1.
»Dennoch: Der Online-Auftritt der ›Fackel‹ entspricht der Programmatik dieser
Zeitschrift. Obwohl oder weil man diesen Auftritt in mehrfachem Sinne auch als
»Tritt in die Öffentlichkeit« [F 909,12] wird bezeichnen können.«[1] Die AAC-Fackel, die digitale Ausgabe der von Karl Kraus vom
1. April 1899 bis Februar 1936 in 922 Nummern in Wien herausgegebenen
Zeitschrift Die Fackel wurde unter Anwendung
computerphilologischer, corpuslinguistischer und texttechnologischer Methoden im
Rahmen der an der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften gegründeten Unternehmung
AAC-Austrian Academy Corpus (unter der Leitung von
Evelyn Breiteneder) als digitale Musteredition
konzipiert, erstellt und am 1. Januar 2007 öffentlich und kostenfrei online
zugänglich gemacht.[2]
Vorarbeiten für die AAC-Fackel beruhen auf den
textlexikographischen Forschungen, die an der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften im Forschungsprojekt Wörterbuch der Fackel
durchgeführt wurden, für das der digitalisierte Text der Fackel erstmals für
Forschungsarbeiten genutzt wurde.[3] Das AAC-Austrian Academy Corpus ist ein
großes Textcorpus zur deutschen Sprache, »eine umfangreiche und komplex
strukturierte Sammlung von digitalen Volltexten zur deutschen Sprache und
Literatur im Untersuchungszeitraum 1848 bis 1989«[4] und somit Basis für die Entwicklung
innovativer texttechnologischer Anwendungen im Bereich der Corpusforschung wie
auch für philologische, text- und kulturwissenschaftliche Forschungen. Am
Institut für Corpuslinguistik und Texttechnologie (ICLTT) der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften, in dem in der Arbeitsgruppe LIT – Literature in
Transition & AAC-Austrian Academy Corpus das AAC betrieben wird, wird mit
diesen umfangreichen und gut strukturierten Textressourcen sowie mit anderen
Textcorpora philologische Grundlagenforschung in den Bereichen der
Corpusforschung und computergestützten Textwissenschaften geleistet.[5]
Das AAC-Programm bildet Schnittstellen zwischen kulturwissenschaftlichen und
textwissenschaftlichen Methoden und Prinzipien, philologischer Exaktheit,
wissenschaftlichen Editionstechniken, Fragen der Textstrukturierung, Annotation
und Kommentierung der Texte einerseits und zeitgemäßer forschungsspezifischer
sowie informationstechnologischer Anwendungen andererseits. In diesem
dynamischen Aufgabenfeld werden Konvergenzen der Grundlagenforschung im
geisteswissenschaftlichen Bereich hin zu deren Umsetzungsmöglichkeiten im
Kontext der Digital Humanities erarbeitet. Die AAC-Fackel
kann neben der digitalen Edition der literarischen Zeitschrift Der Brenner[6] in diesem Kontext als exemplarischer
Anwendungsfall einer aus der Corpusforschung und computergestützten
Textwissenschaft entstandenen digitalen Musteredition eines
literaturgeschichtlich bedeutenden Textes betrachtet werden. Ihr Zustandekommen
und die dafür notwendigen Bedingungen resultieren aus einer sich mit Sprache und
Fragen des besonderen Sprachgebrauchs auf empirischer Textbasis in einem
bestimmten, mit besonderen Eigenschaften ausgestatteten Textcorpus befassenden
Forschungsrichtung, wie sie im ICLTT und seinen Vorgängerunternehmungen seit
vielen Jahren betrieben wird.
Im Laufe der ersten sieben Jahre seit der Veröffentlichung der AAC-Fackel haben sich mehr als 27.000 Benutzer auf dem dafür
eingerichteten Webserver mit Email-Adresse kostenfrei registriert, um die zu
Verfügung gestellten Texte lesen und durchsuchen zu können. Die in der digitalen
Edition bereitgestellten Daten werden sowohl von von spezifischen Text- und
Sprachinteressen geleiteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erforscht,
als auch von allgemein an der Sprache und Literatur interessierten Leserinnen
und Lesern aus aller Welt vielfältig genutzt. Das Interface der AAC-Fackel, das nach den für diese Edition entwickelten
Prinzipien zur Funktionalität digitaler Textressourcen und von den
erforderlichen Überlegungen zum graphischen Design einer elektronischen Version
und Neuinterpretation einer historischen literarischen Zeitschrift bestimmt ist,
wurde von der in Los Angeles arbeitenden und lehrenden Designerin Anne Burdick
in Zusammenarbeit mit dem Projektteam des AAC gestaltet. Das Webinterface der
AAC-Fackel ermöglicht den Benutzern, die in
XML-Formaten und durch die entsprechenden informationstechnologischen
Transformationen digital aufbereiteten und darstellbar gemachten Texte sowohl
lesen als auch in komplexer Weise die in den Texten präsenten sprachlichen
Formen im Detail und in Verwendung corpuslinguistischer Methoden untersuchen und
analysieren zu können. Darüber hinaus kann auch in einfacher Weise in den Texten
der Zeitschrift nach sprachlichen Einheiten, Wortformen, Wörtern, Namen und
anderem gesucht und können dabei deren Eigenschaften erschlossen werden.
Das literarische Werk des wohl bedeutendsten Satiriker deutscher Sprache und
darin die 1899 bis 1936 in Wien herausgegebene Zeitschrift Die
Fackel des 1874 in Jičín in Böhmen geborenen Karl Kraus, der in Wien
gelebt, in vielen Städten Europas seine Texte vorgetragen hat und (wörtlich und
metaphorisch) weit darüber hinaus rezipiert wurde und wird, ist als überaus
bedeutender Beitrag der deutschsprachigen Literatur zur Weltliteratur zu
betrachten. Die Überlieferung der satirischen und polemischen Texte nun im
digitalen Medium, der Texte mit ihrer thematischen Vielfalt, sprachlichen
Komplexität und historischen Relevanz, muss für eine wissenschaftliche
Institution, die sich der zeitgemäßen Erforschung des kulturellen Erbes nach
neuesten wissenschaftlichen Standards verpflichtet hat, eine überaus wichtige
Aufgabe sein. In der digitalen Edition der AAC-Fackel
wird der gesamte Text dieser Zeitschrift somit einer neuen, an Literatur,
Sprache und Geschichte interessierten Leserschaft zugänglich gemacht, und die
einzigartige sprachliche und literarische Qualität dieser Texte wird unter
Nutzung computerphilologischer Methoden und texttechnologischer Instrumente
durch verschiedene Suchmöglichkeiten und Register in einer neuen und anderen
Weise erschlossen.
Die AAC-Fackel bietet neben der Volltextsuche und den
Registern mit ca. 6 Millionen Wortformen auch ein vollständiges, erstmals
publiziertes Inhaltsverzeichnis sämtlicher Texte der Zeitschrift, das für die
digitale Edition neu erstellt wurde. Dabei wurden sowohl die Angaben von Karl
Kraus in den Überschriften der einzelnen Beiträge bzw. von den Textanfängen und
den Inhaltsangaben der Hefte als auch jene Inhaltsverzeichnisse berücksichtigt,
die von ihm nachträglich für die jeweiligen Quartalsbände seiner Zeitschrift
erstellt wurden. Die vollständige Bildbeigabe aller 22.586 Textseiten (inklusive
der Umschlagseiten und Beilagenblätter der Zeitschrift) als digitale Faksimiles
ermöglicht den Nutzern die quelleneditorisch korrekte Zitierung aller Texte in
den 415 Heften und 922 Nummern der 37 Jahrgänge der Zeitschrift. Es ist für das
Interface vorgesehen, weitere neue Funktionen, wie etwa ein auf einer in den
letzten Jahren erstellten und bearbeiteten Namendatenbank der Fackel beruhendes Personennamenregister sowie später zusätzlich auch
ein Verzeichnis der Varianten der Hefte, in einer solcherart ergänzten
erneuerten Version der AAC-Fackel zu implementieren.
Die AAC-Fackel weist einige herausragende Merkmale in
ihrer Erscheinungsform auf. Es wurden fünf Frames zu einem stabilen Interface
integriert, so dass die die digitale Edition und ihre Prinzipien und Funktionen
beschreibenden Paratexte (paratexts) neben dem Suchframe (search/index) und dem
dazugehörigen Resultateframe (results) (Abbildung 3) ebenso je nach Bedarf zur
Verfügung stehen wie das Frame mit dem Inhaltsverzeichnis (contents) (Abbildung
2) und das Leseframe (texts) (Abbildung 1). Für die im AAC konzipierte digitale
Edition wurde im Rahmen der texttechnologischen Forschungen ein spezifisches,
funktionell gestaltetes Navigationsmodul konzipiert, mit dessen Hilfe im
Leseframe nicht nur von Seite zu Seite, von Heft zu Heft oder von Jahrgang zu
Jahrgang navigiert werden kann, sondern man auch (vom Resultateframe ausgehend)
zu im jeweiligen Recherchezusammenhang relevanten Textpassagen direkt gelangen
kann. »At every point we know where we are, how we arrived, and how to move
around while making use of the analytic features built into the project.«[7] Die besondere
graphische Umsetzung im Bereich des Inhaltsverzeichnisses im Webinterface
(contents) kompensiert die nicht unmittelbar erfassbaren physischen
Objekteigenschaften der Zeitschriftenhefte und Bände durch symbolische
Darstellung in Form von Icons und visuellen Informationen zu den Heften und
Bänden der Zeitschrift, so dass diese Größenverhältnisse auf diese Weise
unmittelbar erfahrbar gemacht werden. Die digitale Edition bietet somit eine
optisch wahrzunehmende Repräsentation der von Papierqualität, Papiervolumen,
Druck- und Bindungstechniken bestimmten Eigenschaften eines Druckwerks.
»As both a research tool and a digital record, the AAC allows scholars to explore
the pages of Die Fackel without making a trip to the archives. Therefore careful
consideration was given to the interpretation of the printed journal’s
materiality into/onto the screen. While the web version will always come up
short in certain aspects when compared to the print originals, a digitized text
can perform in ways that a physical archive cannot.«[8]
In der AAC-Fackel ist ein linguistisches Suchmodul
(search / index) eingerichtet, das es den an den Texten in besonderer Weise
interessierten Leserinnen und Lesern ermöglicht, corpusbasierte Abfragen
vorzunehmen und die Basisfunktionalität von mit linguistischen Tags versehenen
Textressourcen zu nutzen und die mit Part-of-Speech-Tags (nach dem STTS-Tagset)
und mit Lemma-Informationen angereicherten Textelemente in großer
Detailgenauigkeit zu untersuchen, wofür zweckdienliche technische Erläuterungen
zur Abfragesprache und den Abfrageparametern für das Suchinstrument in den
Paratexten der digitalen Edition bereitgestellt werden. Neben der Möglichkeit
auch komplex verknüpfte Suchen vorzunehmen, beispielsweise nach bestimmten
Wortarten und den Konfigurationen im Text nach dem Gebrauch des attributiven
Adjektivs vor einem bestimmten Nomen, kann auch mit Abstandsoperatoren gesucht
werden, oder können Suchen nach lemmatisierten Formen und in komplexer Weise
(unterstützt durch die dahinterliegende MSSQL-Datenbank) vorgenommen werden.
Darüber hinaus gibt es auch einen vollständigen Wortformenindex und einen
rückläufigen Wortformenindex, der Wortbildungsmuster in den Texten auf einfache
Weise nachvollziehbar macht. Für alle Ergebnisse werden die Frequenzangaben
ausgegeben, wie auch die jeweilige Stellenangabe mit dem Leseframe direkt
verknüpft ist, so dass der Fund mit der Stelle im Kontext der jeweiligen Seite
direkt verlinkt ist. Das Suchframe im Webinterface kann je nach Bedarf
modifiziert werden, um mehr oder weniger Text in den KWIC-Anzeigen der Resultate
auszugeben, die Suchen zeitlich einzuschränken oder die Anzahl der angezeigten
Treffer spezifisch anzupassen, um hier einige wichtige Funktionen zu nennen.
Komplex organisierte Texte und in diesem besonderen Fall die Texte einer
historischen literarischen Zeitschrift werden in der AAC-Fackel mit einem Inventar von literarischen Formen und
sprachlichen Eigenschaften in einer adäquaten und funktionellen Gestalt im
digitalen Medium so wiedergegeben, dass sie unter Nutzung der
texttechnologischen Möglichkeiten im neuen Medium, in das die Texte gleichsam
übersetzt werden müssen, neu gelesen, interpretiert und analysiert werden
können. Aus den Forschungsperspektiven der Literaturwissenschaft (mit Blick auf
das Werk von Karl Kraus im Besonderen), der corpusbasierten Textwissenschaft
(mit Blick auf die Erforschung von lexikalischen Eigenschaften), der
Zeitschriftenforschung (mit Blick auf die Erforschung von Strukturmerkmalen von
Zeitschriftentexten im Allgemeinen) kann hier abschließend auch die »Topographie
der Texte«[9]
beachtet werden. Dabei geht es um die räumliche Verteilung der Texte im Heft,
das einen sprachlichen Raum konstituiert, in dem es »Relationen der in ihm
enthaltenen Objekte zueinander gibt, der Nähe oder Ferne sowie
Richtungsbeziehungen der aufeinander verweisenden Texte, einen Innenraum der
Texte und einen durch die Umschlagseiten entstehenden Außenraum, deren Teile in
sich und von außen nach innen auf die Mitte hin strukturiert sind.«[10] Der
Textraum der Zeitschrift kann mit dem texttechnologischen Instrument der AAC-Fackel, der Navigationsmöglichkeit von Heft zu Heft,
den schnellen Auffindungsmöglichkeiten, den Tools zur Darstellung des
Inhaltsverzeichnisses aller Hefte, um hier nur ein paar Beispiele zu nennen,
nicht nur besonders gut untersucht werden, sondern es werden damit neue, darauf
basierende Interpretationen der Texte ermöglicht. Beispielhaft sei hier das
zweite im Rahmen des Forschungsprojektes Wörterbuch der Fackel
erstellte Wörterbuch erwähnt, das für die drei Teilbände nicht nur den
digitalisierten Text zur Analyse und Interpretation nutzen konnte, sondern auch
für alle angeführten Belegstellen der Fackel direkte, mit URL-Angaben versehene
Verweise vom gedruckten Buch in den digitalen Text verzeichnet.[11]
Die Antworten auf die Fragestellungen nach den geänderten Sichtweisen und
Steuerungsvorgängen durch die digitale Verfügbarbeit der Texte in einer
Forschungsressource und der damit verbundenen Reinterpretation und adäquaten
Präsentation der Ausgangsmaterialien in einer digitalen Edition liegen in der
optimalen Nutzung der durch die informationstechnologische Aufbereitung der
strukturellen wie lexikalisch-sprachlichen Einheiten der Texte gegebenen Such-
und Indizierungsverfahren sowie den verschiedenen, dadurch eröffneten
Zugangsmöglichkeiten zum Textgefüge und zu einzelnen Elementen der Mikro- und
Makrostrukturen der Textobjekte. »In der Fackel
entwickelt Karl Kraus eine eigene Typologie von Texten«,[12] die die semantischen
Zuordnungen und Beziehungen der Texte zueinander bestimmt, die mithilfe des
digitalen Zugriffs auf die Gesamtheit des Textcorpus ebenso untersucht werden
können, wie im sprachlichen Mikrobereich der Texte einzelne sprachliche
Formulierungen und ihre Dynamik im Kontext sowie der gesamte Wortformen- und
Lemmabestand corpuslinguistisch analysiert werden kann. »Welche Themen in
welcher Form behandelt werden, wird im Text an vielen Stellen reflektiert, und
viele Themen werden oft in verschiedenen Formen mit unterschiedlichen
Intentionen behandelt, in Aufsätzen, in Glossen, Notizen oder Inschriften.«[13] In einem
neuen Index für die digitale Edition der AAC-Fackel
sollen die Textsorten dieser Zeitschrift genau verzeichnet und dargestellt
werden. Eine zentrale Forschungsperspektive liegt von derartigen Fragestellungen
ausgehend nicht zuletzt auch in der methodisch-theoretischen Reflexion über die
sich durch die Kombination von editionsphilologischen Fragestellungen mit Fragen
der Informationstechnologie, der Texttechnologie und der Corpusforschung sowie
dem Webinterface Design sich ergebenden Konsequenzen und Forschungsansätze. Die
AAC-Fackel »creates a humanistic environment that
supports question, analysis, and study.«[14]