Abstract
Rot ist eine Farbe und Farbe ist nicht messbar. Ist das so? Das Redcolor-Tool erfasst erstmals Röte in Bildern. Dies geschieht anhand einer Technologie, die jeder Farbe einen Rotwert zumessen kann. Der Beitrag spielt die Implikationen der Farbanalysen für die stilometrische und die historische Bildforschung durch und fragt nach dem Potential der Eigenschaftsmetrik zur Bildung allgemeiner Kategorien für die Geisteswissenschaften. Der stilometrische Teil widmet sich Rotfrequenzen und Farbsummen. Als methodischer Schlüssel wird eine die Stilometrie fundierende ›Theorie der Koordination‹ favorisiert. Der historische Teil erfasst Rot als Symbol der Herrschaft und Macht. Er behandelt exemplarisch Bilder von Tizians Karl V. bis zu Bushs Merkelporträt.
How would you measure color? The software Redcolor-Tool enables redness in images to be quantified for the first time. The technology attributes values of redness to any given color. This paper explores the methodological implications of color analysis for stylometric and historical approaches to visual studies. Furthermore, it examines the potential of new categories for the humanities which could emerge from quantitative feature metrics. The stylometry section is devoted to red color frequencies and color sums. A ›theory of coordination‹ based in stylometry is proposed as the methodological key. The historical section analyses red as the symbol of power and authority. Portraits from Titian´s Charles V to Bush´s portrait of Angela Merkel are analysed, taking the color red as the interpretational basis of traditional and contemporary political iconography.
- 1. Technologie des Redcolor-Tools
- 2. Stilometrische Bildforschung
- 2.1 Statistische Dispersion der Farbwerte
- 2.1.1 Statistische Variabilität
- 2.1.2 Berechnungen zentraler Tendenz
- 2.1.3 Berechnungen mittlerer Tendenz
- 2.1.4 Kunst und Durchschnitt
- 2.1.5 Extreme Skalenwerte
- 2.2 Farbsummenrelationen
- 2.2.1 Koordination und Bild
- 2.2.2 Silberne Relation
- 2.2.3 Goldene Relation
- 2.3 Eigenschaftsextraktion durch methodische Koordination
- 2.4 Semantische Subordination
- 3. Zur Historie von Rot in Herrscherbildern
- 3.1 Rot als Symbol
- 3.2 Rotfrequenzanalysen
- 3.2.1 Herrscherbilder der klassischen Ikonographie
- 3.2.2 Politikerbilder heute
- 3.3 Rote Orte
- 3.4 Rot und Negation
- 3.5 Ästhetische Kategorien
- 4. Fazit
- Bibliographische Angaben
- Abbildungslegenden und -nachweise
- Glossar
1. Technologie des Redcolor-Tools
Farbe ist erkenntnistheoretisch der Akzidenz und nicht der Substanz zugeordnet, der Erscheinung und nicht dem Sein. Der Philosophie gilt sie als Paradefall der Qualia-Debatte, sie ist der Stachel im logozentrischen Weltbild. Als Element der Kunst ist sie kaum fassbar. Kunsttheoretisch traditionell dem Materiellen, nicht dem Geistigen zugewiesen,[1] ließe sich gar argumentieren, sie sei kein Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Forschung. Beachtet sie die Kunstgeschichte, so geschieht das selten und dann entlang historisch ausgerichteter Fragestellungen.[2] Es ist möglich, erfolgreich ein Studium der Kunstgeschichte zu absolvieren, ohne jemals das Wort ›rot‹ gesagt zu haben. Über farbige Abbildungen von Bildern ist zu hören: ›Das ist alles falsch.‹ Farbe steht paradigmatisch für das Gebundensein des Forschungsgegenstandes an das wahrnehmende Subjekt und paradigmatisch für Fragiles, das durch jede Art der Reproduktion an ›Echtheit‹ verliert. Dennoch stellt sich die Frage: Ist Farbe messbar? Was ist zu leisten, wenn es Technologie gibt, die Farbe objektiv ermittelt?
Die im Ommer Lab der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 2012 für die Erforschung von Farbe in Bildern entwickelte Software Redcolor-Tool ermöglicht präzise Analysen der Farbigkeit. Gegenstand der Farbanalysen sind digital vorliegende, entweder digitalisierte oder genuin digitale Bildelemente. Einem Pixel wird algorithmisch ein Farbwert zugewiesen. Numerisch wird der Farbwert in Zahlen gefasst, z.B.: Pixel x hat den Farbwert 0,00714. Das Messergebnis lautet 0,00714. Es gibt keine Nominalskala. Das Tool arbeitet ohne die Verwendung von Farbbegriffen und eliminiert mit der durch die Kluft zwischen Gegenstand (Analysandum) und Wort (Farbbegriff) für jede, nicht nur die automatisierte Attribution gegebenen Ungenauigkeit zugleich den methodischen Kardinalfehler. Denn Farbeigenschaften liegen nicht diskret, sondern kontinuierlich vor.
Die Technologie des Redcolor-Tools basiert auf dem Lab-Farbraum, der von der Commission Internationale de l´Éclairage zum internationalen Standard erhoben wurde. Die Metrik im Lab-Farbraum orientiert sich am menschlichen Sehen. Euklidische Abstände zwischen gleichwertigen Differenzen der Farbempfindung ermöglichen, die menschliche Wahrnehmung mathematisch zu approximieren. Es entsteht ein metrisches Skalenniveau. Die sogenannte Gleichabständigkeit im Lab-Farbraum beinhaltet, dass Farbwerte mit den gleichen metrischen Abständen auch den als gleich wahrgenommenen Differenzen des Farbeindrucks entsprechen. Das intensivste durch das menschliche Auge wahrzunehmende Rot wird durch die informatische Lösung des Redcolor-Tools dem Beginn der Skala (0,00001) subordiniert.
Farbe wird durch die Software also einerseits als Gegebenes (Analysandum) und andererseits als Wahrgenommenes (Metrik) erfasst. Die erarbeiteten Algorithmen führen den Parameter des betrachteten Objekts mit dem Parameter des betrachtenden Subjekts durch Pixelanalyse und Lab-Metrik auf technologischer Ebene zusammen.[3] Farben, diese vormals lautlosen Elemente, haben durch den quantifizierenden Zugang zum Farbkosmos und die kalkulierte Subjekt-Objekt-Relation für die wissenschaftliche Forschung gleichsam eine Stimme gewonnen. Die folgenden Fallstudien kontrastieren die Implikationen der digitalen Messtechnologie für die stilometrische und die historische Bildforschung.
2. Stilometrische Bildforschung
Stilometrie erfasst formale und formalisierte Eigenschaften. Zu diesen Eigenschaften lassen sich neben Größen-, Zahl- und Mengenangaben von Linien, Flächen und weiteren Formen auch Farbeigenschaften zählen. Jedes Bild ereignet sich auf seine eigene Weise, – individuum est ineffabile – das Einzige ist unausschöpflich. Dennoch gehen stilometrische Arbeiten davon aus, dass sich Individual- und Epochenstil anhand einer Reihe formaler und formalisierter Merkmale eruieren lassen. Gewiss ist nicht jedes Merkmal in stilometrischen Untersuchungen adäquat erfasst, gewiss ist nicht alles zu berechnen. Doch in der Reduktion der Methoden auf wenige Parameter liegt ihre Effizienz.
Methodisch wird der Farbkreis als aus 16 Farbklassen bestehend verstanden. Die Farbklassen bilden die Farbwerte 1–16. Ein Farbwert wird definiert als diskrete Menge auf der Skala kontinuierlich nebeneinanderliegender feinster farblicher Nuancen, z.B. ist Farbwert 1 die Menge der Nuancen {0,00001, …, 1,0}. Farbwert 1 entspricht intensivem Rot. Farbwert 16, der tiefem Dunkel gleicht, geht gemäß der spektralen Ordnung im Lab-Farbraum in Farbwert 1 über. Ein Bild wird als Komposition begriffen, die aus den 16 Farbklassen besteht. Das Bilden von Farbklassen birgt eine Reduktion farblicher Vielfalt, zugleich jedoch auch die methodische Erweiterung zur Exploration, Extraktion, Artikulation und möglichen Komparation farbformaler Eigenschaften.
Das Analysandum ist im vorliegenden Fall ein Korpus aus 50 Bildern (m01–m50) von Adolph Menzel.[4] Digitalisierte Abbildungen der Bilder mit der Auflösung von 300 dpi werden von der Software analysiert und die Prozentzahlen der 16 Farbwerte bemessen auf die Gesamtfläche für jedes Bild berechnet. Bilddaten und Messdaten dieser Analysen sind der Tabelle (Abbildung 1) zu entnehmen. Ein Diagramm (Abbildung 2) der Farbwertkompositionen von 100 Gemälden, links die 50 Korpuswerke, rechts 50 aleatorisch gewählte, verschiedene Werke aus unterschiedlichen Epochen lässt das Vorliegen impliziter patterns auf der die homogene Autorschaft repräsentierenden Seite deutlich werden. Die im Diagramm aufscheinenden patterns sind durch die Extraktion farbformaler Eigenschaften explizit nachweisbar. Die Messdaten sind die Grundlage der Berechnungen von Farbfrequenzen und Farbwertrelationen. Es gilt, bekannte Muster zu identifizieren und noch namenlose Muster zu benennen.
2.1.1 Statistische Variabilität
Die Range der Farbigkeit eines Bildes beschreibt die Spannweite der erzielten Messergebnisse auf der verwendeten Skala. Abzulesen ist aus diesem Wert die statistische Streuung und Variabilität der Messergebnisse. 30 der 50 Werke weisen die maximale Range 1–16 auf. 3/5 des Korpus erfüllen das Merkmal extensiver farblicher Variabilität. 2/5 hingegen zeigen eine reduzierte Range. Bei 17 Bildern beträgt diese 2–16, das heißt, die Range ist moderat reduziert. Gemäßigt ist die Variabilität zweier Gemälde mit der Range 3–16. Die kürzeste Range (4–16) wird für Menzels Bild Berlin-Potsdamer Bahn gemessen. Spektralanalysen (Abbildung 3),[5] die die Messergebnisse in Farbe übersetzen und Bildelemente in Farbsummen zusammenführen, vermitteln die unterschiedliche Verteilung der Farbwerte in den Bildern mit minimaler und maximaler Range.
Die Standardabweichung der Farbverteilung eines Bildes beziffert die durchschnittliche Differenz der Messergebnisse von ihrem Mittelwert. Der Mittelwert (6,25) ist die durchschnittliche Klassenhöhe.[6] Die durchschnittliche Standardabweichung der Bilder liegt bei 6,4. Das heißt, Klassenhöhen um 12,7 und sehr geringe Klassenhöhen um 0,01 liegen im Korpus im Durchschnitt. Die höchste Standardabweichung erreicht die Farbkomposition des Gemäldes Frühmesse in einer Salzburger Kirche (10,79). Gewaltige Klassenhöhen in Kombination mit einer leeren Klasse und äußerst geringen Klassen erzeugen beträchtliche Differenzen vom Mittelwert. Erreicht ist eine niedrige Standardabweichung, die für ähnlich und gleich große Farbmengen steht und somit hinsichtlich der Proportion einzelner Farbklassen zueinander Gleichwertigkeit bezeichnet, tatsächlich einzig in einem Biergarten (3,37) betitelten Bild. Der Vergleich der Spektralanalysen der Bilder mit der geringsten und der höchsten Standardabweichung visualisiert die verschiedenen Frequenzen (Abbildung 4).
2.1.2 Berechnungen zentraler Tendenz
Der Modalwert ist der Wert, der am häufigsten gemessen wird. Es ist der Wert, dessen Farbe die größte Bildfläche bedeckt. Doch hier ist Vorsicht geboten: denn es liegen nicht nur zusammenhängende Gebiete vor, die Pixel können durch Pixel anderer Farbklassen getrennt sein. Im Korpus lassen sich zehn unterschiedliche Modalwerte zwischen Farbwert 4 und 15 feststellen.[7] Geprüft werden auch die in einem Bild am zweit- und dritthäufigsten gemessenen Farbwerte. Die Mengen dieser Farbwerte werden mit den anderen Mengen im Bild verglichen. Gewisse Kombinationen fallen dabei auf. Es lassen sich Gruppen an Bildern identifizieren, die Eigenschaften teilen. Die Bestimmungen folgen dem Prinzip der Koordination als einer gleichordnenden, nicht hierarchisierenden Methode der farblichen Stilometrie und werden in Abschnitt 2.3 vorgestellt.
Der Median teilt die Anzahl der Messergebnisse in zwei gleich große Hälften. Er wird auch das 50%-Quantil genannt. Die Lage des Median zeigt an, welche Stelle der Skala die Messergebnisse in jeweils 50% und 50% teilt. Der Median der Korpusbilder befindet sich an unterschiedlichen Positionen zwischen 5,5 bis hin zur Stelle 14,3. Dies weist auf ausgesprochene Varianz in der Bedeckung der Bildfläche mit Farben. So sind in der privaten Szene Wohnzimmer mit der Schwester des Künstlers 50% der Messergebnisse röter als der Farbwert 5,5. Und in der Nachtszene Mondschein über der Friedrichsgracht im alten Berlin sind 50% der Messergebnisse dunkler als der bereits dunkle Median 14,3. Die Spektralanalysen (Abbildung 5) der Gemälde bilden die Unterschiede der Farbdispersion ab.
2.1.3 Berechnungen mittlerer Tendenz
Die Interquartilsspanne (IQR für engl. interquartile range) erweitert die Aussagekraft des Median. Sie gibt die Spannweite der Messwerte zwischen dem 25%-Quartil und dem 75%-Quartil an. Nun ist zu bestimmen, über wie viele und über welche Skalenwerte verteilt die mittleren, die extremen Lagen aussparenden 50% der Messergebnisse liegen. Bei den untersuchten Werken erstreckt sich die IQR über zwei Farbwerte hinweg bis zu einer Spanne von sechs Farbwerten, sie befindet sich an unterschiedlichen Lagen: Kurz ist sie im Bild Emilie Menzel schlafend. Zu den Bildern mit weiter IQR gehört Kronprinz Friedrich besucht Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg. Eine Gegenüberstellung der Spektralanalysen der Bilder mit minimaler und maximaler IQR, bei unterschiedlicher Lage der IQR auf der Skala, vermittelt die Diversität der Farbkompositionen (Abbildung 6).
2.1.4 Kunst und Durchschnitt
Die Werte der zentralen und mittleren Tendenz sind robust gegenüber Ausreißern, sie liefern jedoch hilfreiche Angaben im Rahmen der explorativen Statistik. Die Angaben sind modellbedingt und skalenabhängig, beschreiben aber die Phänomenologie der Bilder. Sie bieten einen analytischen Mehrwert innerhalb der Stilometrie, sie diversifizieren. Anders verhält es sich mit der Angabe eines Durchschnittswertes.[8] Der Durchschnittswert eines Bildes ist nicht zwangsläufig im Bild selbst zu sehen. Wird der Durchschnittswert auf der Grundlage der Pixelauflösung und der Farbauflösung am Monitor nach dem RGB-Modell gebildet, so orientiert der Wert sich nicht an der Phänomenologie der Bilder, er ist auflösungs- und gerätebedingt. Er leistet keinen analytischen Mehrwert, er diversifiziert nicht, er vereinfacht.
Den digitalkünstlerischen Darstellungen Lev Manovichs liegen beispielsweise die durchschnittlichen Grauwerte der Helligkeit und Sättigung gemäß der Pixelauflösung am Monitorgerät zugrunde.[9] Die vordergründig wie mathematische zweiachsige Koordinatensysteme funktionierenden Darstellungen zeigen auflösungs- und geräteabhängige Durchschnittswerte. Selbst wenn Manovich noch einmal 1 Mio. Bilder nach dieser Methode berechnen ließe, blieben die Ecken der nominell zu Koordinatensystemen deklarierten Abbildungen leer. In mathematischen Koordinatensystemen geben die Ecken die Extreme an. Doch ein System, das per definitionem nur Durchschnitte registriert, markiert die Ecken zwangsweise zu blinden Stellen. Zur Extraktion farbformaler Bildeigenschaften ist diese Methode der Medienkunst ungeeignet. Der Durchschnittswert erfasst keine Eigenschaft des Bildes.
Extreme und Ausreißer sind innerhalb des Bildlogos nicht zu unterschätzen. Sie spielen innerhalb des analytisch-stilometrischen Zugangs zu einem Kunstgebilde eben gerade keine marginale Rolle. Ihre eigentümliche Funktion im schöpferischen wie im wirkungsästhetischen Prozess ist kaum zu fassen.[10] Die gegenüber extremen Skalenwerten robusten Werte der zentralen und mittleren Tendenz sind für die farbliche Stilometrie durch das Registrieren extremer und seltener Farbwerte zu ergänzen.
2.1.5 Extreme Skalenwerte
Was kann im Bereich Farbe als extrem angesehen werden? Ist es das Glitzernde, der besondere Schein? Statistisch lassen sich Extreme nur im Rahmen einer Skala bestimmen. Die künstliche, durch den Computer programmierte Hierarchisierung des seiner Natur nach nicht hierarchisch organisierten Farbkosmos definiert Farbnuancen um 0,01 und 16 als Extreme. Es ist dabei zwischen extremen und seltenen Skalenwerten zu unterscheiden. Im Menzel-Korpus koinzidieren diese Werte. Dabei liegen die roten Extreme bei den hier untersuchten Gemälden m01–m14 in einem höheren Bereich als bei den Gemälden m15–m50.
Ein Bild sei hinsichtlich seiner Komposition der Rotwerte dargestellt: das Gemälde Ballszene (Abbildung 7). Zu sehen ist eine Frau in einem roten Ballkleid als zentrale Figur in einer Szene, die sich am Rande des Parketttreibens abspielt. Dieses Gemälde weist im Verhältnis der Farbwerte 7/6/5/4/3/2 zueinander kontinuierlich die Zahl Phi (1,61…) auf. Die Werte erzeugen zueinander die goldene Relation.[11] Das Bild lässt sich demnach als Farbkomposition begreifen, in der tiefrote Teile und Farben nachlassenden Rots in sich wiederholender Proportion aufeinander abgestimmt sind und sich durch die Zahl aufeinander beziehen. Durch die beschriebene Gleichabständigkeit im Lab-Farbraum betrifft eine Schilderung der Zahlenverhältnisse die Phänomenologie des Bildes. Es ist die Informationstechnologie, die Binnenstrukturen durch Numerik zur Artikulation verhilft und das Bild auf eine zuvor nicht mögliche Weise farbformal zu beschreiben hilft.
Die Erfassung der dunklen Extreme vollendet die Berechnungen zur statistischen Dispersion der Farbwerte. Abermals fallen Größenverhältnisse der goldenen Proportion auf. Im Gemälde Mondschein über der Friedrichsgracht im alten Berlin bedeckt der Modalwert (15) die Leinwand zu 37,1%. Diese Zahl stellt den Rest des Bildes (62,9%) zum vom Modalwert bedeckten Teil und das gesamte Bild zu diesem Rest in das goldene Verhältnis. Die Bilder Théâtre du Gymnase und Emilie Menzel schlafend zeigen das goldene Verhältnis der dunkelsten Farbwerte (15/16) zueinander. Bei den Messungen zu Extremen fällt zudem auf, dass zwei Bilder in beiden Skalenextremen hohe Quantitäten erzielen: Auf der Fahrt durch schöne Natur und Blick in einen kleinen Hof.[12]
2.2.1 Koordination und Bild
Der Logos des Bildes betrifft das Verhältnis der Teile zum Ganzen und das Verhältnis der Teile zueinander. Anders als der Logos der Subordination der Sprache, der aus Verhältnissen begrifflicher Unter- und Überordnung aufbaut, ereignet sich der Logos im Bild, nur im übertragenen Sinne ist von einem Logos zu sprechen.[13] Es finden sich gleichordnende Verhältnisse der Kombination, des Konsonierens, des Simultanen. Es ist ein ›Logos der Koordination‹, des co-, des cum-, so wie es die lateinische Wortgruppe um coordinatio nahelegt. Der Seite einer möglichen Ko-Partizipation von Farben in multiplen Summenverhältnissen entspricht auf der Seite der Wahrnehmung eine ästhetische Kontemplation, die sich, anders als beim Lesen von Worten oder Hören von Sprache, ohne eine durch den Sinn vorgegebene Reihenfolge entfaltet.
Ein Schlüssel zur Erforschung des Farblogos im Bild liegt im Erfassen der Relationen einzelner Farbteile zueinander und zum Bildgesamt. Relationsstudien bieten methodisch entscheidende Vorteile. Sie eliminieren einige skalierungs-, modell-, auflösungs- und aufnahmebedingte Hürden, die Schwierigkeiten konsistenter Formalisierungsprozesse darstellen.[14] Die Relation etwa ist modellbedingt, doch nicht stets skalierungsabhängig. Sie ließe sich bei anderen, die Farbklassen definierenden Schwellwerten im Lab-Farbraum ebenso nachweisen. Die lineare Skala löst sich zudem bei der Beachtung der Relationen im spektralen Farbganzen zum Zyklus, die ursprüngliche, nicht hierarchische Natur des Spektrums entfaltet sich, der Farbkreis schließt sich. Relationen leisten Konnex zwischen Gliedern sowie zwischen Partikeln und Ganzem. So werden die Berechnungen zur Relation zum Instrument der Artikulation von Binnenstrukturen. Auf der Suche nach impliziten patterns bietet ein Erfassen der Relation die Aussicht, einen Verhältniswert in weitere, komparative Forschung einbinden zu können.
Wie verhalten sich nun im hier untersuchten Korpus einzelne Farbwerte und Summen der Farbwerte zueinander? Einige Zahlen tauchen häufiger auf. Modellbedingte[15] und zahlentheoretische[16] Eigenschaften der Zahlen beleuchten weniger die Natur des individuellen Bildes als diejenige des Modells und der Zahlen. Bekannte mathematische Relationsbeschreibungen reichen für eine systematisch stilometrische Analyse der Farbigkeit in Bildern nicht aus und sind um Prinzipien zu erweitern, die durch den Kunstorganismus Bild entstehen und ihn deshalb beschreiben.[17]
2.2.2 Silberne Relation
Das Bild Eisenwalzwerk (m31) weist die Farbwerte 8–13 in der folgenden, eigentümlichen Staffelung auf (in %): 7/14/21//15/10/5.[18] Der Modalwert lautet 10 (21%), der zweithäufigste Farbwert ist 11 (15%). Das heißt, die Mengen dieser beiden exponierten Farbwerte ereignen sich zu röteren und weniger roten Farbwerten in einer 7-er und in einer 5-er Rhythmik. Stabil aber sind dabei die Relationen 2 und 3, die der 7/14/21-Reihe ebenso wie der 5/10/15-Reihe zu Grunde liegen, stabil ist die Relation der Glieder. Hier zeigt sich, dass nicht die absolute Prozentangabe, sondern die Relation der Glieder zueinander einen Anker für den weiteren forschenden Prozess bietet.
Forscht man etwa in m31 an der beschriebenen Stelle weiter, auf die Relation achtend, so zeigt sich, dass die beschriebenen Farbwerte gemeinsam eine Farbsumme von etwas über 70% bilden. Die Quantität approximiert zum Rest des Bildes die silberne Relation (2,41…). Es finden sich auch weitere, die silberne Relation annähernde Verhältnisse im Bild.[19] Die Zahlen unterscheiden sich, doch die Zahlenverhältnisse der Farbklassen sind dieselben. Die Relation fungiert als Konstante zwischen den Größen der Glieder und artikuliert ihr Binnenprinzip. Die in rationalen Zahlen nicht vollständig auszudrückende silberne Relation findet durch die Ästhetik zweier Quantitäten vollständigen Ausdruck, ihre Rolle im Farblogos der Bilder ist noch rätselhaft.
2.2.3 Goldene Relation
Warum steht die irrationale Zahl Phi (1,61…) für ein Größenverhältnis, das sich auch proportio divina nennt? Das Göttliche hat einen Bezug zum Schöpferischen. Durch einen einzigen Akt der Teilung wird mehr als ein einziger Bezug erreicht. Eine Teilung erzeugt zugleich zweimal dieselbe Relation, das ist eigentlich ein Wunder und jedenfalls eigenartig. Zugleich wird das Gesamt zum größeren Teil und der größere Teil zum kleineren in das von Phi repräsentierte Verhältnis gesetzt. Das Teilungsverhältnis wurde als ein harmonisches beschrieben, die entstehenden Relationen golden und die Teilung der goldene Schnitt genannt.
Zahlen der Fibonacci-Folge (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, …) sind häufig involviert, wenn das Verhältnis des goldenen Schnittes vorliegt. Sie erreichen im Verhältnis zur in der Fibonacci-Folge vorangehenden Zahl weitgehende Annäherungen an Phi. Jede Zahl der Reihe ist die Summe der beiden vorangehenden Zahlen. Die Fibonacci-Folge repräsentiert ein sich selbst logisch fortsetzendes, selbstursprüngliches Prinzip. Die Kunstproduktion hat Affinität zu dieser Eigenart.
Wegweisend sind die Forschungen Werner Buschs zu Verhältnissen des goldenen Schnittes in der Linien- und Flächenkomposition gerade auch in Menzels Bildern.[20] Es gibt demnach eine durch Zahlen zu artikulierende Ordnung in dieser Kunst. Phi findet sich auch im Verhältnis von Farbquantitäten in Menzels Gemälden.[21] Der Farborganismus nach der goldenen Relation wird hier für drei Gemälde vorgestellt. Die Kreisdiagramme, die die Größenverhältnisse der Farbwerte und zugleich ihren Ort in der spektralen Ordnung abbilden, übernehmen dabei eine mehr als illustrierende Funktion. Denn das durch Phi repräsentierte mathematische Verhältnis ist nicht in rationalen Zahlen darstellbar, mit Worten kaum zu beschreiben. Visuell aber ist es vollständig durch die Perzeption des Größenverhältnisses erfassbar. So wird die Ansicht der Diagramme ein Verständnis für die spezielle Relation erst erzeugen helfen.
Das Bild Balkonzimmer (m12, Abbildung 8) gehört zu den besonders bekannten Gemälden Adolph Menzels. Spektralanalysen (Abbildung 9) visualisieren Farbwertgruppen, Kreisdiagramme (Abbildung 10) legen die Proportionsverhältnisse dar. Das ›Menzel-Modalwertpaar‹[22] bedeckt die Leinwand zu 37,17%. Der Rest des Bildes steht somit zum Modalwertpaar und das ganze Bild zum Rest im goldenen Verhältnis. Nicht weniger als sechs Mal findet sich diese Farbproportion im Bild.[23] Die Fibonacci-Zahl 55 (Werte 9–12) erzeugt die goldene Relation im Verhältnis zur Fibonacci-Zahl 34 (Werte 5–8).[24] Noch einmal ertönt die Fibonacci-Zahl 55 (Werte 1–9) und erzeugt Phi im Verhältnis zur Fibonacci-Zahl 34 (Werte 1–8), die sie selbst beinhaltet.[25]
Chaos begegnet dem Betrachter von Menzels Gemälde Piazza d´Erbe in Verona (m28 (Abbildung 11), Spektralanalysen (Abbildung 12), Kreisdiagramm (Abbildung 13)), das den ganz gewöhnlichen Alltag auf einem italienischen Wochenmarkt schildert. Werner Busch detektierte die Regeln im Flächenorganismus dieses Bildes.[26] Farblich ist ebenfalls Ordnung im Chaos zu entdecken: Eigentümlich färbt das ›Menzel-Modalwertpaar‹ jeweils zu 21% das Bild. Fibonacci-Relationen im Bild sind 8/13/21//21/13/8/5 (Werte 7–12), 55/34 (Werte 10–16, 8–9), abermals 55/34 (Werte 8–10, 11–16), 34/21 (Werte 11–16, 10), 34/21 (Werte 8–9, 10), Wert 9 zu 8, der Wert 8 annähernd zu Wert 7. Die Farbsumme der Werte 9–12 approximiert im Verhältnis zum Leinwandrest den goldenen Schnitt.
Das Gemälde Théâtre du Gymnase (m03 (Abbildung 14), Spektralanalysen (Abbildung 15), Kreisdiagramm (Abbildung 16)) stellt eine Besonderheit der Menzelforschung dar. Einzig dieses Bild hielt dem an reiner Farbenwirkung orientierten Urteil Julius Meier-Graefes stand, als dieser in seiner Menzel-Monographie die Werke des Malers vor dem Hintergrund zeitgleicher moderner Bestrebungen der Kunst in Frankreich kritisierte.[27] Starke Rotwerte (1–5) bilden die goldene Relation zum Leinwandrest. Fibonacci-Relationen sind 55/34/21 (Werte 1–7, 8–10, 11–3), 21/13 (Werte 3–4, 5). Die Fibonacci-Zahl 89 (Werte 4–16) steht im Bild dem starken Rot (1–3) entgegen. Einer Reprise gleich erklingt dieses Verhältnis im anderen Skalenextrem. Die Fibonacci-Zahl 89 (Werte 1–10) steht dem Dunkel (11–16) entgegen. Gleichzeitig, einer anderen Ordnung als der der Fibonacci-Zahlen entspringend, summieren sich die vier einander im Kreisdiagramm chiastisch gegenüberliegenden, jeweils die Fibonacci-Zahl 13 annähernden Farbwerte 4, 5, 9, 10 zu 50% und färben gemeinsam eine Hälfte des Bildes. Das ›Menzel-Modalwertpaar‹ trifft seine farblichen Antagonisten.
Wentworth Thompson erforschte den Zusammenhang zwischen dem Wachstum natürlicher Organismen und den Zahlen der Fibonacci-Folge.[28] Einzelnen Gliedern eignet durch das goldene Verhältnis zueinander eine besondere Effizienz und Stabilität. Beim Malen entstehen auf der Leinwand künstlich wachsende Farbsummen. Die Farbglieder weisen in Menzels Bildern zueinander häufig die goldene Relation auf, wie gezeigt wurde. Die Bedeutung des goldenen Verhältnisses für jede Farbkreation kann hier nicht erschöpfend bestimmt werden. Der Zusammenhang der Farbkombinationen zur Logik rekurrenter mathematischer Reihen und die in Zahlen zu erfassenden Gemeinsamkeiten zwischen natürlich und künstlich wachsenden Organismen aber ist im Blick zu behalten.
2.3 Eigenschaftsextraktion durch methodische Koordination
Die Messergebnisse zeigen, dass viele Gemälde das Modalwertpaar teilen. Es war nicht vorauszusehen, dass sich diese Bilder auch in der erreichten Range und Standardabweichung, der Position der Quartile und der Interquartilsspanne gleichen oder ähneln würden. Die Eigenschaftsbündel sind wertvoll zur Detektion der patterns. Die Verteilung der Farbwerte der Korpusbilder kann in einem kumulativen Frequenzhistogramm (Abbildung 17) dargestellt werden. Die horizontale Achse zeigt die 16 Farbwerte, die vertikale Achse die Prozentzahl bemessen auf die Gesamtfläche des Bildes von 100%. Graphenbündel in der Mitte sowie auf der linken und rechten Seite des Histogramms sind zu determinieren. Das Frequenzhistogramm von 16 Bildern des Korpus zeigt Gruppen, die Eigenschaften teilen. In der Mitte sind die Graphen der prominenten Werke mit dem ›Menzel-Modalwertpaar‹ zu verorten.[29] Eine lichtere Farbdispersion weisen die Graphen im Histogramm links auf. Hier gibt es Frequenzen intensiven Rots[30] und moderate Rotfrequenzen.[31] Rechts im Histogramm kumulieren die Graphen der Bilder mit dunklem Modalwert, die wiederum weitere farbformale Eigenschaften teilen.[32]
Neben silbernen und goldenen Relationen gehören Modalwerte, Modalwertpaare, Zahlen zu extremen und seltenen Frequenzen, weitere deskriptiv statistische Angaben sowie Kombinationen dieser Eigenschaften zu patterns, die sich gemäß der koordinierenden Methode extrahieren lassen. Im Rahmen der Koordination wird ein Mit- und Nebeneinander, Ähnlichkeit, Unterschied, ein sich Drängen und eine Rhythmik im Aufbau der Elemente erfassbar. Die systematische Koordination ist die methodische Grundlage digitaler farbanalytischer Stilometrie.
Eine Folge der koordinierenden Methode ist, dass fehlende und überschüssige Pixel gleichermaßen zum Vorliegen von messy data beitragen. Innerhalb einer als allgemein zu verstehenden ›Demokratie der Pixel‹ trägt jedes Bildelement zum Ergebnis bei, dem Ansatz der ikonographisch identifizierenden, subordinierenden Methode entgegengesetzt.[33] Mit der Ebene der Subordination ist das Feld auch um mögliche Fehler erweitert. Der folgende Versuch der Interpretation einiger detektierter Muster ist in all den Schranken zu verstehen, die eine solche Untersuchung mit sich bringt.
2.4 Semantische Subordination
In Bildern mit sehr hoher Standardabweichung stehen gewaltige Farbmassen geringsten Mengen entgegen und erzeugen den Eindruck des Überdimensionalen. Ikonographisch gehören im untersuchten Korpus Bilder mit kolossaler Standardabweichung zur Vergegenwärtigung des Sakralen (Frühmesse in einer Salzburger Kirche, Kircheninterieur). Farbformalistisch diametral entgegengesetzt ist die Komposition gleich großer Farbwertklassen in Schilderungen des Profanen, so im Biergarten. Geringen Unterschieden der einzelnen Klassenhöhen entspricht eine geringe Standardabweichung. Die das Vertraute betonende Darstellung Schlafzimmer des Künstlers in der Ritterstraße und die das Unkonventionelle und Leichtigkeit verkörpernde Szene Kronprinz Friedrich besucht Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg weisen ebenso sehr geringe Standardabweichungen auf.
Extreme Skalenwerte finden sich jeweils in großen Mengen in den Bildern Auf der Fahrt durch schöne Natur und Blick in einen kleinen Hof (Abbildung 18). Die inhaltlichen Innen-Außen, Natur-Kultur, Nah-Fern-Dualismen werden von formalen, tief kontrastierenden Farbkombinationen von starker Röte und Unröte wie Rot-Grün begleitet. Die Interquartilsspanne kann bei Gemälden privater, beengter Raumsituation schmal sein wie im Bild Emilie Menzel schlafend. Maximal kann sie erscheinen, wenn räumliche Weite und der Kontrast Nah-Fern dargestellt sind, so in den Gemälden Blick in einen kleinen Hof, Palaisgarten des Prinzen Albrecht, Maskensouper und Blick von einem Fenster des Berliner Schlosses. All diese Beobachtungen bleiben Versuche, eine Analyse der Stadien des Skizzenwerkes und eine Korpuserweiterung ließen die Aussagen präzisieren.
Die vorgenommenen stilometrischen, ohnehin auf Prinzipien der Komparation beruhenden Arbeiten eröffnen die Möglichkeit einer Fülle weiterer, vergleichend vorgehender Studien, etwa zu Farbrelationen in unterschiedlichen Stadien des Werkprozesses,[34] im Werk anderer, zeitgenössischer wie nicht zeitgenössischer Künstler aus ähnlichen oder fernen Regionen. Und immer wieder stellt sich die Frage, an welcher Stelle der Schritt auf die semantische Ebene vollzogen werden könnte und die formalen Eigenschaften der Bilder auf Themen und Motive, auf Sinn, zu beziehen sein könnten.
3. Zur Historie von Rot in Herrscherbildern
Mit der Studie zur Historie von Rot in Herrscherbildern und dem Erfassen des Symbolgehalts wird die Farbe nun in eine kategorial verschiedene Fragestellung eingebunden. Es ist die Frage nach Persistenz und Wandel farblicher patterns im Laufe der Zeit. Die Analysen folgen dem Prinzip der systematischen Koordination innerhalb des 16 Farbklassen-Modells, die Analyse-Software ist das Redcolor-Tool. Eine Tabelle (Abbildung 19) enthält die Metadaten und Messwerte von Herrscher- und Politikerbildern (h01–h50), die hier in einer notwendig verkürzenden Weise exemplarisch besprochen werden. Die Abbildungen und Rotspektralanalysen sind einer weiteren Tabelle (Abbildung 20) zu entnehmen. Welcher Art sind die Erkenntnisse, die das Rechnen von Rotwerten innerhalb einer historischen Reihenbildung erwarten lässt? Entstehen Momente, in denen das Auge den Algorithmus ergänzt? Sind auch ihre Kategorien für und durch Informatik zu formalisieren?
3.1 Rot als Symbol
Rot gilt als die Farbe des Lebens, der Macht, Potenz und Präsenz, der Heiterkeit und des Herrschens. Das Durchrötete, pulsierend Durchblutete wird vom Menschen unmittelbar als belebt verstanden. Kostbar und schwierig herzustellen waren lange Zeit rote Gewebe. Das Tragen roter Gewänder war bis ins Mittelalter hinein streng reglementiert und nur privilegierten Bevölkerungs- und Berufsgruppen, etwa dem Adel und den Juristen, gestattet. Rot ist traditionell die Farbe des Herrschers. Als Farbe der Jakobinermützen wird Rot zugleich unübersehbares Zeichen der Französischen Revolution. Rot ist 1834 die Farbe der Seidenweberaufstände in Lyon und im weiteren Laufe des 19. Jahrhunderts die Farbe unterschiedlicher Emanzipationsbewegungen und der sozialistischen Parteien.[35] Das 20. Jahrhundert kennt wie kein anderes die Beeinflussung der Menschen durch die Ästhetik rot wogender Fahnenmeere. Rot wird Farbe der Nationalsozialisten, des Sozialismus und des Kommunismus. Die Farbe durchläuft eine Karriere vom Zeichen für Wenige hin zur Symbolfarbe mit dem Potential zur Identifikation durch Massen.
3.2.1 Herrscherbilder der klassischen Ikonographie
Der Modalwert zahlreicher Herrscherbilder der klassischen Ikonographie ist der Farbwert 9.[36] Die farbliche Range weist sehr oft auf eine maximale Virtuosität der Palette. Auffallend erreicht oder umspielt die Interquartilsspanne vieler Bilder den Wert 4. Eine Standardabweichung zwischen 5 und 6 ist häufig zu messen. Diese Kombination beschreibt ein leitendes farbformales Kontinuum. Die Sonderrolle des Bildnisses Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud als ikonographisches Vorbild wesentlicher Bereiche der nachfolgenden europäischen Tradition der Herrschermalerei ist auch durch eine Beschreibung seiner exponierten Standardabweichung gewinnbringend zu charakterisieren (Spektralanalyse (Abbildung 21)). Die Farben verteilen sich ebenmäßig entlang der Farbklassen, die Komposition bewirkt die geringe Standardabweichung 3,88 (Mittelwert 6,25). Acht Farbklassen von annähernd gleicher Größe, dazu Skalennachbarn, und das Vorliegen zahlreicher Farbwertkombinationen, die addiert immer wieder die Flächenwerte 50% sowie 75% und 25% approximieren, kennzeichnen die farbformale Eigenart des berühmten monumentalen Gemäldes.[37]
Frequenzen der extremen Skalenwerte variieren epochenspezifisch. Während das soeben charakterisierte barocke Herrscherbildnis in beiden Extremen der Skala massvoll frequentiert ist, lassen sich zahlreiche klassizistische Werke über prozentual reduziertes Rot und stärkere Dunkelfrequenzen beschreiben. Werke des Realismus hingegen sind häufig auch von intensiven Rotwerten, jedoch gering, frequentiert und weisen niedrigere Frequenzen im dunklen Skalenbereich auf.[38] Exemplarisch für die Herrscherbildnisse des späteren 19. Jahrhunderts stehend, lassen sich Lenbachs Porträts meist durch schwache Rotfrequenzen und besonders starke Dunkelfrequenzen charakterisieren.[39] Ein auffallendes farbformales Kontinuum der traditionellen Herrscherporträts betrifft die silberne Relation zwischen Modalwertpaar und Leinwandrest.[40] Frappierend ist, wie häufig diese Beziehung zwischen den Farbwerten in den Bildern vorliegt. Dieses Muster gehört zu jenen, die über den Verlauf der Zeit für die politische Ikonographie persistieren.
3.2.2 Politikerbilder heute
Der mediale Wandel von der Malerei über die Photographie hin zur digitalen Bildproduktion und -reproduktion wird begleitet von tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungsprozessen. Technologische Innovationen revolutionieren mit der Einführung neuer Drucklege- und Reproduktionsverfahren auch die Darstellungskonventionen. Massenmedien entstehen. Dieser Wandel ist durch die Bildwissenschaft und Kunstgeschichte auch in Erweiterung des methodischen Spektrums der Disziplinen nachzuvollziehen. Die Entwicklung vom offiziellen Auftragsporträt, oft der Ansicht durch wenige Privilegierte vorbehalten, hin zur inoffiziellen, unbeauftragten, durchaus dem Konsens des Dargestellten zuwiderlaufenden Bildveröffentlichung ist auch farbformal zu beschreiben. Es ist zu konstatieren, dass die Rotquantitäten der Darstellungen nach dem Wandel in die Extreme geraten können und sich sehr scharfe Kontraste zwischen Skalenextremen bilden.
Zuvor nicht zu messen ist der intensive Rotton 1 als Modalwert. Nun wird dies ein potentielles Messergebnis. Ein Beispiel sei hierfür angeführt: Im Jahr 2011 bot China der Bundesrepublik Deutschland finanzielle Unterstützung in der Zeit der Finanzkrise an. Das Cover (Abbildung 22) der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 29.06.2011 zeigt den damaligen chinesischen Staatspräsidenten Wen Jiabao als aufgereckten Zeigefinger vor chinesischer Staatsflagge, der Rotton 1 ist modal. Der Titel zum Bild lautet: »Merkel freut sich über Chinas Hilfsangebot an Europa«.
Auch der Rotton 2 wird nun Modalwert. Er ist beispielsweise in der Darstellung des FAZ-Covers (Abbildung 23) vom 16.05.2012 zu messen. Hollande war soeben als französischer Ministerpräsident gewählt worden. Er reiste zu seinem ersten Staatsbesuch nach Deutschland. Das Cover zeigt den Staatsakt auf dem roten Teppich vor Schloss Bellevue in Berlin. Kanzlerin Merkel dirigiert den Gast mit Weisegestus ein wenig nach links, – eine Folge dieser Direktion wird sein, dass sie vollständiger auf den roten Teppich passt. Die Bildunterschrift kommentiert: »Einen Schritt nach links. Kanzlerin Merkel weist Präsident François Hollande den rechten Weg«. Affirmativ ist der starke Rotwert 2 als Modalwert eingesetzt in einer offiziellen Darstellung (Abbildung 24) des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping in der Renmin Ribao, dem täglich erscheinenden Organ der kommunistischen Staatspartei. Der Median der Darstellung erreicht den in Bildern der klassischen Herrscherikonographie vor dem medialen Wandel nicht zu messenden Rotwert 2,5.
In einer vor dem Medienwandel nicht nachzuweisenden Dimension geraten die Klassenhöhen der Farbwerte in die Extreme. Da sie zusätzlich im Bild erheblich variieren, kann die hohe Standardabweichung als Merkmal großer Teile der modernen Bildproduktion angeführt werden. Enorme Quantität erreicht die Modalfarbe beispielsweise in der FAZ-Coverdarstellung Sigmar Gabriels (Abbildung 25) vor der SPD-Parteifarbe (45,2%). Durch die Akzente auf den Skalenextremen ist die kurze IQR ein weiteres Charakteristikum moderner Bildproduktion. In der traditionellen Herrschermalerei nicht zu messen ist die IQR 2, die das Merkelbildnis (Abbildung 26) von George W. Bush aufweist, auch ist in Werken der klassischen Herrscherikonographie eine signifikante Verkürzung der farblichen Range wie in Bushs Merkelporträt nicht festzustellen.
Persistiert das Muster der silbernen Relation als Abbildungs- und Wahrnehmungskonstante, so besteht die Relation nun nicht mehr zwischen Modalwertpaar und Restbild, sondern zwischen Modalwert und Restbild und erzeugt eine neue ästhetische Prägnanz. Liegen die Extreme rechnerisch demnach im Skalenextrem des Modalwerts und des Median, der Quantität der Modalfarbe, der kurzen IQR, der möglicherweise verkürzten Range und der Bildung der silbernen Relation durch nunmehr einen einzigen Farbwert, so gehören zu zusätzlichen Parametern des bildlichen Wandels der fehlende kompositorische Bezug zwischen Skalennachbarn und der Kontrast.
Anschaulich wird der farbformale Wandel im Vergleich (Abbildung 27) der prozentualen Farbwerte traditioneller Herrscherbilder (h04, h07, h17, h36) und aktueller Photographien von Politikern aus der Tagespresse (h38, h40, h47, h48). Die Diagramme visualisieren farbkompositorische Logoi. Die Darstellungsmethode folgt der Auffassung des bildlichen Logos als bestehend aus dem Verhältnis zwischen Teil und Ganzem. Prozentual zur Gesamtfläche im Uhrzeigersinn dargestellt sind die tiefroten bis hin zu den dunklen Farbmengen. Bilder, die als offizielle Repräsentation einer Staatsmacht Kontinuität und Transzendenz zur ewigen Idee verkörpern sollen, stehen inoffiziellen Bildern im öffentlichen demokratischen Meinungsbildungsprozess gegenüber, die die Kontingenz des Augenblicks einfangen, die den Effekt provozieren, die überraschen und durch das Interessante der Erscheinung fesseln sollen. Die Glieder der ersten Reihe sind komponiert, die Glieder der zweiten Reihe repräsentieren visuelle Muster für Blickfänge bis hin zum maximalen Kontrast. Zur näheren bildwissenschaftlichen Untersuchung werden nun weitere Kategorien aufschlussreich: Die Orte des Rots im Bild, die Beziehung zwischen Titel/Sujet und farblichem Muster und die Bildformate drängen sich als weitere Kategorien auf. Es ist der Moment, in dem das Auge den Algorithmus ergänzt.
3.3 Rote Orte
Die traditionelle Ikonographie zeigt den Herrscher im Zentrum. Der Herrscher ist niemals von der Bildkante beschnitten. Der Herrscherkörper ist zentral, frontal, stabil und ganz. Formal koinzidieren mit der Figur meist die Orte des Rots. Die inoffiziellen Darstellungen zeigen, dass auch diese Prinzipien einem Wandel unterliegen. Der Herrscher kann durchaus aus der Bildmitte rücken. Befindet sich der starke Rotwert dennoch im Zentrum, so kann dies etwa in Bildern des historischen Genres im Realismus als Inversion des traditionellen Prinzips auftreten, so in Menzels Gemälde Friedrich der Große und General Fouqué. Die rote Figur in der Bildmitte als Spitze der Pyramidalkomposition ist der Diener, nicht der Herrscher. In der Rotspektralanalyse (Abbildung 28) verschwindet der König ganz. Delaroches farbliche Inversion umfasst Napoleon kurz vor der Abdankung mit einem Zuviel an Rot. Der Usurpator selbst ist soldatisch gewandet, fast rotlos.[41] Mit den Rotwerten stellen Lenbachs kommerziell erfolgreiche Auftragsporträts auch den Herrscher wieder ins Zentrum (Rotspektralanalysen (Abbildung 29)).
Bei Herrschertreffen weisen die roten Orte der Darstellung Informationen auf, weil sie zugleich die Stellen der Unröte markieren. Das Bild von Hollande und Sarkozy (h 41) mit klassischer Rotdisposition schafft es nicht auf das FAZ-Cover. Ein Merkmal offizieller chinesischer Bildpropaganda ist das kontinuierliche Ineins von Staatsflagge und -präsident. Bilder von Herrschertreffen verdeutlichen die Penetranz des Prinzips. In den Darstellungen wird die, oft wie die Chinaflagge mit Rot koinzidierende Flagge des anderen Staates entweder nicht oder nur beschnitten gezeigt. Das erste Treffen des damals neu gewählten chinesischen Präsidenten Xi Jinping mit Obama und Merkel beispielsweise fand anlässlich eines G20-Treffens in St. Petersburg im Jahr 2013 statt. Die Renmin Ribao zeigt eine Darstellung von Jinping und Obama (Abbildung 30) prominent auf dem Cover, die US-Flagge ist weitgehend beschnitten. Der Ort der Bildveröffentlichung des Treffens von Jinping und Merkel ist der nicht dem eigentlichen Cover zugehörige untere Teil der Titelseite dieser Renmin Ribao-Ausgabe. Die deutsche Fahne ist nicht im Bild.[42]
3.4 Rot und Negation
Das Bild des Staatsmanns entwickelt sich hin bis zur ironischen Repräsentation im Herrscherbild ohne Herrscher. Der Staatsbesuch des damaligen Ministerpräsidenten Wulff in Rom etwa wird auf dem FAZ-Cover vom 14.02.2012 (Abbildung 31) folgendermaßen dokumentiert: Ein ellenlanger, ewiger roter und dabei menschenleerer Teppich rollt sich vor dem Betrachter aus. Der zugehörige Titel lautet: »Wulff in Rom«. Kein Staatsmann ist zu sehen. Wenige Tage später wird Wulff abdanken. Es ist folgerichtig, das übermäßige und nicht gebührende Rot, ein semantisches Zuviel der Ehre, als Fortentwicklung des traditionellen Prinzips der majestas und dignitas der Herrscherfarbe zu sehen. Der rote Superlativ ist ironisch gemeint.
Die Pixelrhetorik des Zuviel in der Form hyperbolischer Rotquantität wird in Bildern der Tagespresse oftmals von auch ironisch zu verstehenden Textkommentaren begleitet. »Merkel hat ›volles Vertrauen‹ in Gabriel« titelt das angeführte FAZ-Cover. Die Überschrift »Der chinesische Freund« und der Bildkommentar »Die helfende Hand« begleiten das modale Rot des FAZ-Covers, das den aufgereckten Zeigefinger Jinpings abbildet. Der Titel »Wulff« findet im angeführten Bild des FAZ-Covers seine Negation, ›Wulff ohne Wulff‹. Für die mit Metadaten arbeitende digitale Bildforschung entsteht ein unauflösliches Kausalitätsparadoxon. Der semantic gap entfaltet seine volle Schärfe. Sind Kategorien wie die Orte des Rots als bildliche Parameter informatisch zu formalisieren, so bleibt die Ironie des Bildes als Negation des Titels (und umgekehrt) für automatisierte Verfahren ein schwer zu lösendes Problem.[43]
3.5 Ästhetische Kategorien
Zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Herrscher- und Politikerbilder spiegeln historische Darstellungstraditionen wider. Eine unterschiedliche Staatsform, Religionsauffassung und gesellschaftliche Öffentlichkeit beschreibt ihren Entstehungshorizont. Es ist aufschlussreich, die farbliche Dispersion von fünf Bildern (h07, h19, h24, h36, h39) im Zusammenhang ihres unterschiedlichen Entstehungshintergrundes zu interpretieren: Die Repräsentation absolutistischer Staatsmacht im Bildnis Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud entstand 1701 als Geschenk für den spanischen Enfanten und sollte diesem als Vorbild dienen. Das klassizistische, offizieller Bildpropaganda entstammende Napoleonbildnis Jacques Louis Davids von 1812 verherrlicht den Usurpator. Das in den Unruhen des Vormärzes 1845, lange nach dem Tod Napoleons entstandene Napoleonbild Paul Delaroches etabliert eine spannungsvolle Szene und zeigt den Nachdenklichen vor einem Zuviel an Rot. Das als offizielles Auftragsporträt 1887 entstandene Bildnis Wilhelms I. von Franz Lenbach repräsentiert den Kaiser in Uniform zentral im Bild, weite, dunkle Farbmassen umfassen die Figur. Nominell ›Wulff‹ darstellend, zeigt das FAZ-Cover 2012 faktisch einen leeren roten Teppich. Diese fünf Bilder unterscheiden sich charakteristisch in der Rotwertkomposition. Ein Diagramm (Abbildung 32) bildet die jeweils eigentümliche Ästhetik der Farbwertmengen ab.
Das Herrscherbild des Barock (a), des Klassizismus (b), des Realismus (c), des Symbolismus oder Historismus (d) und der Moderne im 21. Jahrhundert (e) kennzeichnet eine je unterschiedliche farbliche Dispersion, der eine eigene Ästhetik zu eigen ist. Ästhetische Kategorien der Rotwertkompositionen sind:
- a - das Stabile, Gleichmaß
- b - das Harmonische, Wohlkomponierte
- c - Dissonanz, Kontrast
- d - Überfluss, Übermaß
- e - die Extreme, der Verlust der Mitte
Die Unterschiede dieser ästhetischen Kategorien resultieren aus zutiefst verschiedenen historischen Seh- und Darstellungstraditionen und bildpolitischen, wahrnehmungspsychologischen bis hin zu medientechnischen, produktionsbedingten Faktoren. Sie beschreiben die historische Entwicklung der Herrscherdarstellung aus der Perspektive der Farbkomposition. Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich.
4. Fazit
Das digitalisierte/digitale Bild ist der Adressat computergestützter Analysen. Zuvor im Forschungsprozess nicht zu realisierende Fragestellungen lassen sich an das Bild herantragen. Auch Farbe, paradigmatisch für das begrifflich nicht eindeutig zu Fassende, subjektiv Erfahrene stehend, wird durch intelligente informatische Lösungen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Jedes einzelne Bildelement kann adressiert und in komparative Studien eingebunden werden. Die Möglichkeit, alle Pixel im Bild, viele Bilder und Bilder ganzer kultureller Bereiche und Epochen zu erfassen, zu analysieren und auszuwerten veranlasst zum Staunen. Was lässt sich noch alles herausfinden?[44] Bestehende Paradigmen lassen sich durch Farbanalysen empirisch prüfen, präzisieren und reformulieren, das Eingehen in Skizzen und frühe Versionen der Bilder lässt die bislang stummen Logoi des Werkprozesses deutlich und markant zu Wort kommen, erlaubt neue Reihen nun entlang farblicher Kriterien der Werkentstehung zu formulieren. Das Lichte, das Dunkle und das Seltene beispielsweise wird vom Computer objektiv erfasst, während der Mensch meist identifizierend verfährt und die Augen ins Kleinteilige schweifen lässt zur inhaltlichen Erfassung des Gesehenen.
Farbformalistische Studien lassen zunächst unberücksichtigt gebliebene Kategorien in neuer Prägnanz aufleben. Dies zeigte die exemplarische Gegenüberstellung einer mithilfe des Redcolor-Tools bearbeiteten stilometrischen und einer historischen Forschungsfrage. Beide Studien konnten an geeigneten Stellen an weitere Kategorien anknüpfen. Diese Kategorien, etwa die Bildformate, die Linearkomposition, die Farborte oder den möglichen Sinn in die Untersuchung integrieren zu können, gehört zur heuristischen Ausrichtung des formalistischen Ansatzes. Neue Kategorien, etwa rezeptionsbedingte wie Skandalbilder, thematische wie Altarbilder, formale wie Monumentalbilder, materialorientierte wie ›alle Pastelle‹, alle Auftragswerke, Werke, die sich nicht verkaufen ließen, können als Faktoren in die Farbstudien ergänzend einfließen und sie umgekehrt als Beginn einer Forschungsfrage erst veranlassen. Hürden für die Homogenität der Daten und die Konsistenz der Formalisierungsprozesse für die digitale Bildanalyse sind modell-, skalierungs- und reproduktionsbedingt. Der gewählte Lab-Farbraum eignet sich für die Analyse der vorgestellten Bilder, für das genuin digitale Bild bietet CIECAM zusätzliche Anhaltspunkte.[45] Rot rechnen durch ein digitales Tool liefert ein Beispiel für den methodischen Einsatz informatischer Eigenschaftsmetrik für die Geisteswissenschaften. Das durch die Informatik ermöglichte metrische Skalenniveau und die Numerik der Mathematik bieten auch im Rahmen nicht diskret, sondern kontinuierlich vorliegender Eigenschaften Möglichkeiten für systematische und historische Forschungsansätze.
Welche weiteren messbaren Kategorien sind für die informatische direkte Bildadressierung denkbar? Die ›Alleviereckenandersfarbigkeit‹ einer von Constable im Jahr 1822 angefertigten Wolkenstudie im Vergleich (Abbildung 33) zur ›Alleviereckengleichfarbigkeit‹ einer 1823 von Blechen ausgeführten Wolkenstudie zeigt beispielsweise zugleich die formalen Unterschiede der analytischen und synthetisierenden Methode auf, Verfahrensweisen, die wiederum Methoden der Philosophie der Zeit prägnant beschreiben. Asymmetrie wird sich als Prinzip in Gartenanlagen, im Aufbau von Gedichten, der Struktur musikalischer, malerischer und architektonischer Kompositionen des Barock vermutlich auch rechnerisch nachweisen lassen. Die Software kann für die Forschung das Fernste miteinander verbinden, formale Prinzipien in Gebilden in Analogie zueinander berechnen. Für die Geisteswissenschaften liegt in der systematischen Eigenschaftsmetrik durch Software das Potential zur Erforschung unterschiedlicher Artefakte unter einem automatisierten Objektiv. Welche weiteren neuen Technologien zur Bestimmung der Kunst einzusetzen sein werden, wird die Zukunft zeigen.