Die Digital Humanities im deutschsprachigen Raum. Methoden - Theorien - Projekte

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Constanze Baum Autoreninformationen
Thomas Stäcker Autoreninformationen

DOI: 10.17175/sb001_023

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 85748091X

Erstveröffentlichung: 22.03.2016

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autoren

Letzte Überprüfung aller Verweise: 24.05.2016

GND-Verschlagwortung: Digital Humanities |

Empfohlene Zitierweise: Constanze Baum, Thomas Stäcker: Methoden – Theorien – Projekte. In: Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities. Hg. von Constanze Baum / Thomas Stäcker. 2015 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 1). text/html Format. DOI: 10.17175/sb001_023


Zum Geleit des Sonderbands

»[...] the moral seems clear enough: that computing belongs within the humanities (McCarty)«[1]

Diskursgeschichtlich ist der digital turn nicht nur proklamiert, sondern auch in zahlreichen Publikationen niedergelegt und besetzt damit einen festen Platz in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Die Hinwendung zu digitalen Fragestellungen in den letzten Dezennien steht außer Frage. Längst ist klar, dass wir uns in einem Zeitalter bewegen, in dem digitale Technologien gesamtgesellschaftlich und damit auch für die geisteswissenschaftlichen Fächer an Bedeutung gewonnen haben, bestimmte Bereiche sogar dominieren und entsprechend in der Wissenschaftslandschaft auch staatliche Zuwendung und Förderung erfahren.[2] Kaum eine Tagungsankündigung oder ein Sammelband, der sich den Digital Humanities widmet, kommt im Geleitwort ohne einen Appell aus, der die Relevanz des Digitalen unterstreicht und dadurch an ihrer diskursgeschichtlichen Verankerung mitarbeitet.

Wir möchten betonen, dass die digitale Wende aus unserer Perspektive mehr verspricht und auch einlösen wird, als die inflationären Turns innerhalb der Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten, da sie nicht nur die Fachdisziplinen methodisch neu konturiert, sondern eine Disziplinen übergreifende Schnittstelle bietet. Über Fachdiskurse hinaus berührt dies auch die Nutzung von Infrastruktureinrichtungen wie Archive und Bibliotheken.

Von einer ›digitalen Revolution‹ für die Geisteswissenschaften zu sprechen, halten wir insofern für ungeeignet, als die Entwicklungen und Transformationsprozesse unserer Einschätzung nach weder die Episteme unserer Fachdisziplinen explosiv neu konstituiert, noch einen im Kleist’schen Sinne ›Umsturz aller Verhältnisse‹ bewirkt haben. Vielmehr handelt es sich um eine dominante technische Innovation und ihre sukzessive soziale Sedimentierung und somit in unseren Augen um eine digitale Leitkultur. Auch wenn die neu formierten Digital Humanities an inhaltliche oder technische Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen, sind sie schon jetzt in vielen Punkten Teil einer neuen Wissenschafts- und Wissenskultur, in der Quellen und Dokumente folgerichtig zu Forschungsdaten werden. Die Kartierung dieser digitalen Leitkultur erstreckt sich von der Grundlagenforschung, der Datenerhebung und -erschließung über die Datenmodellierung bis hin zur Datenarchivierung. Im Sinne eines data life cycle können die Daten von dort aus wieder in den Forschungsprozess eingespeist werden.

Umso mehr solche Felder erschlossen werden, umso mehr müssen sich die einzelnen Disziplinen und insbesondere die Fächer, die als geisteswissenschaftliche firmieren, fragen, in welchem Maße sie auf diese Tendenzen strukturell wie methodisch reagieren wollen.[3] Eine Kernfrage für das Selbstverständnis der Digital Humanities ist nach wie vor, ob sie als Instrumentarium oder als autonome Forschungsrichtung zu verstehen ist, die distinkte Alleinstellungsmerkmale vorweisen kann und von eigenständigen Erkenntnisansprüchen geleitet wird.

Klar ist freilich, dass neue digitale Verfahren und Werkzeuge sowohl Potenziale bergen als auch Probleme aufwerfen, die es für geisteswissenschaftliche Forschungen zu beachten gilt. So bietet der virtuelle Raum zwar vergleichsweise unbeschränkten Platz für die Erhebung und Visualisierung großer und übergroßer Datenmengen, aber längst nicht alles, was technisch in diesem Rahmen machbar erscheint, ist für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn auch sinnvoll. Dass mit dem Erstarken solcher Ansätze auch ein ›digitales Unbehagen‹ einhergehen kann, dem es wissenschaftstheoretisch nachzuspüren gilt, halten wir geradezu für obligatorisch. Angesichts des mitunter enormen technologischen Aufwands, der für ›Versuchsaufbauten‹ und Datenerhebungen im Vergleich zu herkömmlichen Recherchen und Analysen von vielen Geisteswissenschaftlern nötig ist, erscheint es durchaus berechtigt, die Frage nach dem Erkenntnisgewinn und ebenso den moralischen Implikationen gewissermaßen prophylaktisch zu stellen. Was wird zum Beispiel in einem Datendiagramm, in einer Cloud sinnfällig, zu welchem Nutzen und mit welchen Folgen? Die Antworten werden nicht von den Daten allein kommen, reine Empirie bedarf auch in naturwissenschaftlichen Forschungen immer der Auswertung und Interpretation und obliegt angreifbaren Setzungen in der Modell- und Theoriebildung.

Digital Humanities sollten sich deshalb auch mit den Grenzen der automatisierten Verarbeitung von Text und Bild auseinandersetzen. So werden die Digital Humanities zunehmend reflektieren müssen, welche politischen, ethischen und sozialen Dimensionen die digitale, maschinenbasierte ›Erfassung’ von Quellen und Zeugnissen ganz unterschiedlicher Provenienz tangiert. Künstlerische Arbeiten haben sich hier in jüngster Zeit kritisch zu Wort gemeldet und die vermeintliche Unschuld bzw. die Souveränität von Daten und die Anwendung und Entwicklung von Tools in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen zur Disposition gestellt.[4] Ein solcher ›DH-criticism‹ müsste sich beispielsweise der Frage stellen, ob die Erschließung und Sichtung von quantitativ extrem umfangreichen, gleichsam grenzenlosen Texten oder Medien mittels distant-reading zu Verfahren (ver-)führt, die erhebliche Konsequenzen für unsere Bewertungskulturen haben, da sie letztlich mit ähnlichen Algorithmen wie die Rasterfahndung oder Überwachungstechnologien operieren oder auf diesen basieren. Denn Quantifizierungen betreffen soziale Fragen, auch wenn sie historisch orientiert sind. Die kritische Infragestellung von algorithmischen Selbstläufern und Datenpositivismus erscheint uns als künftig stärker zu berücksichtigende Aufgabe der scientific community, denn jedes DH-Projekt trägt durch Annotation, Kartierung und Netzwerkbindung Mitverantwortung am datenkulturellen Wandel und dessen Folgen.

Bedingt die Hinwendung zu digitalen Gehalten und Methoden tatsächlich einen geistesgeschichtlichen Paradigmenwechsel? Ressentiments und Pioniergeist halten sich diesbezüglich in der öffentlichen Debatte seit einigen Jahren die Waage.[5] Wir stehen also mitten in einem Prozess von Aneignung und Erkundung neuer Gebiete auf der einen Seite und fachinternen Widerständen auf der anderen. Es ist dies vielleicht keine besonders überraschende Beobachtung: Das Neue ist zugleich das Fremde und Andere, es reizt zum Experiment und zur Kritik gleichermaßen und ist eingespannt in einen Generationenkonflikt, in dem Kontinuität und Wechsel, Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien und Traditionsbeharren in einem spannungsvollen Miteinander stehen. Ob die immer wieder beschworene Krise der Geisteswissenschaften durch die Entwicklungen der Digital Humanities aufgehalten werden kann oder gar neu entfacht wird, sei dahingestellt.[6] Vielleicht ist erkenntnistheoretischen Fächern das Krisenhafte als Ausgangspunkt einer immerwährenden Neuorientierung und kritischen Selbstüberprüfung auch immanent? In jedem Fall haben die DH die herkömmliche Fächerlandschaft durchaus produktiv irritiert.[7] Es bleibt abzuwarten, welche Bereiche der Geisteswissenschaften die Digital Humanities besonders bereichern werden. Nach einer ersten Phase, in der besonders die Sprachwissenschaften tonangebend bei der Implementierung von DH-Anwendungen waren, positionieren sich nun zunehmend auch andere, kleinere Fächer wie die Musikwissenschaft oder Archäologie im Feld der Digital Humanities. Dies sind aber nur vorsichtige Beobachtungen, die der Bandbreite der vorhandenen Einzelprojekte sicherlich nicht gerecht werden.[8] Es bleibt festzuhalten, dass die DH sich sukzessive konsolidieren: Lehrstühle werden im universitären Raum begründet und besetzt und erste Generationen von Studierenden durchlaufen die neu geschaffenen Curricula. Infrastrukturprojekte verlassen ihren explorativen Status und werden konstitutiver Teil der Forschungslandschaft.

Die Breite des Forschungsfeldes bestimmt dabei seinen Reichtum, macht es aber gleichzeitig schwierig, ihre Konturen genau zu erkennen.[9] Der Begriff Digital Humanities, der erstmals in dem von Schreibman et al. 2004 herausgegebenen Companion benutzt wurde,[10] mag leicht darüber hinwegtäuschen, dass die junge Disziplin nicht voraussetzungslos ist und in ihren Fragestellungen und ihrer methodischen Herangehensweise eine Reihe von Mitbewerbern hat. Schon der Titel der diesem Sonderband zugrundeliegenden Tagung deutet darauf hin: Sind die Digital Humanities eher Geisteswissenschaften oder eher Informatik? Die Frage der Abgrenzung stellt sich auch mit Blick auf andere Disziplinen, etwa die Linguistik, vor allem die Computerlinguistik, aber auch die Bibliotheks- und Informationswissenschaft, die alle Arbeitsfelder mit den Digital Humanities teilen. Auch die historische Entwicklung der Digital Humanities, die unter Überschriften wie Computerphilologie[11], Historisch-Kulturwissenschaftliche Fachinformatik[12] oder Humanities Computing[13] eine längere Tradition hat und deren Beginn oft mit den Arbeiten von Pater Busa bzw. dem Index Thomisticus verbunden wird,[14] zeigt ein komplexes Bild unterschiedlicher Strömungen und Ansprüche. Letztlich deutet auch die jüngere Debatte, ob die Digital Humanities ›fachwürdig‹ seien, auf ein Grundproblem, dass sich darin zeigt, dass digitale Methoden und Zugriffe in unterschiedlichster Ausprägung in den geisteswissenschaftlichen Fächern zum Einsatz kommen. Gleichzeitig erfreuen sich diese Ansätze zunehmenden Interesses, was Neugründungen wie die AGs der digitalen Kunstgeschichte oder Geschichte belegen.[15]

2015 befinden wir uns im deutschsprachigen Raum nunmehr an einem Punkt, an dem die Erarbeitung von Positionen und Fragestellungen im Zeichen des digitalen Wandels für die geisteswissenschaftlichen Fächer im vollen Gange ist,[16] was nicht zuletzt an der steigenden Zahl von Konferenzen, Workshops und Stellenausschreibungen und der großen Nachfrage einer wachsenden scientific community ablesbar ist. Das Ringen um die Definition dessen, was Digital Humanities eigentlich bedeutet, zeigt, wie sehr alle Beteiligten noch in Legitimierungszwängen gegenüber etablierten Fachkulturen befangen sind.[17] Die Beschränkungen letzterer geraten übrigens im Zuge kulturwissenschaftlicher Weitung sowie inter- und transdisziplinärer Spreizung ebenso ins Wanken, sie entsprechen kaum mehr den herkömmlichen Zuständigkeitsfeldern. Unabhängig von solchen Diffusionsbewegungen wird gewiss auch in den Folgejahren um Eingrenzung sowie Charakterisierung des Begriffes Digital Humanities gestritten, ebenso wie weiterhin die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Kontextualisierung und Kategorisierung auszuloten sind, die sich durch die Digital Humanities ergeben.[18] Eine definitorische Offenheit entspricht aber genau dem Impetus, mit dem die Digital Humanities angetreten sind, und sollte als Bestandteil ihrer Diskursgeschichte betrachtet werden: Offener Zugang zu Quellen, ein erweiterter Autor- oder Urheberbegriff sowie transparente Verfahren sollen Beschränkungen der geisteswissenschaftlichen Disziplinengeschichte überwinden oder aufweiten helfen und zu einer Liberalisierung des Wissensbegriffs beitragen, ohne dass dieser freilich beliebig wird (vgl. auch den Beitrag von Thomas Ernst). Diese Politik der Öffnung von Ressourcen, Methoden und Erkenntnissen im globalen virtuellen Raum sollte mit einer Offenheit in der Begriffsbestimmung von Digital Humanities einhergehen. Wie weit digitale Verfahren in einzelne Fachdisziplinen diffundieren werden oder können, wird letztlich auch von der Offenheit letzterer gegenüber den Digital Humanities abhängen.

Dabei erscheint es insgesamt wichtig, all diesen Bestrebungen adäquate Publikationsformate beiseite zu stellen, die zur wissenschaftlichen Diskussion, Überprüfung und Konsolidierung der Forschungsansätze beitragen: konsequenterweise in digitaler Form.

Ausgehend von den hier skizzierten Entwicklungen gründete sich in Deutschland anlässlich einer Digital Humanities-Tagung in Hamburg 2012 der Verein Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd) als Interessensvertretung der neuen Bewegung. 2014 fand in Passau die erste Tagung des DHd mit mehr als 300 Teilnehmern statt, ein überwältigender Erfolg für die junge Gemeinschaft. Sie stand in dem hier verhandelten Sinne unter der gleichermaßen programmatischen wie polemisch zugespitzten Fragestellung Digital Humanities – methodischer Brückenschlag oder "feindliche Übernahme"? Chancen und Risiken der Begegnung zwischen Geisteswissenschaften und Informatik.

Mit den hier – only online – publizierten Beiträgen versammelt der Band eine Auswahl des Tagungsprogramms, die das breite Spektrum von Themen und Herangehensweisen verdeutlichen soll, das von den unterschiedlichsten Fachdisziplinen in Bezug auf digitale Fragestellungen entwickelt wird. Das Konferenzthema enthält jene Provokation, die John Nerbonne in einem 10-Punkte-Plan in seiner pointierten Keynote »Die Informatik als Geisteswissenschaft« zum Anlass genommen hat, um neue Gedanken im Hinblick auf die Digital Humanities zu formulieren und durch gezielte ›Unterstellungen‹ zum Nachdenken herauszufordern. Der Resonanz der Bewegung geht Patrick Sahle nach, er spricht in »Digital Humanities - Gibt's doch gar nicht!« sogar von einem ›DH-Hype’. Bild- und Objektwissenschaften kommen in den zwanzig Beiträgen ebenso zu Wort wie die Textwissenschaften. Mit Themen und Schlagworten wie digitale Annotation, Audio-, Video- ,Text-Mining, digitale Edition, Forschungsdaten, Netzwerkanalyse, Mustererkennung, Normdaten, Ontologie, Open Access, Semantic Web, Stilometrie oder 3D-Rekonstruktion lässt sich das Feld abstecken, das – um es mediatorisch zu formulieren – sowohl den Fachwissenschaften als auch den Digital Humanities ihre Forschungsgebiete zuweist, und zwar in bewusster Überschreitung bzw. Durchlässigkeit der disziplinären Grenzen. Das betrifft nicht nur die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, die Philologien, die Erziehungswissenschaften, die Geschichtswissenschaft, die Kunstgeschichte, Mediävistik oder Philosophie, sondern auch die Informatik, die Informationswissenschaften und sogar die Nachrichtentechnik.Dass gerade in der Grenzüberschreitung die maßgeblichen Möglichkeiten der Digital Humanities liegen, den von C.P. Snow[19] beschriebenen Graben zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu überwinden, ist ein greifbares Resultat dieses Bandes. Die Digital Humanities bewähren sich damit als eine Praktik, die als »umbrella«[20] für eine konstruktive inter- und transdisziplinäre Diskussion wirksam werden kann, wo es – unbeschadet weiterer Definitionsbemühungen[21] – letztlich unerheblich bleibt, mit welchen abgrenzenden bzw. definitorischen Charakteristika die Digital Humanities bedacht werden.

Was sind also angesichts der Bandbreite von Themen und Fächern greifbare Methoden, Theorien und Projekte der Digital Humanities? Der etwas wagemutig formulierte Untertitel des Geleitwortes suggeriert eine feststehende Kategorisierung, vielleicht schon Kanonisierung von Methoden und Theorien. Wir können hier jedoch lediglich umreißen, was in den Disziplinen unserer Einschätzung nach verhandelt wird, und nur eine Skizze über die vorhandene DH-Landschaft geben: Allen voran steht in den philologisch wie historisch orientierten Geisteswissenschaften die Arbeit mit digitalen oder digitalisierten Textkorpora als Ressourcen sowie die damit einhergehende Entwicklung von digitalen Werkzeugen, die interoperabel und nachnutzbar sein sollen. Die Bemühungen zielen darauf, standardisierte Annotationsverfahren wie z.B. nach den Richtlinien des STTS Tag Sets oder den Guidelines der Text Encoding Initiative (TEI) im Bereich der Textaufbereitung einzuführen. Auch sollen Standards für Metadaten etabliert werden, um Insellösungen entgegenzuwirken. Im Bereich der Texterfassung bzw. -erschließung steht nach wie vor die Qualität von OCR-Ergebnissen und anderen Verfahren zur Texterkennung zur Debatte, sei es auf der Grundlage von Drucken der Frühen Neuzeit, sei es in anderen schwierigen Textständen von Fraktur oder Handschrift (vgl. den Beitrag von Fecker et al.).

Durch den Einsatz digitaler Tools können auch im Bereich der Wortforschung und linguistischen Erschließung historischer Korpora wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden. Denn auf der Grundlage der Erhebung und Auswertung digitaler Daten dokumentieren Ontologien oder themenbezogen ermittelte Texttypen Sprachbewegungen und Wortschatzentwicklungen.

Digitale Erschließung bedeutet auch Bestandssicherung. Sie führt uns Möglichkeiten vor, die sich für die lexikalische Erfassung, für Beobachtungen über den Wandel von Sprachgebrauch oder die Instrumentalisierung von Sprache ergeben. Sie zeigt aber zugleich die Grenzen auf, die mit einer solchen Erschließung verbunden sind: die Fehlerquotienten, die in automatisierten Verfahren bedacht werden müssen, die händische Nachbereitung, die bei großen Textkorpora mitunter noch kaum zu bewältigen erscheint.

Text verändert sich – gleiches gilt für Bild oder Musik –, wenn die Quelle mittels Daten erschlossen wird, die direkt mit ihr verbunden werden. Aus dem Scan wird durch Anreicherung von Tags der annotierte Text, der schließlich Bestandteil einer Edition ist. Jeder Eingriff stellt eine Bezeichnung, semantische Anreicherung und diesem Sinne auch Kommentierung und Deutung des Ausgangsmaterials dar; Angleichungs- und Standardisierungsprozesse sind dabei nicht nur eine Frage des Schriftsatzes, sondern auch eine Frage von Datenqualität. Gefordert ist hier neben der sorgfältigen Aufbereitung in der Einzelstudie auch ein hohes Methodenbewusstsein, um die Interoperabilität von Programmen, Tools und Contents zu gewährleisten bzw. zuzulassen.

Die Visualisierung von Ergebnissen hat darüberhinaus in den letzten Jahren in den digitalen Geisteswissenschaften an Bedeutung gewonnen. Digitale Referenzierungen auf Karten erlauben beispielsweise nicht nur geodatenorientierte Visualisierungen von historischen Fakten in einem Raumkoordinatensystem. Layer bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Sukzessionen und Sequentielles abzubilden. Genealogien und Dynastien lassen sich so mittels temporaler Verläufe in topographische Ebenen ebenso einpflegen, wie beispielsweise die Rekonstruktion von ›Soundscapes’ durch die Visualisierung des täglichen Glockenläutens in einer Stadt. Text Mining und Topic Modelling sind zwei weitere Bereiche, die vermehrt zur Anwendung kommen, was auch der zunehmenden Verfügbarkeit von digitalisierten Textsammlungen und durchsuchbaren Volltexten geschuldet ist, die weiterhin sukzessive auf- und ausgebaut werden. Das automatisierte Auslesen von Netzwerken aus großen Datenbeständen und die computergesteuerte Kollationierung von Texten bilden Forschungsmöglichkeiten wie das distant reading aus. Die Bewertung solcher und anderer Verfahren im digitalen Raum können dazu beitragen, dass das Bewusstsein für quellenkritische Fragen insgesamt geschärft wird und dies auch positive Rückwirkungen auf herkömmliche, nicht computergestützte Methoden der Text- und Quellenanalyse hat.

Die in diesem Band gebündelten Beiträge widmen sich Teilaspekten der skizzierten Forschungsherausforderungen und setzen zugleich ganz unterschiedliche Akzente in Bezug auf Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities: manche gehen das Thema forciert und direkt an, indem sie die Digital Humanities selbst in Frage stellen oder subversiv zu untergraben suchen, um sie im selben Atemzug zu rehabilitieren; manche argumentieren indirekter, indem sie vorführen, wie digitale Verfahren in einem noch ungesicherten fachdisziplinären Terrain zum Einsatz kommen (z.B. der Beitrag von Schuster et al. über Mixed Reality in den Erziehungswissenschaften) oder die Belastbarkeit einer fachwissenschaftlichen Fragestellung in Verbindung mit digitalen Methoden erprobt wird (z.B. Warum werden mittelalterliche und frühneuzeitliche Rechnungsbücher eigentlich nicht digital ediert? von Georg Vogeler oder Rot rechnen von Waltraud von Pippich). Die Beiträge und die ihnen zugrunde liegenden Projekte haben mitunter einen Experimentcharakter, der naturwissenschaftlichen Versuchsaufbauten kaum mehr fern steht. Gleichzeitig gilt zu bedenken, sich den epistemologischen Konsequenzen gegenüber wachsam und kritikfähig zu verhalten: Patrick Sahle, Stefan Heßbrüggen-Walter, Evelin Gius / Janina Jacke und John Nerbonne greifen dies in ihren Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven auf.

Weitere Artikel beschäftigen sich mit der Grundlegung einer digitaler Bildwissenschaft, dem Zusammenhang von Hermeneutik und Informatik, dem Urheberrecht und Konsequenzen, die aus einem kollaborativen Arbeiten erwachsen, mit der automatisierten Schreiberhanderkennung, der historischen Stilometrie und der Frage nach digitalen Ressourcen im Umfeld historischer Phänomene wie der Frauenbewegung oder deren Auswertung in Netzwerkanalysen, wie es Theresia Biehl, Anne Lorenz und Dirk Osierenski überzeugend für die Exilforschung vorführen. Welchen Nutzen Ontologien für die Philosophiegeschichte haben, beschäftigt Stefan Heßbrüggen-Walter, während Hanno Biber in einem kürzeren Beitrag die Online-Edition der Fackel von Karl Kraus vorstellt. Den Einsatz von 3D-Messdaten in Kirchenräumen bespricht der Beitrag von Lange und Unold, aus der Kunstgeschichte stammt auch der Beitrag von Waltraud von Pippich über die Bestimmung und die Auswertung von Rottönen in Bildern und Zeitdokumenten. Aus der Musikwissenschaft sind ebenfalls zwei Beiträge vertreten, die sich zum einen mit dem Einsatz von Videoannotationsdatenbanken beschäftigen, zum anderen mit der Erfassung von Migrationsbewegungen von Musikern. Aus der Computerlinguistik als einem affinen Feld der Digital Humanities schließlich stammt der Beitrag von Blessing et al., während die Frage nach dem projektübergreifenden Umgang mit heterogenen Daten in dem Beitrag von Gradl et al. skizziert wird.

Den Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities ist der erste Sonderband der neu gegründeten Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG) gewidmet. Der Auftaktband spiegelt pars pro toto wider, was die Zeitschrift künftig zu adressieren sucht. Es ist den Herausgebern daran gelegen, durch das so eröffnete Forum weitere Beiträge und vielleicht sogar Bände anzustoßen, denen es um die Darstellung und Bewertung relevanter digitaler Werkzeuge und Fragestellungen für die geisteswissenschaftliche Forschung geht. Zugleich soll die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften nicht nur eine Präsentationsplattform für Projektinhalte, sondern auch ein Diskussionsraum sein, in dem die Grenzen und Möglichkeiten der digitalen Potentiale kritisch beleuchtet und eingeschätzt werden sollen. In diesem Sinne ist der vorliegende Sonderband keine Standortbestimmung, mit dem Grenzen klar absteckt sind, sondern eine Bestandsaufnahme, die das angesprochene Ausloten und Changieren auf unterschiedlichen Ebenen vorführen will. Er fügt sich ein in den Kanon der Stimmen, die die Frage nach Chancen und Nutzen, aber auch Schwierigkeiten und Risiken digitaler Speicherung, Darstellung und Nutzung in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen stellen.[22]

Den Herausgebern des ersten Sonderbandes stellen sich – am Ende war dies vielleicht sogar vorhersehbar – aus dieser Gesamtschau heraus mehr Fragen, als dass sie schon mit Antworten aufwarten könnten. Wir verstehen dies als Herausforderung, die der Tatsache geschuldet ist, dass die einzelne Fallstudie zum Nachdenken über eine übergeordnete Problematisierung anregt und gerade durch die interdisziplinäre Qualität der Beiträge deutlich wird, mit welchem großen Spektrum an möglichen Forschungsfeldern wir es jetzt bereits zu tun haben. In der Vielfalt und Einmaligkeit zugleich liegen die Potentiale der Fächer begründet, die ihre je eigenen Anforderungen an digitale Fragestellungen entwickeln.

Wir danken an dieser Stelle ausdrücklich allen Autorinnen und Autoren, die mit ihrer fachlichen Doppel-Expertise zum Gelingen dieses ersten Sonderbands beigetragen haben, der uns Möglichkeiten aber auch Grenzen im Bereich des digital publishing aufgezeigt und damit formal seinen prototypischen Stellenwert für alle weiteren Veröffentlichungen der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften erwiesen hat. Dank gilt auch dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das über die Förderung des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel die Diskussion auch für die Selbstverständigung dieser Gedächtniseinrichtungen zu solchen elementaren Fragen ermöglicht, sowie dem Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd), der die Gründung der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften unterstützt.


Fußnoten

  • [1]
    McCarty 2003, S. 1224.

  • [2]
    Vgl. die Förderprogramme und -linien des Bundesministerium für Bildung und Forschung, z.B. Forschungsinfrastrukturen für die Geistes- und Sozialwissenschaften, 2013, besonders das Kapitel Forschungsinfrastrukturen in den Geisteswissenschaften, S. 21–33. Vgl. auch Schaal / Kath 2014, S. 334, die kritisch betonen, dass die Förderung sich zunehmend auf technische und technologische Innovationen versteife und weniger neue fachspezifische Fragestellungen unterstütze.

  • [3]
    Vgl. Schaal / Kath, S. 347, die davon ausgehen, dass »die Digitalisierung der Geisteswissenschaften ein unaufhaltsamer Prozess ist, der durch die Fachwissenschaften nur noch moderiert werden kann.«

  • [4]
    Vgl. die Ausstellung »Nervöse Systeme. Quantifiziertes Leben und die soziale Frage«, 11.3.-9.5.2016 im Haus der Kulturen der Welt, kuratiert von Anselm Franke, Stephanie Hankey und Marek Tuszynski (Katalog im Druck).

  • [5]
    Vgl. Richards 2013, der von einem »Unbehagen gegenüber den digitalen Geisteswissenschaften« spricht, das es aufzulösen gelte.

  • [6]

  • [7]
    Vgl. jüngst ausführlich mit einer Ausrichtung auf die Berliner DH-Landschaft Baillot: 2016, halshs-01251071.

  • [8]
    Eine Auswertung der Verteilung von Aktivitäten im Bereich der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum, auf die sich hier berufen ließe, liegt unseres Erachtens nicht vor. Der Geodatenbrowser von DARIAH-DE versammelt immerhin über 120 verschiedene Projekte an mehr als 250 Standorten weltweit in zeitlicher Relation; eine Auswahl nach Fachdisziplinen ist in der Filterung aber nicht vorgesehen.

  • [9]
    Vgl. DHd 2020.

  • [10]

  • [11]
    Jannidis 1999, S. 39-60.

  • [12]

  • [13]
    Vgl. insbesondere McCarty 2005.

  • [14]

  • [15]

  • [16]
    Vgl. über den Definitionsprozess und die Aufgaben der Digital Humanities auch Rapp 2013, S. 345.

  • [17]

  • [18]
    Zuletzt König 2016.

  • [19]

  • [20]

  • [21]

  • [22]
    Vgl. z.B. den Workshop »Grenzen überschreiten – Digitale Geisteswissenschaft heute und morgen«, veranstaltet vom Einstein-Zirkel Digital Humanities am 28. Februar 2014 in Berlin oder die Tagung »Digitale Kunstgeschichte: Herausforderungen und Perspektiven« vom 26.–27. Juni 2014 in Zürich.


Bibliographhische Angaben

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  • Ausstellung »Nervöse Systeme. Quantifiziertes Leben und die soziale Frage«, 11.3.–9.5.2016 im Haus der Kulturen der Welt, kuratiert von Anselm Franke, Stephanie Hankey und Marek Tuszynski (Katalog im Druck). [Nachweis im GBV]

  • Defining Digital Humanities. A Reader. Hg. von Melissa Terras / Julianne Nyhan / Edward Vanhoutte. Farnham 2013. [Nachweis im GBV]

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  • Matthew Kirschenbaum: Digital Humanities As/Is a Tactical Term. Debates in the Digital Humanities. 2012. [online]

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  • Willard McCarty: Humanities Computing. London 2005. [Nachweis im GBV]

  • Willard McCarty: Humanities Computing. In: Encyclopedia of Library and Information Science 2003, S. 1224–1235. DOI: 10.1081/E-ELIS 120008491 [online]

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  • Andrea Rapp: Aus Sicht der Geisteswissenschaften: Die wissenschaftliche Bibliothek als Schnittstelle zwischen digitaler Infrastruktur und geisteswissenschaftlicher Forschung. In: Evolution der Informationsinfrastruktur. Kooperation zwischen Bibliothek und Wissenschaft. Hg. von Heike Neuroth / Nobert Lossau / Andrea Rapp. Glückstadt 2013, S. 345–353. [Nachweis im GBV]

  • Earl Jeffrey Richards: Digitale Literaturwissenschaft: Perspektiven, Probleme und Potentiale der Philologien im ›digital turn‹. In: Textpraxis 7 (2013). [online]

  • Gary S. Schaal / Roxana Kath: Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Politischen Theorie? Der Ansatz der Neuen Visuellen Hermeneutik. In: Die Verfassung des Politischen. Festschrift für Hans Vorländer. Hg. von André Brodocz / Dietrich Herrmann / Rainer Schmidt / Daniel Schulz / Julia Schulze Wessel. Wiesbaden 2014, S. 331–350 [Nachweis im GBV]

  • Jeffrey Schnapp / Todd Presner / Peter Lunenfeld: A Digital Humanities Manifesto / The Digital Humanities Manifesto 2.0. 2009. [online]

  • C. P. Snow: The two cultures and the scientific revolution. Cambridge 1959. [Nachweis im GBV]

  • Manfred Thaller: Brücken schlagen oder zerschlagen? Das Fach Historisch-Kulturwissenschaftliche Fachinformatik an der Universität zu Köln. In: Computers – Literature – Philology (CLip). 6.–9.Dezember 2001. Abstracts. [online]