die Korrespondenz Sturms zu priorisieren und dadurch womöglich sein soziales Netzwerk in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr sollte durch die Beachtung des heterogenen Quellenfundus / -bestands, der für Sturm greifbar ist, und in Anlehnung an die ideengeschichtliche Konstellationsforschung ein multimodales Netzwerk zutage treten, das sich als Matrix der Gelehrsamkeit verstehen lässt, in der Sturm stand und agierte. In dieser Perspektive sind auch allgemeinere Strukturen und Praktiken innerhalb der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik hervorgetreten: Korrespondenzen, persönliche Besuche, Buchpublikationen und Zeitschriften. Durch das Netzwerk-Perspektiv erscheinen diese unterschiedlichen Aspekte nicht isoliert, sondern gleichsam in synoptischer Gleichzeitigkeit und Interaktion. Die res publica litteraria als community of practice gewinnt dadurch an Kontur.[78]
[41]Das Ergebnis zeigt, dass die digitale Netzwerkanalyse prima vista unübersichtliche Datenkonfigurationen erstellt. Werden diese aber fragestellungsbezogen sondiert, zeigen sich Konstellationen unterschiedlicher Prominenz. Diese immer noch nur unter quantitativer Perspektive fassbaren Knoten und Kanten sind in einem anschließenden selektiven Lektüreprozess hermeneutisch zu bewerten und semantisch zum Sprechen zu bringen. Entsprechend halten wir die quantitative Datenerhebung im netzwerkanalytischen Erstzugriff für sehr wohl geeignet, einer Hypothesenbildung Raum und Nahrung zu geben und Suchrichtungen vorzuschlagen, die das close reading der Quellen lenken. Digitale Datenanalyse und Hermeneutik, als methodischer Kern der Geisteswissenschaften, stehen also keineswegs im Gegensatz zueinander, sondern können, ja sollten sich gegenseitig ergänzen, informieren und nicht zuletzt auch kritisieren.