Abstract
Handschriftlich überlieferte Rezepte sind unfeste Texte ohne Werkcharakter und wurden Großteiles in anonymen, häufig thematisch sortierten, Sammlungen tradiert. Der Beitrag stellt neue Methoden und Begriffe zur Erforschung der Überlieferungsgeschichte einzelner Rezepte und Rezeptsammlungen am Beispiel der kunsttechnologischen und Kochrezepte der frühneuhochdeutschen Handschrift Cod. germ. 1 der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg vor. Wesentlich für die Visualisierung des Rezept-Überlieferungsnetzes als Graph ist die im Vergleich zur älteren Forschung veränderte Datenstruktur. Hierbei werden die in den Handschriften materialisierten und von den Datenbanken erfassten Textereignisse imaginären Texten in potentia zugeordnet, was eine Reduzierung der Entitäten im Netzwerk und eine größere Übersichtlichkeit zulässt.- 1. Rezeptdatenbanken als Voraussetzung einer Überlieferungsgeschichte einzelner handschriftlich tradierter Rezepte
- 2. Kunsttechnologische Rezepte in den Datenbanken Colour Context und Artechne
- 3. Mittelalterliche Kochrezeptüberlieferung: Forschungsstand und Darstellungsformen
- 3.1 Kochrezepte im Medieval Plant Survey und in CoReMA
- 4. Die Kochrezeptsammlung Ha1-I des Cod. germ. 1 der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg
- 5. Überlieferungsparallelen zu den Kochrezepten der Sammlung Ha1-I
- 6. Datenspeicherung und Datenvisualisierung
- 7. Möglichkeiten der halbautomatischen Identifizierung von Rezepttexten in potentia
- 7.1 Halbautomatische Lemmatisierung und Alignierung von Textvarianten
- 7.2 Visualisierung der Rezepttextereignisse und ihrer Zutaten als Graph
- 8. Anforderungen an Rezeptdatenbanken
- Forschungsdaten
- Liste der Handschriften
- Bibliographische Angaben
- Verzeichnis der Webseiten
- Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1. Rezeptdatenbanken als Voraussetzung einer Überlieferungsgeschichte
einzelner handschriftlich tradierter Rezepte
[1]Das Rezept ist eine der wichtigsten Textsorten der historischen Wissens- und Gebrauchsliteratur und konnte in den unterschiedlichsten Wissensgebieten eingesetzt werden.[1] Rezepte »beschreiben, wie man ein bestimmtes Produkt herstellt oder eine bestimmte Handlung vollzieht«[2] und vermitteln dadurch medizinisches Wissen ebenso wie kulinarisches, landwirtschaftliches, kunsttechnologisch-handwerkliches, kriegstechnisches, magisches oder etwa unterhaltsames Wissen über Illusionstricks und Scherze.[3] Trotz ihrer Popularität wissen wir jedoch kaum etwas über die Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen von Rezepten.
[2]Will man die Überlieferung einzelner mittelalterlicher Rezepte nachverfolgen, stößt man schnell auf praktische Probleme. Rezepte sind nicht werkförmig. Sie haben keinen Titel und nur in den seltensten Fällen eine Autor*innenzuschreibung.[4] Ihre sprachliche Form ist zudem nicht durch Metrum und Reim gebunden. Handschriftlich überlieferte Rezepte sind unfeste Texte. Sie wurden häufig übersetzt und auch innerhalb der deutschen Sprache regelmäßig dialektal angepasst. Überschriften und Einleitungsformeln können von Textzeuge zu Textzeuge hinzutreten oder weggelassen werden, ebenso die Beschreibungen einzelner Verarbeitungsschritte. Mehrere Rezepte können zu einem einzigen kompiliert werden und aus einem einzelnen Rezept können durch kleine Variationen mehrere neue Rezepte entstehen. Rezepttexte können auch aus größeren Texten (Kräuterbüchern, Regimina Sanitatis, Wunderdrogentraktaten etc.) herausgelöst, abgeleitet oder von diesen beeinflusst werden.[5] Auf der anderen Seite funktionieren Rezeptsammlungen als text oder discourse colonies, das heißt wie Insektenstaaten, deren Funktionieren als Ganzes nicht von der Position oder Existenz einzelner Mitglieder abhängig ist.[6] In Rezeptsammlungen, selbst solche die über Autorennamen und Rahmentexte zusammengehalten werden, können deshalb recht beliebig Einzelrezepte neu positioniert, neu aufgenommen oder weggelassen werden.
[3]Die Texte widersetzen sich somit einem einfachen Vergleich. In welchem Umfang die beschriebenen Textveränderungen während der Überlieferung stattfinden, lässt sich bislang nicht messen. Die größte Herausforderung bei der Rekonstruktion der Überlieferung einzelner Rezepte ist die beschriebene Variabilität der Rezepttexte. Im Umgang mit dieser ist ein präziser Sprachgebrauch notwendig: In den Handschriften begegnen uns nur die konkreten materiellen Realisationen von Texten, die ich als ›Textereignisse‹ bezeichne. Von diesen Textereignissen müssen wir den ideellen Text, den ›Text in potentia‹ abstrahieren, dessen Überlieferung wir durch Zeit und Raum in verschiedenen Handschriften nachverfolgen möchten.[7]
[4]Ein zweites Problem ist die schiere Masse an überlieferten Texten und Textereignissen. Ein klassischer und etablierter Weg zur Erfassung anonymer Texte ohne Titel, wäre das Anlegen von Initienregistern, wie es in den DFG Richtlinien Handschriftenkatalogisierung vorgesehen wird.[8] Anders als andere Kleintexte wie Gebete oder Lieder werden Rezepte in Handschriftenbeschreibungen aber in der Regel nicht einzeln erfasst, weil die Textmenge dies aus zeitökonomischen Gründen nicht zulässt. Es gibt dementsprechend auch keine Kataloge der Rezept-Initien, wie sie uns für die lateinischen Lieder[9] und Sprichworte[10] oder die naturwissenschaftlichen Schriften[11] schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts vorliegen.[12]
[5]Da keine Register von Rezepten zur Verfügung stehen, ist man auf Rezepttranskriptionen und -editionen angewiesen. Diese basieren meist auf einzelnen Handschriften bzw. Textereignissen und sind bislang verstreut erschienen. Valide Aussagen zur Überlieferung einzelner ›Rezepte in potentia‹ kann man nur dann treffen, wenn eine möglichst große Anzahl Rezeptsammlungen mit ihren Textereignissen transkribiert wurden. Dies ist bei den deutschsprachigen mittelalterlichen Rezepten nur für einzelne Rezeptgruppen der Fall. Erst wenn die Transkriptionen als maschinenlesbare Texte in Datenbanken zusammengeführt werden, besteht die Möglichkeit einer praktikablen Suche nach Parallelüberlieferungen einzelner Rezepttexte. Da die verschiedenen Textereignisse eines Textes in potentia jedoch auch in der entmaterialisierten Form einer Transkription in ein System diskreter Zeichen (Unicode) noch in den meisten Fällen voneinander abweichen, reicht dazu allerdings – besonders im kaum standardisierten Mittel- und Frühneuhochdeutsch – eine simple Volltextsuche nicht aus. Erst wenn die Transkriptionen wenigstens teilweise mit einem kontrollierten Vokabular lemmatisiert wurden, etwa durch Stichworte zu den Zutaten, Werkzeugen, Produkten und Verfahrensweisen der beschriebenen Praktiken, lassen sich Parallelüberlieferungen aufspüren.
[6]Im Bereich der deutschen Literatur des Mittelalters sind zurzeit zwei Rezeptkorpora in Datenbanken verfügbar, die diese Ansprüche zumindest weitgehend erfüllen: Kunsttechnologische Rezepte und Kochrezepte.
2. Kunsttechnologische Rezepte in den Datenbanken Colour
Context und Artechne
[7]Silvie Neven und Sven Dupré haben von 2011 bis 2015 am Berliner Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte die Datenbank COLOUR CONTEXT. A Database on Colour Practice and Knowledge aufgebaut.[13] Diese Datenbank versammelt nach eigenen Angaben über 6.500 kunsttechnologische Rezepte aus 600 mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften,[14] darunter auch eine große Zahl deutschsprachiger Texte. Die genaue Anzahl deutscher Texte konnte ich allerdings nicht ermitteln. Die Datenbank ist leider nie vollständig fertiggestellt worden. Es fehlen dabei nicht nur grundlegende Suchfunktionen, wie die nach allen Rezepten oder Handschriften einer Sprache, sondern auch ein Impressum[15] oder Angaben zur Datenstruktur und zur Projektlaufzeit. Das letzte (und einzige) verzeichnete Update verweist auf den Januar 2015.[16] Eine Nachnutzung der Daten ist kaum möglich, es fehlen Exportfunktionen und eine freie Lizenzierung.[17] Die Datensätze sind zudem nicht vollständig. Von vielen Rezepten wurde nur die Transkription aufgenommen, die Verschlagwortung über das Glossar steht noch aus.[18]
[8]Die Daten der Colour Context-Datenbank wurden mittlerweile in die sich noch im Aufbau befindliche Artechne-Database[19] integriert, die darüber hinaus weitere frühneuzeitliche Quellen erschließen möchte. Dadurch sind die Daten jetzt auch in einer Creative Commons BY-SA Lizenz nachnutzbar.[20] Die Probleme der Datenstruktur (uneinheitlicher Erschließungsgrad: Transkriptionen, Bilder, Inhaltsstichworte nicht zu allen Einträgen vorhanden) und des Datenzugangs (fehlender Überblick, Suchoptionen) bestehen aber weiterhin.
[9]Die Colour Context-Datenbank hatte ich 2015–2018 genutzt, um nach Parallelüberlieferungen zu den Farb- und Tintenrezepten der Handschrift Cod. germ. 1 der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg zu suchen. Die Ergebnisse habe ich 2018 in der Online-Zeitschrift Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte veröffentlicht.[21] Die Sammlung des Cod. germ. 1 umfasst 41 Rezepte. Durch Schlagwortsuche nach Zutaten und Produkten in der Colour Context-Datenbank, konnte ich nur zu drei dieser Rezepte (Nr. 14, Nr. 15, Nr. 21) korrespondierende Textereignisse in anderen Handschriften finden. Eine zusätzliche Parallele zu einem weiteren Rezept (Nr. 2) habe ich eher zufällig in einer in der Datenbank nicht erfassten Handschrift gefunden, die ich im Rahmen einer anderen Untersuchung beschrieben habe.[22] Die Ergebnisse der Suche nach Überlieferungsparallelen in der Datenbank sind daher sicher nicht repräsentativ und statistisch irrelevant, aber zu einzelnen Texten konnten durchaus aussagekräftige Ergebnisse gewonnen werden. So wurde etwa deutlich, dass die zwei Rezepte zur Herstellung von Gummiwasser (Nr. 14 und Nr. 15), von denen das zweite auf das erste verweist, schon in einer (nicht identifizierten) lateinischen Vorlage zusammen überliefert wurden und über eine lateinisch-deutsche Mischsprachenversion in die Hamburger Handschrift gelangt sind. Weitere Handschriften überliefern unabhängige Übersetzungen desselben lateinischen Rezepts. Bei einem solch komplexen Überlieferungsbefund bietet sich – wie hier zu Rezept Nr. 14[23] – ein Stemma zur Visualisierung an:
Sigle | Textereignis | Incipit |
Ha | Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. germ. 1, fol. 71vb | Jtem wiltu machen ein wasser damit man all varwen temperirt, zeschriben vnd zefloryren vnd zemaulen vsß der veder oder mit dem bensel |
Mü1 | München, Staatsbibliothek, Clm 20174, fol. 173v‒174r | Alia aqua ad temperandum omnes colores. ad scribendum florizandum depingendum ex penna. oder mit dem bemsel |
Mü2 | München, Staatsbibliothek, Cgm 821, fol. 128v | Wildw machen ain wasser damit Man all varb sol temperieren |
St | Straßburg, Seminarbibl., Cod. A. VI. 19 [verbrannt] | Wilt du machen zwei edli guti wasser do mit man alle varwen schön und fin temperieren mag |
Tr | Trier, StB, Hs. 1957/1491 8°, fol. 12r | Wiltu eyn wasser machen da mit man alle varben temperieren sal nach lampertschen sietten dat die farue stait vur ewich bliuet |
Ba | Bamberg, SB, Msc. Theol. 225, fol. 201v | Item wy man dy wasser soll machen, do mit man alle farb temperiren sall, daß sy feyn werden vnd glantz zw allen schreyben vnd floriren vnd als ez nach stet etc. |
Tab. 1: Überlieferung des Rezept Nr. 14 der Farb- und Tintenrezeptsammlung aus Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. germ. 1. [Heiles 2022]
[10]Die Incipits in der angegebenen Siglenliste (Tabelle 1) zeigen, dass man solche Parallelübersetzungen eines lateinischen Rezepts nicht über Incipits identifizieren kann. Hier ist die Suche nach inhaltlichen Übereinstimmungen der Rezepte der einzige mögliche Weg und diesen sollte man möglichst weitgehend automatisieren. Wie dies geschehen könnte, soll in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen deutschen Kochrezeptüberlieferung betrachtet werden.
3. Mittelalterliche Kochrezeptüberlieferung: Forschungsstand und
Darstellungsformen
[11]Die deutschsprachigen Kochrezepte des Mittelalters sind Teil einer schriftlichen Kultur. Die Rezepte sind keine unreflektierten Verschriftlichungen mündlicher Kochanleitungen, sondern als Schrifttexte konzipiert, die auch Informationen aus anderen Texten, etwa zu Diätetik, aufnehmen.[24] Viele Kochrezepte in potentia finden sich nicht nur in einer Kochrezeptesammlung, oder einem Kochbuch, sondern in mehreren. Dabei wurden aber nur selten ganze Sammlungen abgeschrieben,[25] sondern die jeweiligen Sammlungen wurden individuell zusammengestellt. Die einzelnen deutschsprachigen Sammlungen sind dennoch in der absoluten Mehrzahl über ihren Rezeptbestand untereinander oder mit fremdsprachigen Sammlungen[26] verbunden. Diesen Verbindungen spürt die Forschung schon seit den 1930er Jahren nach.[27] Seit den Arbeiten von Trude Ehlert in den 1990er und 2000er Jahren gehören die Angaben zur Parallelüberlieferung der Kochrezepte zum festen Bestand der Kochbuch-Editionen.[28] Dennoch ist bislang unklar, auf welche Weise es zu der großen Varianz im Textbestand der Kochrezeptsammlungen gekommen ist: Fehlen uns sehr viele schriftliche Zwischenstufen, oder spielen mündliche Überlieferungsschritte eine wesentlich größere Rolle als von der älteren Forschung angenommen?[29]
[12]Methodisch begrenzt war die Untersuchung der Parallelüberlieferung lange Zeit zum einen durch die Menge der zur Verfügung stehenden Daten, das heißt die Anzahl der Editionen und deren Erschließung durch Glossare und Indices, sowie zum anderen durch die Art der Datenspeicherung und Datenvisualisierung. Wie oben bereits angemerkt, lässt sich in gedruckten Ausgaben nur eingeschränkt und zeitaufwendig suchen. Darüber hinaus war man aber für die Datenspeicherung und -visualisierung auch auf Formate angewiesen, die gedruckt werden konnten. Parallelüberlieferungen hat man daher in den Stellenkommentaren der Editionen vermerkt,[30] in Listen wiedergegeben,[31] oder in Tabellen dargelegt.[32] Wie unübersichtlich das bei größeren Datenmengen werden kann, zeigen Ausschnitte aus den Arbeiten Ehlerts (Abbildung 2) und ihrer Schülerin Honold (Abbildung 3) auf den ersten Blick. Listen und Tabellen sind geeignet, den Zusammenhang der Überlieferung einer kleinen Anzahl von Sammlungen darzustellen,[33] ein Gesamtbild der Überlieferung können sie aber nicht zeigen. Diese Darstellungsformen machen zwar die »überlieferungsgeschichtliche Vernetzung der spätmittelalterlichen Kochrezepthandschriften«[34] an sich sichtbar, die Gestalt des Überlieferungsnetzes selbst und seine Strukturen lassen sich so aber nicht erkennen.
[13]Trotz der Probleme in der Darstellung ist es Ehlert und Honold gelungen, größere »Überlieferungsstränge«,[35] »Rezeptfamilien«[36] oder »Textkorpora«[37] zu differenzieren. Das Erste bairische Textkorpus, das Zweite bairische Textkorpus, das Dritte bairische Textkorpus und das Vierte, schwäbisch-alemannische Textkorpus sind nicht vollständig getrennt, sondern teilen einzelne Rezepte bzw. Rezeptgruppen. Honold unterscheidet weiter »Streuüberlieferung mit Parallelüberlieferung«, »Streuüberlieferung ohne Parallelüberlieferung« sowie »Sondertraditionen«.[38] Honold hat dabei insgesamt 57 Rezeptsammlungen (und damit fast alle heute bekannten spätmittelalterlichen Sammlungen) ausgewertet und diesen Gruppen zugeordnet. In den Einzeldaten sind Honolds Ergebnisse jedoch nicht präzise. Sie verzeichnet häufig Rezepttextereignisse verschiedener Handschriften als Parallelüberlieferungen, deren Gegenstände sich zwar ähneln, die jedoch (zumindest im Deutschen) textgeschichtlich nicht voneinander abhängig sind.[39] Honolds umfangreiche Daten können deshalb nicht als Grundlage für eine (methodisch) neue Analyse genutzt werden und ihre Ergebnisse sind nur unter Vorbehalt zu betrachten.
3.1 Kochrezepte im Medieval Plant Survey und in
CoReMA
[14]Helmut Klug hat in seinem von 2009 bis 2015 aufgebauten Medieval Plant Survey (Portal der Pflanzen des Mittelalters) (MPS) auch ein Korpus der mittelalterlichen Kochrezepttexte aufgenommen.[40] Dieses enthält ca. 3.000 Rezepttexte aus 36 vor 1500 entstandenen handschriftlichen deutschsprachigen Rezeptsammlungen und damit ca. 3/5 der mittelalterlichen Überlieferung.[41] Die Zutaten der verzeichneten Kochrezepte wurden im Medieval Plant Survey vollständig – wenn auch nicht immer in einer konsistenten Terminologie[42] – verschlagwortet, sodass eine Suche nach Rezeptparallelen leicht möglich ist. Im Gegensatz zur Colour Context-Datenbank bietet das MPS auch alle relevanten Metadaten sowohl zur Datenbank selbst, als auch zu den einzelnen Datensätzen. Allerdings sind die Rezeptvolltexte sowie die Suche in diesen aus rechtlichen Gründen erst nach einer (kostenlosen) Anmeldung zugänglich.
[15]In dem von Klug gemeinsam mit Bruno Laurioux geleiteten französisch-österreichischen Projekt CoReMA – Cooking Recipes of the Middle Ages: Corpus, Analysis, Visualisation[43] entsteht zurzeit eine Nachfolgedatenbank, die die benannten Probleme beseitigt und alle 60 bekannten in Handschriften vor 1500 überlieferten deutschsprachige Rezeptsammlungen mit ihren ca. 5.000 Rezepten enthalten soll. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels im Juli 2020 waren in der Datenbank des Projekts erst Transkriptionen von drei Rezeptsammlungen veröffentlicht.[44] Mit der seit 2020 frei verfügbaren Rezeptdatenbank des Zentrums für Gastrosophie[45] ist im Bereich der Kochrezepte zudem eine weitere Datenbank hinzugetreten, die vor allem frühneuzeitliche Kochbücher erschließt.
[16]Dieser Artikel versteht sich auch als Anregung für die von CoReMA vorgesehenen Visualisierungen und Analyse-Tools und möchte Anforderungen formulieren, die sich aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive ergeben.
4. Die Kochrezeptsammlung Ha1-I des Cod. germ. 1 der Staats- und
Universitätsbibliothek Hamburg
[17]Das Korpus der mittelalterlichen Kochrezepttexte des MPS habe ich genutzt, um nach Parallelüberlieferungen zu den Kochrezepten auf fol. 65ra–69va des Hamburger Cod. germ. 1[46] zu suchen, aus dem auch die oben genannten Farb- und Tintenrezepte stammen. Die 32 Kochrezepte dieser Sammlung werden in einer eigenen Edition erstmals wiedergegeben. Die in der Mitte des 15. Jahrhunderts im schwäbischen Sprachraum entstandene Handschrift habe ich bereits im erwähnten Beitrag zu den kunsttechnologischen Rezepten kurz beschrieben.[47] Seitdem sind auch die Ergebnisse der materialwissenschaftlichen Untersuchung (Röntgenfluoreszenzspektroskopie, Mikroskopie) des Schreibprozesses der Handschrift sowie eine ausführliche Handschriftenbeschreibung erschienen.[48] Die Handschrift besteht aus zwei kodikologischen Einheiten,[49] wobei die um 1463 arbeitenden Schreiber*innen der ersten Einheit (Blatt 1–108) – die medizinische und andere Rezepte ebenso wie eine Lucidarius / Elucidarius, dt.-Kompilation und geistliche Sprüche versammelt – dieser eine ältere Die Sieben Weisen Meister-Abschrift (datiert 1454, Bl. 109–214) angehangen haben. Die Handschrift enthält zwei Kochrezeptsammlungen. Die erste, hier im Fokus stehende, mit der Sigle Ha1-I wurde von Hand I auf fol. 65ra–69va eingetragen. Dieselbe Hand hat zuvor aus einer Vorlage, auf die auch eine jetzt in Augsburg aufbewahrte Handschrift zurückgeht,[50] eine umfangreiche Textsammlung abgeschrieben, die vor allem medizinische Texte versammelt (fol. 2ra–47rb, 51ra–rb), aber auch Rezepte zu Wein- und Essigaufbereitung (fol. 47rb–50vb) sowie zu Wunderdrogen, Illusionstricks und Scherzen (fol. 51rb–57rb)[51]. Auf diese Textsammlung folgen von derselben Hand noch vor den Kochrezepten Volmars Steinbuch (fol. 57va–62ra) und weitere medizinische Texte (62rb–64va). An die Kochrezepte (fol. 65ra–69va) schließen sich noch von derselben Hand I und ohne erkennbaren Bruch im Layout Baumpflege-Rezepte aus Gottfrieds von Franken Pelzbuch (fol. 69va–71ra) an. Die erwähnten Farb- und Tintenrezepte auf fol. 71ra–75ra stammen von zwei anderen Händen. Insgesamt finden sich Texteinträge (ohne Federproben und Marginalia) von 13 verschiedenen Händen in der Handschrift, weshalb ich davon ausgehe, dass die Handschrift in einem Kloster entstanden ist.[52] Von der jüngsten dieser Hände, einer Kurrentschrift,[53] der schon der Gesamtkodex vorlag, wurden auf zwei leer gebliebenen Seiten weitere elf Kochrezepte, beziehungsweise Kochrezeptfragmente, nachgetragen. Diese bilden die Sammlung Ha1-II. Transkriptionen beider Sammlungen werden auch in die zukünftige CoReMA-Datenbank aufgenommen.
5. Überlieferungsparallelen zu den Kochrezepten der Sammlung Ha1-I
[18]Anlässlich eines Vortrags über »Probleme und Möglichkeiten der Erfassung von Texten ohne Werkcharakter,«[54] dessen Überlegungen ich mit diesem Beitrag zu einem vorläufigen Abschluss bringen möchte, habe ich bereits 2014 / 2015 Mithilfe des Medieval Plant Surveys nach Parallelüberlieferungen zu den Kochrezepten der Sammlung Ha1-I gesucht. Zur Unterstützung habe ich zusätzlich die von Marianne Honold 2005 gedruckt publizierten Tabellen zur deutschsprachigen Kochrezeptüberlieferung genutzt,[55] sowie Andrea Hofmeister-Winters unpubliziertes Gesamt-Inhaltsverzeichnis aller handschriftlich überlieferten hoch- und niederdeutschen Kochrezeptsammlungen von 1350 bis ca. 1500[56] herangezogen, für dessen Bereitstellung ich herzlich danke. Alle Daten wurden zur Veröffentlichung dieses Beitrags zu Beginn des Jahres 2020 erneut geprüft und aktualisiert.
[19]Die Suche erfolgte wie bei den Tintenrezepten über eine Schlagwortsuche nach den Zutaten der Rezepte der Hamburger Handschrift. Dabei habe ich sowohl nach einzelnen selten vorkommenden Zutaten wie auch nach Zutatenkombinationen[57] gesucht und dann den Wortlaut des Ha1-I Rezepttextereignisses mit dem der Textereignisse der Ergebnisliste verglichen. Als Parallelüberlieferungen eines Rezepttextes in potentia habe ich nur Textereignisse gewertet, deren Wortlaut in mehreren Rezeptschritten im Wesentlichen übereinstimmt, wobei es in einzelnen Textereignissen auch größere Plus- und Minustexte geben kann. Der Rezepttext in potentia, der in der Hamburger Handschrift durch das Textereignis Ha1-I, Nr. 2 vertreten ist, wird beispielsweise in Ha1-I und B1 in einer Kurzversion und in Bs1, W1 und M10 in einer Langversion überliefert, die weitere Zubereitungsschritte aufweist.
Ha1, Nr. 2 | B1, Nr. 2 | |
Item fladen in der vasten Nim allerley rogen von visch on barben rogen. Stos in in einem morsell mitt ein wenig wiss mells, daz es werd als ein struben teig, werme daz, gusse es vff fladenboden vnd bach es in einem offen. | Wiltu fladen in der fasten machen so nym allerley fischrogen an barben rogen vnd stosz sie clein mit enwenig wiszes meles daz isz werde als ein strüben deig vnd ferbe isz vnd gusz isz uff den fladen deig vnd back yne in eime oben daz werden gar schone vnd gude fladen.[58] | |
Bs1, Nr. 113 | W1, Nr. 45 | M10, Nr. 4 |
Item ain fladen jn der vasten, Nym mandel / vnd hack jn klain vnd leg jn jn ain / schüssel, vnd färb jn halben mit saffran // [48v] vnd nym weinper wol er- / lesen, vnd erwell sy als sie sein süllen vnd leg die / heraus Besunder jn die schüssel vnd / nym allerlaj visch rogen an parb[e]n / rog[e]n nicht. vnd stöß sy jn aine[m] mörser / mit ainem wenigen melb das es / werd als ein straüblein taig färb den / vnd geuss sy vf den flad[e]n, vnd pach / jn jn ainem ofen.[59] | Zu gewrichten in der vasten [N]im mandel und hakch den chlain und verb den halb mit saffran. Das leg besunder in ain schüssel. Nim weinper, wol erlesen, und well die, daz sie simbel werden und leg die besunder in die schussel. Zu disen nym aller visch rogen, den der perbem rogen nicht, und die in einen morßer mit einem wenigen weissn melblen, das ez werd als ain straubem taig. Und ferb das und geuz auf die fladen und pach es in einem öffen.[60] | fladen mit rogen Jtem nym geschelten mandel vnd hack den klain. vnd verb in halben mit saffran vnd leg daz besunder In ein stauffel. auch nym weinper, die schon erclawpt sein, vnd erwel die, daz si sinwel werden. Auch nym rogen von vischen wie die sein vnd stoß die in einem morser mit einem wenigen weyssen mel, daz er wer alz ein strauben taig. vnd gilb daz vnd thue daz abgeriben dar vnder. vnd gewß auff die fladen vnd pachs in einem ofenn.[61] |
Tab. 2: Parallelüberlieferung des Rezeptes Ha1, Nr. 2. Markiert wurden alle Wortfolgen, die in vier von fünf Textereignissen übereinstimmen. [Heiles 2022]
Sigle | Handschrift | Entstehungsort und -zeit |
Ha1, Nr. 2 | Hamburg, Staat- und Universitätsbibliothek, Cod. germ. 1, fol. 65ra | Schwäbisches Sprachgebiet, ca. 1463 |
B1, Nr. 2 | Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 244, fol. 285r | Rheinfränkisches Sprachgebiet (Mainz?), um 1445[62] |
Bs1, Nr. 13 | Basel, Universitätsbibliothek, AN V 12, fol. 48r/v | Grafschaft Württemberg (?), 1460[63] |
W1, Nr. 45 | Wien, Nationalbibliothek, Cod. 2897, fol. 6v | Wien (St. Dorotheen), erste Hälfte 15. Jh.[64] |
M10, Nr. 4 | München, Staatsbibliothek, Clm 15632, fol. 143v | Kloster Rott am Inn, dritte Viertel 15. Jh.[65] |
Tab. 3: Parallelüberlieferung des Rezeptes Ha1, Nr. 2: Handschriften. [Heiles 2022]
[20]Sieht man von den in Ha1-I und B1 fehlenden Zubereitungsschritten ab, so sind die meisten Varianten der Rezepttextereignisse nicht bedeutungsverändernd, sondern betreffen den Gebrauch von Pronomen (in/sie/sy/die), Satzkonjunktionen (vnd), Verneinungen (on/nicht) sowie von Attributen und Komposita (rogen von visch/fischrogen). Einzelne Ausdrücke wurden zudem durch ähnliche, synonyme oder präzisere Ausdrücke ersetzt. So präzisieren Ha1-I und B1 die Angabe dazu, wohin der Fischrogenteig geschüttet werden soll, zu fladen boden bzw. fladen deig und M10 präzisiert das in B1, Bs1 und W1 genannte färben um eine Farbangabe zu gelb färben (gilb daz). Einen die Zubereitung beeinflussenden Fehler stellt das wärmen (werme daz) statt färben in Ha1-I dar, aber auch W1, Nr 45 ist durch das fehlende Verb stos (und die in einen morßer) teilweise unverständlich. Eine besonders große Varianz weisen die Rezeptanfänge auf. In vier der fünf Handschriften beginnt das Rezept mit einer Überschrift (Nominalphrase), von denen zwei mit Item eingeleitet werden. Nur in B1 beginnt der Text, wie 48 der 76 Rezepte dieser Sammlung,[66] mit einem hypothetischen Rezepteingang (Wiltu … machen, so …). Hier hat sich offensichtlich der Gestaltungswillen des*der Kompilator*in / Schreiber*in, der*die versucht der Gesamthandschrift ein einheitliches Erscheinungsbild zu geben, auf die Textgestalt ausgewirkt.[67] Aber auch die Bezeichnungen für das Gericht in den Überschriften wechseln. Es kann als fladen in der vasten, gewrichten in der fasten oder fladen mit rogen bezeichnet werden. Alle fünf gefundenen Parallelversionen gehen aber eindeutig auf eine gemeinsame textliche Vorlage zurück und man kann für Ha1-I, Nr. 2 und B1, Nr. 2 (Kurzversion) sowie für W1, Nr. 45 und M10, Nr. 4 (Langversion mit sinwel) von gemeinsamen Zwischenstufen ausgehen. Die Angabe, weißes (Weizen-)Mehl zu benutzen, verbindet diese beiden Gruppen gegen Bs1, Nr. 113.
[21]Textlich auf eine gemeinsame Vorstufe zurückgehende Parallelversionen von Rezepten konnte ich mithilfe des MPS zu 24 von 32 Texten der Sammlung Ha1 finden. Zu einem weiteren Rezept für Kirschwein (Nr. 22) konnte ich über die Arbeiten von Honold und Hofmeister Parallelen in der Kochrezeptsammlung Wo3-I[68] und in einem Überlieferungsstrang des Pelzbuchs Gottfrieds von Franken,[69] also außerhalb der Kochbücher in der Gartenbau- und Weinliteratur, finden. Beide Ressourcen habe ich daraufhin vollständig ausgewertet: Wo3-1 anhand der Angaben von Honold und Hofmeister sowie dem Digitalisat der Handschrift,[70] das Pelzbuch anhand der Edition von Eis,[71] wobei ich nur in Wo3-1 weitere Parallelen gefunden habe. Insgesamt konnte ich auf diese Weise 116 Parallelrezepte zu 25 der 32 Rezepte aus Ha1-I in 21 Rezeptsammlungen finden. Die systematische Abfrage des MPS führt zudem im Umkehrschluss auch zu Belegen ex negativo, dass es in 15 der 33 im MPS erfassten Rezeptsammlungen keine Parallelen zu Ha1-I gibt (siehe Tabelle 4).
Sigle | Textereignis | Anzahl |
Wo3-I | Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. 78.1 Aug. 8°, fol. 16r–55r (Nr. 1–156) | 16 |
Bs1 | Basel, Universitätsbibliothek, Cod. AN V 12 | 15 |
Ka1 | Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. Pap. 125, 108r–120r | 15 |
M2-II | München, Staatsbibliothek, Cgm 384, fol. 103v–115v | 13 |
B1 | Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. fol. 244, fol. 285r–294v | 12 |
W1 | Wien, Nationalbibliothek, Cod. vind. 2897, fol. 1r–29v | 10 |
M10 | München, Staatsbibliothek, Clm 15632, fol. 143r–152v | 9 |
Wo4 | Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 226 Extr., fol. 65r–83v, 139r–v, 141r–v | 6 |
N1 | Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 20.291, fol. 17r–23v | 4 |
Bs2 | Basel, Universitätsbibliothek, D.II.30, fol. 300ra–310va | 3 |
Sb2 | Salzburg, Universitätsbibliothek, M I 128, fol. 318r–330v, 331v, 337r–v | 3 |
H2-I | Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. pal. germ. 551, fol. 186r–196v | 2 |
Mi1 | Michaelbeuern, Stiftsbibliothek, Ms. Cart. 81, fol. 57r–59v | 2 |
A1 | Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III.1.2° 43, fol. 59r–70r | 1 |
B6 | Berlin, Geheim. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz, XX HA OBA Nr. 18384 | 1 |
H2-II | Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. pal. germ. 551, fol.197r–204r | 1 |
H3 | Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. pal. germ. 583, fol. 80r–89r | 1 |
Ka2 | Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 793, fol. 27v–28v, 96r–98r | 1 |
PB_B | Prag, Nationalbibliothek, Cod. XVI.E.32, fol. 1r–40r (›Pelzbuch‹, Fassung B) | 1 |
PB_C | Prag, Nationalmuseum, Cod. XI E 16, 1r–58v (›Pelzbuch‹, Fassung C) | 1 |
W4 | Wien, Nationalbibliothek, Cod. vind. 5486, fol. 83r–95v | 1 |
Br1 | Brixen, Bibliothek des Priesterseminars, Cod. I 5, fol. 230r–236v | 0 |
Ds1 | Dessau, Anhaltische Landesbücherei, Hs. Georg. 278.2°, fol. 123v–132v | 0 |
K1 | Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7004 (GB 4°) 27 | 0 |
M1 | München, Staatsbibliothek, Cgm 349, fol. 114r–118v | 0 |
M11 | München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731 (Cim 4), fol. 156ra–165vb | 0 |
M2-I | München, Staatsbibliothek, Cgm 384, fol. 76r–78r | 0 |
M4 | München, Staatsbibliothek, Cgm 467, fol. 139v–154r | 0 |
M5-I | München, Staatsbibliothek, Cgm 725, fol. 41r | 0 |
M5-II | München, Staatsbibliothek, Cgm 725, fol. 139r–142v | 0 |
M7 | München, Staatsbibliothek, Cgm 811, fol. 35v–36r | 0 |
N2 | Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 3227a, fol. 92v–164v | 0 |
W3 | Wien, Nationalbibliothek, Cod. vind. 4995, fol. 191r–224r | 0 |
Wo2 | Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 16.17 Aug. 4°, fol. 102r–118v | 0 |
Wo5 | Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. 1213 Helmst., fol. 81r–109v | 0 |
Wol1 | Wolfegger Hausbuch, Fürstl. Waldburg-Wolfeggsche Bibl., ohne Sign., fol. 33r | 0 |
Tab. 4: Anzahl der parallel zu Ha1-I überlieferten Rezepte. [Heiles 2022]
[22]Nicht systematisch erfasst, sondern lediglich notiert habe ich im Wortlaut unabhängige Rezepte desselben Gerichts, auf die man während der Suche nach Zutatenkombinationen im MPS auch stößt. Ein Beispiel dafür ist das Rezept Ha1-I, Nr. 26 zur Herstellung eines Rieseneis aus 30 oder 40 Hühnereiern mithilfe von Schweineblasen. Parallelversionen mit ähnlichem Wortlaut sind vollständig in vier weiteren[72] und unvollständig in einer weiteren Handschrift[73] überliefert. Zusätzlich verzeichnet der MPS fünf weitere Riesenei-Rezepte, die textlich alle voneinander unabhängig sind.[74] Darüber hinaus gibt es Anleitungen zur Herstellung eines Rieseneis aber auch außerhalb von Kochbuchsammlung, etwa im Speyerer Kompendium innerhalb einer Sammlung von Scherz-, Trick-, Schad- und Wunderdrogenrezepten.[75] Diese Verbreitung derselben Rezeptidee in verschiedenen und textlich unabhängigen deutschsprachigen Rezepten lässt auf eine mündliche und/oder über eine andere Sprache vermittelte Verbreitung schließen. Auskunft darüber könnte die lateinische Überlieferung bieten, die zumindest teilweise auch im CoReMA-Projekt erfasst werden soll. Bemerkt und verzeichnet habe ich diese Art von Parallelen bislang überwiegend bei besonders aufwendigen Gerichten (Ha1-I, Nr. 7, Nr. 19, Nr. 26, Nr. 29, anders: Nr. 13). Dieser Befund könnte aber auch durch die unsystematische Suche bedingt sein.
6. Datenspeicherung und Datenvisualisierung
[23]Die Parallelüberlieferungen der Rezepte der Sammlung Ha1-I habe ich zunächst einmal klassisch in Kommentarform zu den Rezepttranskriptionen notiert. Die Paralleltextereignisse habe ich bei unverständlichen Lesungen und offensichtlichen Fehlern auch zur Kommentierung und Emendation des Ha1-I-Textes herangezogen. Dementsprechend sind alle Angaben in der Edition der Kochrezeptsammlung Ha1-I zu finden. Aufgenommen habe ich dabei auch die Links zu den Volltexten der Rezepte im MPS, sodass die Angaben während der Lektüre schnell überprüft werden können.
[24]Zur statistischen Auswertung habe ich außerdem eine Excel-Tabelle angelegt, die – wie alle weiteren Forschungsdaten – im RWTH Publications Repository abrufbar ist.[76] Diese Datei liefert summarische Zahlen zur Überlieferung und es ist leicht ablesbar, in welchen Sammlungen wie viele Parallelen zu Ha1-I überliefert sind oder wie viele Parallelen es zu einzelnen Rezepten aus Ha1-I es gibt. Zur Datenvisualisierung eignet sich die Tabelle nur bedingt. Die in Abbildung 4 gewählte Ansicht zeigt allerdings bereits, dass es Rezeptgruppen gibt, die gemeinsam in mehreren Handschriften überliefert werden. Dabei verzeichnet diese Tabelle aber nur diejenigen Sammlungen, in denen es überhaupt Parallelen gibt. Vor allem für eine Web- oder Printpräsentation sind große Tabellen jedoch nicht geeignet. Wollte man in der Tabelle der Abbildung 2 zusätzlich die Sammlungen anzeigen, in denen es nachweislich keine Parallelrezepte zu Ha1-I gibt, hätte die Tabelle fast doppelt so viele Spalten (vgl. Tabelle 4) und wäre damit als Bilddatei bei gleicher Breite kaum noch lesbar. Je größer die Menge der darzustellenden Einzeldaten ist, desto weniger eignen sich Tabellen zu deren Visualisierung.
[25]In welcher Weise die Rezeptsammlungen über die Einzelrezepte verbunden sind,
deutet diese Tabelle (Abbildung 4)
bereits an. Wirklich sichtbar wird das Überlieferungsnetz der
Rezeptsammlungen aber erst, wenn die Rezeptüberlieferung als Graph
dargestellt wird (Abbildung 5).
Dazu wurden die Daten der Excel-Tabelle erst in drei separaten CSV-Dateien
gespeichert, dann nach Neo4j[77] importiert und
schließlich in Gephi[78] visuell aufbereitet.[79] Dabei wurde zu jeder
Rezeptsammlung und zu jedem Rezept in potentia ein Knoten
(
n:Sammlung
;
n:Rezept
) erstellt. Die
Rezeptsammlungen werden mit den entsprechenden Siglen bezeichnet, die
Rezepte in potentia mit r1–r32 entsprechend ihrer Reihenfolge in Ha1-I.
Gerichtete Kanten (
IST_ENTHALTEN_IN
) verbinden Rezepte und
Sammlungen. Über ein Kantenattribut (
{recipeNumber:}
) wird
angegeben, welche Rezeptnummer das jeweils zugehörige Rezepttextereignis in
der Sammlung hat.
[26]Der wesentliche Vorteil gegenüber den Darstellungsformen der älteren Forschung ist die veränderte Datenstruktur, die eine Reduzierung der Entitäten im Netzwerk und dadurch eine größere Übersichtlichkeit zulässt. Die vom Betrachter visuell zu verarbeitende Datenmenge wird reduziert. Entscheidend ist die Zuordnung der von den Datenbanken erfassten Textereignisse zu imaginären Texten in potentia. Der Visualisierungsgraph verzeichnet dann lediglich die Texte in potentia und die Textsammlungen als Knoten. Honolds Tabellen verzeichneten dagegen noch jedes Rezepttextereignis.[80] Bei größeren Netzwerken ist auch eine Darstellung als One-Mode-Graph sinnvoll, in dem nur Textsammlungen angezeigt werden und bei dem die Kanten die gemeinsame Überlieferung erfassen.[81]
[27]In der Darstellung der Abbildung 5 wurde der Graph mittels des ForceAtlas-Algorithmus[82] angeordnet und die Darstellung über die Expansion-Layoutfunktion auseinandergezogen, um die Struktur besser sichtbar zu machen. Die Rezeptsammlungen sind rot markiert, die Rezepte in potentia grün. Graue Striche markieren die Kanten und zeigen an, welches Rezept in welcher Sammlung aufgenommen wurde. Die Sammlungen werden umso größer angezeigt, je mehr Rezepte der Ha1-I Sammlung sie enthalten. Oben rechts in der Ecke sind diejenigen Sammlungen zu sehen, die nicht über ein gemeinsames Rezept mit dem Überlieferungsnetz der Sammlung Ha1-I zusammenhängen. Durch den Layoutalgorithmus wurden diejenigen Knoten näher zusammengerückt, die stärker untereinander verbunden sind. Dadurch wurden Cluster von Sammlungen und Rezepten sichtbar, die durch die gemeinsame Überlieferung verbunden sind.
[28]Communities (Gemeinschaften) von Knoten kann man in Graphen mathematisch unter anderem über die bestimmung von Modularity Classes ermitteln.[83] Im Graph der Abbildung 6 wurden 20 Modularity Classes bestimmt, wobei jede der 15 nicht über Rezepte mit dem Überlieferungsnetz verbundenen Sammlungen eine eigene Community bildet. Die Abbildung 6 zeigt lediglich den Ausschnitt des eigentlichen Überlieferungsnetzes mit Parallelüberlieferungen. Hier wurden fünf Gruppen getrennt. Dieser Wert dient dabei lediglich der Veranschaulichung der Daten. Man könnte die Knoten auch in eine kleinere oder größere Anzahl von Communities aufteilen, oder diese mit anderen, ausgefeilteren Methoden bestimmen.[84] Sichtbar werden auf diese Weise Rezeptgruppen, die gemeinsam überliefert wurden. Eine kleine Gruppe bilden die dunkelgelb markierten Rezepttexte in potentia r27 und r29 oben rechts, die gemeinsam in Sb2 und einzeln in anderen Handschriften überliefert sind. Eine weitere kleine Gruppe bilden die blau markierten Rezepte r26 und r28, die beide in Bs2 und H2-I tradiert sind. Eine große, graublau markierte Gruppe bildet das Sondergut von Ha1-I. Diese Rezepte sind entweder nur aus dieser Handschrift oder nur aus Handschriften bekannt, die sonst keines der Rezepte aus Ha1-I überliefern. Auch das Rezept r22 für Kirschwein wurde dieser Gruppe zugeordnet. Die besondere Position dieses, außer in den Pelzbüchern, auch in Wo3-I überlieferten Textes innerhalb des Überlieferungsnetzes hat der Layoutalgorithmus deutlich gemacht. Die rosa und dunkelrot markierten Rezeptgruppen sind auch untereinander stark verbunden und die Zuordnung einzelner Rezepte könnte sicher auch anders ausfallen. Die Rezepte r5 und r16 bis r19 sind aber eindeutig Sondergut der dunkelroten Rezeptgruppe und die Rezepte r1 und r9 Sondergut der rosa Gruppe. Bei den im Grenzbereich zwischen diesen beiden Gruppen liegenden Rezepte, wären genauere textgeschichtliche Untersuchungen bzw. Differenzierungen sicher sinnvoll. Im oben angesprochenen Fall des Rezeptes r2 (Ha1-I, Nr. 2), das in Abbildung 6 rosa markiert ist, haben wir gesehen, dass dieses in einer Lang- und in einer Kurzfassung existiert. Würde man beide Fassungen im Graph erfassen, würde die Langfassung wohl zur rosa Rezeptgruppe und die Kurzfassung, die auch Ha1 überliefert, wohl zur dunkelroten Rezeptgruppe sortiert werden. Für die Aufnahme solcher Daten müsste der Graph allerdings komplexer gestaltet werden und würde dadurch unübersichtlicher.
[29]Aufgrund der beschränkten Datengrundlage (es wurden ja nur die im MPS aufgenommenen Rezeptsammlungen und davon nur die Parallelüberlieferungen zu den Ha1-I-Rezepten erfasst) können keine abschließenden Urteile über die Überlieferungsnetze der deutschsprachigen Kochrezepte des Mittelalters getroffen werden. Die einzelnen Sammlungen können untereinander ja noch durch viele weitere Rezepte (und diese Rezepte über andere Sammlungen) verbunden sein. Dennoch ist auch auf dieser Datenbasis ein Vergleich mit den Ergebnissen von Honold möglich. Ihre Unterscheidung eines Dritten bairischen Texkorpus und eines Vierten, schwäbisch-alemannischen Textkorpus, die sie beide durch gemeinsame Vorlagen von Teilkorpora verbunden sieht,[85] werden durch die Differenzierung der rosa und der dunkelroten Community im Graphen des Ha1-I-Überlieferungsnetzes (Abbildung 6) bestätigt. Honold denkt in ihrer Texkorpora-Begrifflichkeit allerdings (und erstaunlicherweise) nicht vom Rezept, sondern von der Textsammlung her. Sie hat zwar erkannt, dass »sich in beinahe jeder Sammlung Rezeptparallelen zu anderen Sammlungen« finden, ordnet aber, »um die Übereinstimmungen dennoch deutlich machen zu können«, die einzelnen Rezeptsammlungen »den vier [von Ehlert] bereits ermittelten Rezeptfamilien« zu.[86] Sie unterscheidet dabei terminologisch einen »Kernbestand« von Rezepten eines Textkorpus, den alle Sammlungen dieses Korpus teilen, die »Zusatzbestände« der einzelnen Sammlungen, die nur in diesen enthalten sind und »gemeinsame Rezeptbestände, die einen Textzeugen mit einem oder mehreren anderen eines Textkorpus verbinden«.[87] Da sie aber kein Konzept eines Rezepttextes in potentia hat, sondern stets auf der schwierigeren Suche nach Vorlagen ist, ist sie trotz ihrer umfangreichen Tabellenwerke nicht in der Lage, einzelne Rezepte in potentia zu adressieren und den entsprechenden Textkorpora, Bestandsgruppen oder Untergruppen (in Honolds Terminologie »Vorlagen«[88]) eindeutig zuzuordnen. Stattdessen muss Sie immer wieder auf ihre Tabellen verweisen. In der Abbildung 7 konnten die Rezepte in potentia deshalb, anders als die Sammlungen, nicht den Honold’schen Textkorpora zugeordnet werden. Die in Abbildung 7 irritierende Zuordnung der Sammlung W1 zum Ersten bairischen Textkorpus resultiert ebenfalls aus der angesprochenen vereinfachten Darstellung Honolds. W1 überliefert, wie Honold durchaus bemerkt,[89] Rezepte aus dem Ersten und dem Dritten bairischen Textkorpus. Die hier erfassten gehören sämtliche zu letzteren. Da die Parallelen zum ersten bairischen Textkorpus aber in der Sammlung W1 insgesamt überwielgen, wurde die Sammlung von Honold zu diesem gerechnet.
[30]Während Ehlerts und Honolds Bestrebungen die Überlieferungsgeschichte der deutschprachigen mittelalterlichen Kochrezepte noch durch die Speicher- und Darstellungsformen (Liste und Tabelle) begrenzt waren, ermöglichen Graphdatenbanken und -visualisierungen jetzt neue Möglichkeiten Überlieferungszusammenhänge präziser zu erfassen und als Überlieferungsnetze anschaulich zu machen. Die hier vorgestellten Graphiken sollen nur eine erste Idee davon vermitteln, was möglich ist, und schöpfen das Potential der Graphvisualisierung keineswegs aus. Voraussetzung für die weitere Erforschung der Rezept-Überlieferungsnetzte wäre eine zuverlässige Identifizierung von Rezeptparallelüberlieferungen und anschließende Auszeichnung der Rezepttexte in potentia für eine wesentlich größere Grundgesamtheit deutschsprachiger, handschriftlich überlieferter Rezepte. Zumindest für das deutschsprachige Kochrezeptkorpus könnte dank der CoReMA-Datenbank sogar eine vollständige Erschließung bald möglich sein.
7. Möglichkeiten der halbautomatischen Identifizierung von Rezepttexten in
potentia
[31]Der Vergleich von Textereignissen und die Identifizierung von Rezepttexten in potentia ist auch bei bereits digital vorliegenden Texten zeitaufwendig. Wenn man mit einem großen Textkorpus arbeitet, sollte man diese Schritte deshalb vereinfachen und zumindest halbautomatisch ablaufen lassen. Ich möchte hier zwei verschiedene Ansätze kurz vorstellen:
- die halbautomatische Lemmatisierung und Alignierung von Textvarianten
- die Visualisierung der Rezepttextereignisse und ihrer Zutaten in einem Graphen
7.1 Halbautomatische Lemmatisierung und Alignierung von
Textvarianten
[32]Im Forschungsprojekt SaDA – Semi-automatische Diffrenzanalyse von komplexen Textvarianten wurde von 2012 bis 2015 mit LAKomp ein Tool zur halbautomatischen »Lemmatisierung, Annotation und Komparation von Varianten frühneuhochdeutscher Texte«[90] entwickelt, welches sich auch zur Analyse der Textvarianten frühneuhochdeutscher Rezepte eignet. Zwar wurde LAKomp seit Projektende nicht mehr weiterentwickelt, kann aber von interessierten Forschern nach Kontakt mit dem Projektteam genutzt werden. Das Tool ist webbasiert und kann nach Anmeldung über den Browser genutzt werden. Um die Funktionen von LAKomp zu testen, habe ich die oben in Tabelle 2 wiedergegebenen Textereignisse des Rezept-Textes in potentia r2 in LAKomp lemmatisiert und aligniert. Die Transkriptionen habe ich dazu als txt-Dateien nach LAKomp importiert und mit in Klammern gesetzten Kommata (,) in Teilsätze segmentiert. Die Lemmatisierung nach dem Deutschen Wörterbuch verläuft halbautomatisch. Die Software macht Vorschläge auf Grundlage dieses Wörterbuchs und des Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch sowie der bereits lemmatisierten Wörter des eigenen Korpus.[91] Gleichzeitig kann der Text auch nach dem HiTS-Tagset linguistisch annotiert werden.[92] Auf Grundlage des so normalisierten Textes berechnet LAKomp die Ähnlichkeit der Teilsätze, stellt ähnliche Teilsätze zusammen (Abbildung 8) und markiert Textdifferenzen und -gemeinsamkeiten innerhalb der zusammengestellten Teilsätze farblich (Abbildung 9).[93] Diese Ergebnisse können von Hand verändert werden. Die Software geht bei der Alignierung von der »Prämisse [aus], dass in den Überlieferungen keine Vertauschungen von Teilsätzen erfolgt sind«[94]. In der Reihenfolge vertauschte Teilsätze, erkennt und markiert die Software dementsprechend nicht, obwohl dies im gewählten Beispiel wünschenswert wäre. In der abgebildeten Alignierung stimmen die Teilsätze der Zeilen 3 und 5 im Wesentlichen überein, in der tabellarischen Darstellung wird dies aber nicht sofort sichtbar. Bei einem Vergleich ganzer Rezeptkorpora, die sich ja gerade durch die Einzigartigkeit des Bestandes und der Anordnung auszeichnen, würde diese Prämisse verhindern, dass sinnvolle Ergebnisse entstehen. Zudem setzt LAKomp mit den Teilsätzen für diese Art von Texten wohl auf einer zu tiefen Ebene an. Ein Vergleich von ganzen Rezepttexten wäre sicherlich zielführend, auch um bei Beständen von mehreren hunderten oder tausenden Rezepten keine Darstellungsprobleme zu erhalten. Eine entsprechende Weiterentwicklung des Tools wäre wünschenswert.[95]
7.2 Visualisierung der Rezepttextereignisse und ihrer Zutaten als
Graph
[33]Während LAKomp sich in der aktuellen Version also vor allem für den Vergleich auf Rezeptebene anbietet, eignet sich die im folgenden vorgestellte Visualisierung des Rezeptkorpus als Graph zur Identifikation von Parallelrezepten. Der vorgeschlagene Graph verzeichnet Rezepttextereigisse und Zutaten, die durch Kanten verbunden werden, wenn in einem Rezept eine Zutat verwendet wird. Die Zutaten müssen dabei möglichst in einem kontrollierten Vokabular und in einem Linked-Open-Data-Format erfasst werden. Teilgraphen können dann das Vorkommen bzw. die Verwendung einer einzelnen Zutat oder einer Zutatenkombination anzeigen. Auf diese Weise können inhaltlich ähnliche Rezepte über Layoutalgorithmen sichtbar gemacht werden.
[34]Für eine Beispielanalyse habe ich im MPS nach allen Rezepttextereignissen gesucht, in denen Taube verarbeitet wird, und einen entsprechenden Graph erstellt (Abbildung 10).[96] Die Zutaten werden darin als rosa Knoten angezeigt, die Textereignisse als grüne. Je häufiger eine Zutat vorkommt, desto größer wird sie angezeigt. So wird auf einen Blick deutlich, dass Taube in den Rezepten besonders häufig mit Huhn und Schmalz genannt wird. Obwohl die Zutaten im MPS keinem kontrollierten Vokabular folgen, lassen sich leicht Rezeptgruppen erkennen, die ähnliche Speisen beschreiben und deren Rezepttexte sich wahrscheinlich auch ähneln. Erkennbar ist etwa oben rechts die Gruppe der Rezepte für gebackenen Lachs (M11, Nr. 19; Ds1, Nr. 19 und W3, Nr. 17) und links oben die Rezepte für Geflügelfladen (Sb2, Nr. 17; H3, Nr. 26; H3, Nr. 3) und weiter unten eine Gruppe von Pastetenrezepten (Br1, Nr. 4; N1, Nr. 10; B1, Nr. 39; Ka1, Nr. 1; M2-II, Nr. 1). Der Textvergleich zeigt jedoch, dass nur drei der fünf Pastetenrezepte sicher demselben Text in potentia zugeordnet werden können und somit Parallelrezepte zu Ha1-I, Nr. 5 sind. Diese Visualisierungsmethode zeigt also zuverlässiger kulinarische als textgeschichtliche Ähnlichkeit an. Auf diesem Weg könnte daher nicht nur die Suche nach Paralleltextereignissen deutlich beschleunigt werden, indem dem Bearbeiter eine Vorauswahl der textlich zu vergleichenden Rezepte angezeigt wird,[97] sondern auch die Untersuchung der mündichen und sprachenübergreifenden Wissenstradierung befördert werden.
8. Anforderungen an Rezeptdatenbanken
[35]Die Identifikation von Parallelüberlieferungen und das Verzeichnen von Rezepttexten in potentia ist nicht primäres Ziel und Aufgabe der Rezeptdatenbanken. Zukünftig sollten sie diese Verarbeitungsschritte aber antizipieren und vereinfachen. Dazu sollten zukünftige Rezeptdatenbanken folgende Anforderungen erfüllen:[98]
- Die Daten müssen frei zugänglich sein und unter einer freien Lizenz stehen, damit Nachnutzung und Bearbeitung problemlos möglich sind.
- Die Datenbank sollte nicht nur die digitalen Volltexte der Rezepte in
einem etablierten Format (TEI-XML), sondern auch Erschließungsdaten
(Metadaten) zu den einzelnen Rezepttexten enthalten. Hier stehen
kodikologisch-bibliographischen Daten an erster Stelle:
- Handschrift bzw. kodikologische Einheit[99] des Textereignisses (Bibliothek, Signatur, Blatt-/Seitennummer, Spalte)
- Schreibsprache des Textereignisses
- Entstehungszeit und Entstehungsort des Textereignisses
- Falls bekannt: Schreiber des Textereignisses, Auftraggeber der Handschrift/kodikologischen Einheit
Diese Daten sollten möglichst – und hier liegt noch Arbeit vor uns – über Normdaten erfasst und mit anderen offenen Datenbanken (Handschriftencensus, Handschriftenportal, Manuscripta.at, E-Codices etc.) verknüpft werden.
- Inhaltlich sollten die Rezepte mindestens über die Auszeichnung von Zutaten in einem kontrollierten Vokabular (am besten in einem Linked Open Data-Format) erschlossen werden. Darüber hinaus könnten auf die gleiche Weise auch Rezeptprodukte und -arbeitsschritte sowie im Fall der medizinischen Rezepte auch Körperteile, Symptome, Krankheiten etc. erfasst werden.
- Auch sprachliche Merkmale können erfasst werden. Von besonderem Interesse sind hier beispielsweise Überschriften und Einleitungsformeln. Theoretisch kann dieses Feld aber je nach Interessenlage beliebig erweitert werden.
- Die bibliographischen, inhaltlichen und sprachlichen Metadaten zu den Textereignissen sollten möglichst (auch) in einer Graphdatenbank gespeichert werden. Hier fehlt es noch an einheitliche Standards, vergleichbar etwa zu denjenigen der TEI für die Textauszeichnung.
- Die Datenbank muss eine facettierte Suche nach allen diesen Metadaten ermöglichen. Die Suchergebnisse sollten nicht nur als Liste angezeigt, sondern auch als Graph visualisiert werden. Sowohl Ergebnislisten als auch -graphen sollten exportiert werden können.
- Auch der Gesamtdatenbestand sollte problemlos, das heißt in einem einzigen Arbeitsschritt, exportiert werden können.
- Umgekehrt sollte die Datenbank auch die Aufnahme neuer Datenbestände unabhängiger Forscher ermöglichen, die beispielsweise neuentdeckte Rezepte transkribieren oder neue Metadaten, etwa zu den Texten in potentia, erzeugen. Daher müssen die Datenbankbetreiber auch langfristig personell in der Lage sein, neue Daten Dritter zu evaluieren und einzupflegen.
- Datenbanken sollten deshalb – und das steht im Kontrast zur aktuell üblichen Praxis der Drittmittelforschung – als dauerhafte Forschungsinfrastruktur verstanden und dementsprechend dauerhaft finanziert und betreut werden.