Abstract
Das Experimentieren weckt in den Diskursen der Digital Humanities oftmals Assoziationen von Versuch und Spiel. Eine darüber hinaus wichtige Komponente dieses rhetorischen Stilmittels wird in deutschsprachigen Publikationen allerdings weithin übersehen: und zwar seine Verbindung zu einer »importance of failure«. Der Beitrag hat primär zum Ziel, diesen Topos des Scheiterns vor dem Hintergrund erkenntnistheoretischer Überlegungen zu besprechen, die in dem Forschungsfeld gängig sind und sich um die Möglichkeiten der Digital Humanities drehen. Abschließend wird der Blick auf den Deutungsrahmen gelenkt, innerhalb dessen Infrastrukturen als ›Laboratorien‹ und Methoden als ›Experimente‹ verstanden werden; eine Einordnung, hinter der sich die Notwendigkeit für eine Wertbestimmung verbirgt.
The language of experimentation favours tendencies within Digital Humanities discourses that emphasize aspects of innovation and play. There is, however, another component that is often overlooked in the German context: and that is the association with an »importance of failure«. This essay examines whether the dimensions of failure mentioned within the field are rooted in epistemological concerns. To that end, it first (and foremost) reviews scholarship concerned with the possibilities of Digital Humanities knowledge production before concluding with a look at the way in which the framing of infrastructures as laboratories and methods as experiments may obscure the need for value assessment.
Einleitung
[1]Wenn man von Experimenten oder einem experimentellen Charakter in den Digital Humanities spricht, dann wählt man nicht nur die Sprache des Versuchs und des Spiels,[1] sondern auch die Sprache des Erfolgs und Misserfolgs.[2] Das eine provoziert die Assoziation des anderen; bisweilen auch als bloßes Versprechen, das sich auf eine unbestimmte Zukunft richtet und Wertfindungsfragen der Gegenwart mit Hinweis auf einen noch ausstehenden Reifungs- und Konsolidierungsprozess auszublenden sucht. Dass Misserfolg in den Digital Humanities, zumindest in der englischsprachigen Forschungsliteratur, als Baustein auf dem Weg zum Erfolg gedeutet, für diesen teilweise gar als unabdingbar dargestellt wird, hat niemand so deutlich formuliert wie John Unsworth, der seinen Aufsatz zur Bedeutung des Scheiterns in den Digital Humanities – 1997, avant la lettre – mit dem denkwürdigen Satz einleitet: »If an electronic scholarly project can’t fail and doesn’t produce new ignorance, then it isn’t worth a damn«.[3]
[2]Lisa Spiro hat den Zusammenhang zwischen den Unsworth’schen Vorstellungen des Scheiterns und einer definitorisch eher das Vage favorisierenden Experimentrhetorik in den Digital Humanities bereits 2012 festgestellt[4] – man kann allerdings nicht behaupten, dass dieser Diskurs in den deutschsprachigen Digital Humanities breit rezipiert worden wäre. Auf den Zusammenhang von Experimenten in den Digital Humanities und Scheitern als Chance hat Mareike König hingewiesen;[5] ansonsten ist es bisher überwiegend anglophonen, insbesondere angloamerikanischen, Wortmeldungen überlassen gewesen, entsprechende Überlegungen anzustellen. Zu nennen wären beispielsweise Shawn Grahams Failing Gloriously and Other Essays[6] oder der Eintrag Failure von Brian Croxall und Quinn Warnick in dem Digital Pedagogy in the Humanities-Projekt,[7] aber auch Beiträge von Quinn Dombrowski, Max Kemman und Bethany Nowviskie, die im Fall von Dombrowski und Nowviskie ursprünglich als Konferenzvorträge gehalten wurden und somit als Spiegelung forschungsfeldspezifischer Dialoge gelten können.[8] All diesen Auseinandersetzungen ist gemein, dass sie mit verschiedenen Ebenen des Scheiterns hadern, was sich wiederum an verschiedenen Verständnissen dessen, was die Digital Humanities sind und sollen, festmachen lässt. Gerade dieses »produktive Unbehagen«[9] – um einen Terminus von Julia Flanders zu entwenden – könnte für ein Verständnis der Digital Humanities aufschlussreich sein, weil sich darin eben jene Wachstumsbeschwerden ausdrücken, die zwischen Versuch und Spiel nach einer Ernsthaftigkeit des Anliegens fahnden; schließlich drängt sich bei Überhöhungen des Misserfolgs die Frage auf: Was macht eigentlich Erfolg aus? Interessanterweise findet sich zu dieser Frage kein ähnlich dezidierter Diskurs in diesem Feld. Oder zielt die Failure-Debatte darauf ab? Wenn, dann nur im Umkehrschluss – dabei sind es erst Kriterien des Gelingens, die uns befähigen, ein Misslingen zu begründen statt es bloß zu konstatieren. Insofern sich eine diskursive Nähe zwischen Experiment und Scheitern feststellen lässt, also zwischen einer Ungewissheit auf der einen und einer Gewissheit auf der anderen Seite, oder auch: zwischen einer Betonung von gemeinhin akzeptierten Formen der (Natur‑)Wissenschaftlichkeit einerseits und einem Bekenntnis zu gemeinhin selten besprochenen Realitäten des wissenschaftlichen Arbeitens andererseits, lohnt es sich, diesen Stimmungsbildern in der Forschungsliteratur nachzugehen und ihr Verhältnis zu den digitalen Geisteswissenschaften zu bestimmen.
1. Failure
[3]Zunächst einmal lässt sich zusammenfassen, dass sich die Idee eines greifbaren Scheiterns, das in der Nichterfüllung bestimmter Erwartungen oder einer unter anderen Umständen konkret realisierbaren Zielvorstellung wurzelt, nach einer Synopse der vorhandenen Diskussionsbeiträge in unterschiedliche Problemfelder aufschlüsseln lässt:
- ein Versagen von Technologien, das heißt eine Diskrepanz zwischen der ihnen zugedachten Aufgabe und den tatsächlich resultierenden Ergebnissen
- ein menschliches Versagen, das heißt ein Unvermögen oder mangelnde Erfahrung im Umgang mit und in der Anwendung von Technologien
- arbeitspraktisches Versagen, das heißt die gemäß zeitkritischer Horizonte aus diversen Gründen fehlende oder unzufriedenstellende Umsetzung selbst-deklarierter Outcomes, Deliverables und Milestones, insbesondere im Hinblick auf projektdominierte DH-Arbeitsumgebungen
- ein intellektuelles Versagen, das heißt eine Oberflächlichkeit in den Forschungsprämissen oder in der Interpretation der Forschungsergebnisse.
[4]Sowohl arbeitspraktisches als auch intellektuelles Versagen könnten als Formen eines menschlichen Versagens eingestuft werden und es liegt nahe, dass die Kategorien, die die Forschungsliteratur an dieser Stelle ausbildet, mehrheitlich ineinandergreifen. Das gilt sowohl für die vier Versagensstufen bei Brian Croxall und Quinn Warnick[10] als auch für die Taxonomie von Quinn Dombrowski, die einen umfassenderen Ansatz verfolgt und neben technologischen Aspekten insbesondere kommunikative und karrieristische Fallstricke betont.[11] Shawn Graham bedient sich sowohl bei Dombrowski als auch bei Croxall / Warnick, um das eigene Lebenswerk einzuordnen.[12] Max Kemman fragt, ob das Scheitern deswegen Einzug in die DH-Gedankenwelt gefunden habe, weil die DH primär als Form der Softwareentwicklung und nicht als Forschung verstanden würden.[13] Bethany Nowviskie knüpft ihre Ausführungen ganz konkret an die Entstehungsgeschichte des ›Scholars’ Lab‹ an der University of Virginia, das als Nukleus einer ganzen Generation von DH-Wissenschaftler*innen in der Nachfolge John Unsworths und Jerome McGanns gelten kann und in dieser Tradition Fortschrittsnarrative verinnerlicht hat,[14] welche sich bei Nowviskie in Überlegungen zu »experimentellen Frühphasen«[15], einer »Hermeneutik des Machens [oder] der Fabrikation«[16] und einer »spielerischen Entdeckerlust«[17] äußern.
[5]Dieser kurze Überblick soll lediglich als Einstieg dienen, denn es gilt einigen Fragen vertieft nachzugehen. Die Verknüpfung von Vorstellungen des Scheiterns mit methodischen Anleihen an Experimente und einer institutionellen Koppelung von DH-Forschung an sogenannte Labs[18] legt nahe, dass dieses Dreieck aus Machbarkeit, Machen und Wirk- oder Werkstätte einen zumindest nicht unbedeutenden Anteil an dem Selbstverständnis des Feldes hat. Es erscheint daher sinnvoll, diese Phänomene nicht isoliert zu betrachten, sondern als Kontinuum zu verstehen, das an einer verdeckten Sinnfrage laboriert; einer Sinnfrage, die da eben nicht lautet: Was sind die Digital Humanities? Sondern: Was können die Digital Humanities? Mehr noch: Was sollten sie können? Und schließlich: Was können sie nicht?
[6]Die Beantwortung solcher Fragen bewegt sich zwangsläufig in einem Spannungsfeld verschiedener Erwartungshaltungen und entsprechend differenziert muss der Blick auf mögliche Hinweisgeber sein. Wenn wir die Möglichkeiten der Wissensfindung in den Digital Humanities von den Möglichkeiten der Wissensfindung in den Geisteswissenschaften her denken, um anschließend eruieren zu können, inwiefern über diese hinausgegangen werden kann, respektive inwiefern die Digital Humanities hinter ihnen zurückbleiben, führt uns das in wissenschaftstheoretische Überlegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wenn es sich bei dem dräuenden Schatten eines Scheiterns (oder der Befreiungsmacht desselben) hingegen um ein wissenschaftssoziologisches Phänomen handelt, das Selbstvergewisserungsprozesse narrativ einhegen soll, dann wird man nicht umhinkommen, vermeintliche oder reale Unzulänglichkeiten dezidiert als Frage der Umsetzung zu diskutieren und von dem theoretischen Diskurs um Erkenntnismöglichkeiten explizit abzugrenzen. Zuletzt hat das Thema eine außerakademische, gesellschaftliche Dimension: Wenn wir die Digital Humanities und ihren Erfolg oder Misserfolg als Fach, intellektuelle Bewegung oder lose verbandelte Interessensgemeinschaft in einen größeren zeitgeschichtlichen Kontext stellen – was für den wissenschaftlichen Austausch mangels belastbarer Aussagen jenseits der eigenen Beobachtung kaum geeignet, aber gerade deswegen von übergeordneter struktureller Bedeutung ist – müssen wir von eben jenen Fremdbildern Kenntnis nehmen, deren bejahende oder warnende Haltung sich entweder in abgeschwächter Form unmittelbar in den Digital Humanities wiederfindet oder auf die sie, wenngleich unterbewusst, in ihren Selbstdarstellungen reagieren.[19] Dass solche Wahrnehmungen auch von Wissenschaftler*innen anderer Disziplinen in die gesellschaftliche Breite getragen werden, zeigt sich an Hans Ulrich Gumbrechts Jeremiade über den Zustand der Geisteswissenschaften, in der er von einer »intellektuellen Überbewertung der elektronischen Instrumente«[20] spricht und ausführt:
»Ihren Anspruch auf rigorosen Ernst und auf Spezialisierung versuchen die Geisteswissenschaften mittlerweile mit Programmen der Selbstdigitalisierung aufrechtzuerhalten, die den eigentlich kaum zu vermeidenden Schritt, sich elektronische Technologien als Instrumente zunutze zu machen, in den Status einer intellektuellen Revolution hochjubeln. Dank entsprechend eingestellten Suchprogrammen braucht man heute nur noch Sekunden – und nicht mehr Jahre –, um den Gebrauch eines Begriffs während eines Jahrzehnts oder die Eigenheiten im Satzbau eines bestimmten Autors identifizieren und dokumentieren zu können. Aber erst hier setzt dann weiterhin die einzig relevante Frage nach existenziell oder gar politisch relevanten Folgerungen an.«[21]
[8]Unabhängig davon, ob man diese Meinung für exemplarisch hält oder nicht, ist sie Teil des Rahmens, in den die Digital Humanities und ihre Rhetorik eingebettet sind. Im Nachfolgenden soll es nun insbesondere um die ersten beiden Perspektiven gehen, die wissenschaftstheoretische und die wissenschaftssoziologische, um daraus Impulse für die – gegenwärtig noch ausstehende – Einordnung des DH-Experimentbegriffs[22] sowie die – gegenwärtig noch nicht abschließend reflektierte – Prävalenz einer darüber hinausgehenden sprachlichen DH-Laborisierung abzuleiten.[23] Dass dieses Thema eine gewisse Dringlichkeit aufweist, liegt dabei nicht so sehr an einem allgemeinen Erkenntnisinteresse, sondern an den Verdrängungseffekten, die sich aus der Dominanz bestimmter Wortbilder ergeben können und anderweitig assoziierte Erklärungsansätze aus dem konsensorientierten Deutungsrahmen fallen lassen. In anderen Worten: Computergestützte Verfahren spielen in den Geisteswissenschaften ebenso eine Rolle wie die allgemeine Digitalisierung von Lebenswelten; doch was sagt uns das über Arbeitspraktiken und Wissenschaftsansprüche?
2. Denktradition: Zwei Kulturen
[9]Es wäre vermessen, an dieser Stelle eine Zusammenfassung der gesamten Literatur zu Methodik und Gegenstand der Geisteswissenschaften leisten zu wollen; zu stark müsste man hierfür Begriffe und Positionen verkürzen, die im deutschsprachigen Raum mit Philosophen und Gelehrten wie Dilthey, Schleiermacher, Husserl, Heidegger und Gadamer verknüpft sind. Daher ist es zunächst einmal wichtig, jene epistemologischen Schwerpunkte zu identifizieren, die für eine Einordnung der Digital Humanities besonders relevant erscheinen. Der Rekurs auf die Geisteswissenschaften ergibt sich ganz prinzipiell aus der Tatsache, dass in den Digital Humanities oft ein geisteswissenschaftliches Erkenntnisinteresse vorausgesetzt wird, mutmaßlich beeinflusst durch die Tatsache, dass viele Forscher*innen, die sich mit diesem Feld identifizieren und in Fragen der Wissenschaftstheorie zu Wort melden, ursprünglich in einem traditionellen geisteswissenschaftlichen Fach beheimatet waren oder es, ungeachtet ihres Interesses an dem wie auch immer gearteten Einsatz von Computern und Technologien in den Geisteswissenschaften, weiterhin sind.[24] Es steht zu vermuten, dass man eine Betrachtung der Thematik auch aus einer anderen Sicht, etwa aus der Sicht der Informatik, konzipieren könnte; dies ist und bleibt zwar ein Desiderat (dessen sich die Computational Humanities zunehmend annehmen[25]), allerdings würde es im vorliegenden Fall nicht dabei behilflich sein, die mehrheitlich bestehenden DH-Diskurse und die ihnen zugrundeliegenden Denktraditionen nachzuvollziehen.
[10]In diesem Sinne sollten wir zuallererst Grundannahmen formulieren, die selbstverständlich erscheinen mögen, es im internationalen Vergleich allerdings nicht immer sind. Hierzu zählen beispielsweise die Annahmen, dass
- es einen überordneten Wissenschaftsbegriff gibt, der
- die Geisteswissenschaften einschließt und
- eine Unterscheidung zwischen Wissenschaften einerseits mit ihrem Untersuchungsgegenstand und andererseits mit ihrem Methodenrepertoire, nicht aber ideologisch begründet.
[11]Während die Antwort auf die Frage, ob denn die Geisteswissenschaften Wissenschaften seien, bei dem deutschen Begriff zumindest vordergründig inbegriffen ist (ohne dass wir damit näher spezifiziert hätten, was Wissenschaft ausmacht), wird es mit Blick auf den englischsprachigen Diskurs etwas komplizierter; und dieser Blick ist alleine deswegen unvermeidbar, weil Englisch als lingua franca der internationalen Digital Humanities gilt.[26] Um es deutlich festzuhalten: Es gibt im Englischen keinen Wissenschaftsbegriff, der sowohl die Geistes- als auch die Naturwissenschaften umfassen würde; humanities sind keine sciences und humanists keine scientists.[27] Wer meint, dies wäre für die Identitätsfindung der Digital Humanities irrelevant, irrt. Im Gegenteil: Aus dieser Grundkonstellation leitet sich ein nicht unerheblicher Anteil definitorischer Schwierigkeiten ab, da sich die Digital Humanities, grob gesprochen, nicht nur zu den Geisteswissenschaften verhalten und von diesen abheben oder auch nicht, sondern als Schnittstelle oder Mittler – so eine gängige Vorstellung ihrer Verortung[28] – zwangsläufig von den Polen abhängig sind, zwischen denen sie angeblich pendeln. Eine Positionsbestimmung kann ohne Bestimmung des Rahmens, in dem sie stattfindet, nicht gelingen.
[12]Bestes Beispiel für die Art und Weise, wie die Wissenschaftskonzeption im englischsprachigen Raum in die Digital Humanities hineinwirkt, ist ein Aufsatz von Paul S. Rosenbloom, der nach seiner Erstveröffentlichung in Digital Humanities Quarterly (DHQ) Eingang in den kuratierten und weithin beachteten Band Defining Digital Humanities gefunden hat.[29] Rosenbloom beschäftigt sich mit der Frage, wie man die humanities als Teil von science begreifen könne[30] – mehr noch, als Untermenge der »social sciences«[31]. Sein Hauptargument zielt darauf, dass »any enterprise that tends to increase our understanding of the world over time«[32] als »essentially scientific«[33] anzusehen sei. Zwar erkennt er an, dass es in anderen Ländern bereits andere Wissenschaftsverständnisse gibt als jenes, das science im Englischen sehr eng auslegt, und er verweist sogar darauf, dass man sich für einen umfassenden Wissenschaftsbegriff im Deutschen bedienen könne[34] – die Lektüre mutet aber trotzdem befremdlich an. Existente Überlegungen aus dem Bereich der Wissenschaftsphilosophie werden nicht näher rezipiert.[35]
[13]Wenn man nun also fragt, ob denn die Geisteswissenschaften Wissenschaften seien, dann ist das eine andere Frage als die Frage, ob denn die humanities sciences seien, und dieser einfache (oder vielmehr höchst komplexe) Umstand suggeriert, dass die deutschsprachigen Digital Humanities ihre begriffliche Gleichsetzung von humanities und Geisteswissenschaften und daran anschließend von Digital Humanities und digitalen Geisteswissenschaften überdenken sollten; aus den Nuancen erwachsen Differenzen. Das lässt sich auch daran ablesen, in welchen divergenten Bahnen die englisch- und deutschsprachigen Diskurse zur Theorie der digitalen Geisteswissenschaften verlaufen.
[14]In anglophonen Publikationen wird bei der Standortbestimmung der Digital Humanities oft auf C. P. Snows two cultures rekurriert,[36] die er 1959 in einer Rede kontrastiert und somit eine langlebige Erzählung geschaffen respektive perpetuiert hat, die Natur- und Geisteswissenschaften als fundamental verschiedenartig begreift.[37] Die Rede selbst war als Angriff auf eine Schieflage in der Prestigekultur an der Universität Cambridge konzipiert und macht sich den Wettbewerbsgedanken des Kalten Krieges zu eigen; entsprechend muss die Frage erlaubt sein, warum sie, in der Regel ohne nähere Beleuchtung ihrer Entstehungsumstände oder eigentlichen Argumente, weiterhin als primärer Referenzpunkt in gegenwärtigen Diskursen dient, so etwa, wenn Amy E. Earhart in ihren Ausführungen zu den Digital Humanities as Laboratory unter Verweis auf Snow davon spricht, dass es schon lange eine Trennlinie zwischen den humanities und den sciences gäbe, die sich zunehmend in einem Ungleichgewicht an Forschungsförderung äußern und entsprechend auf geisteswissenschaftlicher Seite Ressentiments Vorschub leisten würde.[38] Die Existenz zweier ›Wissenschaftskulturen‹, von Snow einst behauptet, wird so in den Stand einer Tatsache erhoben. Dass es bei dieser Unterscheidung weniger um wissenschaftstheoretische als um wissenschaftssoziologische Aspekte geht, ist nicht nur aus der Art der Verweise ersichtlich, die sich auf sie beziehen, sondern aus dem programmatischen Text selbst, der Formalwissenschaften ausklammert oder zumindest nicht als distinkt zu Natur- und Geisteswissenschaften ausweist. C. P. Snows Beobachtungen erschöpfen sich, um ein Beispiel zu nennen, in Aussagen wie jener, dass den scientists die Zukunft in den Knochen stecken würde, während die ›traditionelle Kultur‹ (gemeint sind vor allen Dingen die Altphilologien) davon provoziert jedem Gedanken an die Zukunft entsagen würden: »[i]f the scientists have the future in their bones, then the traditional culture responds by wishing the future did not exist.«[39] Wäre nun die Zukunftsaffinität ein entscheidendes Kriterium, könnte man durchaus konstatieren, dass die Digital Humanities zumindest in technologischer Hinsicht eher am Puls der Zeit zu sein scheinen als ›traditionell‹ arbeitende Geisteswissenschaften. Den Puls der Zeit auf Technologie zu reduzieren, würde aber kaum den geisteswissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden, deren Blick in die Vergangenheit von einem Bedürfnis nach Wissensvermehrung geleitet wird, die in ihrer letzten kumulativen Konsequenz nie hinter das zurücktreten kann, was bereits einmal gewusst gewesen; so zumindest der wissenschaftliche Leitgedanke. Unabhängig von dem Wahrheitsgehalt solcher Charakterisierungen verwundert es nicht, dass das unbestimmte Bild von zwei ›Kulturen‹ wirkmächtiger zu sein scheint als das, was damit konkret gemeint sein mag.
[15]In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Vorstellung zweier Kulturen dazu geführt hat, dass die Digital Humanities sich bisweilen als ›dritte Kultur‹ oder ›dritter Weg‹ positionieren.[40] Schon Jean-Claude Gardin, ein Pionier der Archäoinformatik, hat im Kontext von Expert*innensystemen und unter den Eindrücken semiologischer Hinwendungen zu den Literaturwissenschaften über einen dritten (Aus‑)Weg nachgedacht, den er in der Archäologie in Ansätzen bereits verwirklicht sah, nicht in Opposition zur Hermeneutik, sondern in Verwandtschaft zu ihr.[41]
3. Denktradition: Die ungenauen Wissenschaften
[16]Die Frage der Hermeneutik erinnert indes an eine andere Art von Dualismus, die uns näher an wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Unterscheidung zwischen den Wissenschaften und damit auch zu Fragen wissenschaftlichen Erfolgs und Misserfolgs heranführt. Gemeint ist die Aufteilung in genaue und ungenaue Wissenschaften, die Gerhard Lauer unter Bezugnahme auf Jacob Grimm diskutiert hat.[42] Der Rückgriff auf Jacob Grimm ist in der Tat wichtig, weil er in die (früh‑)neuzeitliche Entstehungsphase der Konzeptionen und Kategorisierungen verweist, auf denen das heutige Wissenschaftssystem im deutschsprachigen Raum weiterhin zum größten Teil fußt.
[17]Lauers Verweis auf Jacob Grimms 1846 veröffentlichte Rede Über den Werth der ungenauen Wissenschaften[43] ist dabei nicht nur deshalb interessant, weil sich der Eindruck aufdrängt, dass wissenschaftstheoretische Themen besonders dann aufgegriffen werden, wenn es eine Rede zu halten gilt, wie sich bereits bei der Failure-Thematik feststellen ließ.[44] Die Einbindung der Grimm’schen (wenn auch nicht originär Grimm’schen)[45] Unterscheidung zwischen genauen und ungenauen Wissenschaften ist von Interesse, weil Lauer sie auf die Polemiken abbildet, die insbesondere im angloamerikanischen Raum Kritik an den Digital Humanities üben und Erkenntnisprozesse in den humanities vor allen Dingen in der Kraft des menschlichen Geistes situiert wissen wollen, also jeglichen Versuch der Externalisierung a priori ablehnen.[46] Lauer schränkt beständig ein, dass Kriterien von vermeintlicher Objektivität und Exaktheit keine natürliche Trennlinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bilden, vielmehr geht es ihm darum, zu beweisen, dass die (deutschsprachigen) Geisteswissenschaften ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit schon seit Grimms Tagen aus ihrer Vorliebe für nachvollziehbare Schritte, Abgleiche, Einordnungen, man möchte sagen: Formen der historisch-kulturwissenschaftlichen Informationsverarbeitung ziehen, allerdings verliert er sich dabei in den Widersprüchen, die er aufzulösen sucht; nicht zuletzt deshalb, weil Fragen der Systematik des Vorgehens, der Gründlichkeit, der Überprüfbarkeit, der Ausdrücklichkeit (im Sinne ihrer Explizitmachung) mit dem Kriterium der Genauigkeit gleichgesetzt und mitunter verwechselt werden.[47] Das Plädoyer, das Jacob Grimm zugunsten der ungenauen Wissenschaften hält, wird mit Blick auf das rückwirkende Postulat seines entgegen seines eigenen Bekenntnisses »strengen Methodenideals«[48] zu einer Form der Außendarstellung deklariert und damit ausgehebelt, was an Rens Bods Argumente erinnert, der betont, die Theorie der Geisteswissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert sei losgelöst von ihrer Praxis gewesen, was ihn in seinen Überlegungen zu Fragen der Modellierung in den (digitalen) Geisteswissenschaften aus der Verantwortung entlässt, sich mit eben jenen Theorien auseinanderzusetzen.[49] Zu Grimm sei noch gesagt, dass sein Impetus in seinem Loblied auf die Ambivalenz der Geisteswissenschaften patriotisch geprägt war und eben nicht oder nicht nur auf ihre Methoden zielte, die ihm editionswissenschaftlich natürlich genauso nahe waren wie einem sonst oft als Vertreter einer Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften angeführten Karl Lachmann,[50] sondern auch (und in besonderem Maße) auf die Konsequenz ihrer Ergebnisse, das heißt in seinem Fall auf ihre nationalgeschichtliche Bedeutung, die – da der Untersuchungsgegenstand aus der Kultur erwachsen und nur in der Kultur zu verstehen – »uns näher zu herzen [sic!]«[51] stünde. Man muss sich dieser Argumentation nicht anschließen, um zu erkennen, dass die Frage nach einer Exaktheit in den Geisteswissenschaften keine Frage von Zahlen oder Zählungen ist, sondern vielmehr zur Disposition stellt, was sich daraus ableitet.
[18]Anders formuliert: Was macht eine Methode in den Geisteswissenschaften zu einer genauen Methode? Der Einsatz von Mess- und Maßeinheiten? Kann eine genaue Methode in den Geisteswissenschaften genaue Ergebnisse, aber ungenaue Erkenntnisse, hervorbringen und wäre ein solcher Fall dann Grund, von einem Scheitern zu sprechen? Kann im umgekehrten Fall eine ungenaue Methode eine genaue Erkenntnis hervorbringen und wie ließe sich in beiden Fällen nicht die Methode, sondern die Interpretation der jeweiligen Ergebnisse nachvollziehen? Lauer sagt selbst, dass »auch das Zählen [...] das Interpretieren [braucht]«[52], nur bleibt offen, was diesen letzten Schritt in den Geisteswissenschaften genau ausmacht; dabei ist das Interpretieren, das Verstehen, genau jene erkenntnistheoretische Chiffre, an der sich die Theorie der Geisteswissenschaften seit jeher abarbeitet.
[19]Wer Verstehen sagt, muss auch Dilthey sagen. Lauer wirft den Kritiker*innen der Digital Humanities – bei ihm überwiegend bezogen auf Alison Louise Kennedy und Nan Z. Da[53] – vor, in dieser Tradition zu stehen: »Tatsächlich übernehmen Kennedy, Da und andere in den gegenwärtigen Debatten um die Möglichkeiten der Digital Humanities für ihre Behauptungen nur ältere Thesen vor allem von Wilhelm Dilthey.«[54] Und hernach wiederholt: »Dilthey und seine [Nachfolger].«[55] Freilich erwähnen weder Kennedy noch Da Dilthey mit auch nur einer einzigen Silbe, was ebenso für andere bekannte Kritiker*innen der Digital Humanities gilt.[56] Es ist unklar, wer sonst mit den ›anderen‹ gemeint sein könnte. Inwiefern die genannten Autor*innen Kenntnis von Dilthey und seinen Thesen haben, lässt sich ihren Schriften aufgrund mangelnder Erwähnung desselben nicht entnehmen; auch die Unterscheidung von inexact und exact sciences ist in den anglophonen DH-Diskursen bisher nicht besprochen worden. Man kann zwar einige der in den dortigen Texten vage mitschwingenden Empfindungen auf hiesige Debatten übertragen und unterstellen, dass sie aus einer verwandten Geisteshaltung heraus entstehen, aber es wäre wünschenswert, hier, soweit möglich, genau vorzugehen und zu definieren, welche Geisteshaltungen auf welche Art und Weise spezifisch verwandt sein sollen. Insbesondere bei Dilthey drängt sich der Eindruck auf, dass er, wie man in der englischen Umgangssprache zu sagen pflegt, mietfrei in den Köpfen seiner Kritiker*innen lebt. Das ließ sich schon bei Rens Bod beobachten, dessen Interesse hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich, Formen der Mustererkennung gilt und der Dilthey und die Hermeneutik als vorgebliches Sinnbild für eine eher der Wahrsagerei denn der Wissenschaft nahestehende Methode in seiner Geschichte der Geisteswissenschaften mit einer betont beiläufigen Erwähnung straft.[57] Joris van Zundert hat die Oberflächlichkeit einer solchen Charakterisierung zurecht deutlich kritisiert[58] und Andreas Fickers hat in seinem Gelehrtenstreit mit Bod darüber hinaus Argumente angebracht, die es in ihrer Konsequenz, wenn auch nicht in ihrer rhetorischen Schärfe, eher zu beachten gälte als eine imaginierte Dilthey-Tradition der Teesatzleserei;[59] namentlich die Notwendigkeit für eine digitale Hermeneutik, also eine Quellenkritik, die überhaupt erst zum Verständnis digital-kultureller Artefakte – und das schließt Forschungsergebnisse in den Digital Humanities ein – befähigt.[60]
[20]Es steht außer Frage, dass man über statistische Kenntnisse verfügen muss, wenn man statistische Methoden anwendet – doch wie verhält es sich beispielsweise mit der Kompetenz, Informationen angemessen zu visualisieren und zu kommunizieren oder auf Rezipient*innenseite entsprechend zu prozessieren? Wie verhält es sich um das Bewusstsein, wie etwas entstanden, wo seine Provenienz, wann das Ende seines Lebenszyklus? Wenn wir annehmen, dass die Geisteswissenschaften evidenzorientiert sind (und das waren sie schon bei Dilthey, denn wo keine Überlieferung, da keine Verstehensgrundlage) – wenn wir also annehmen, dass die Geisteswissenschaften evidenzorientiert sind und wenn wir weiterhin annehmen, dass die Digital Humanities an der Evidenz rühren und nicht etwa an der Fähigkeit des Erkennens an und für sich – wenn wir also annehmen, dass die Digital Humanities unseren Zugang zu bestehender Evidenz verändern, das heißt unseren Blick auf diese Evidenz, und wenn wir weiterhin annehmen, dass die Digital Humanities darüber hinaus den Bestand an Evidenz erweitern, dann ergibt sich daraus zunächst einmal kein fundamentaler Eingriff in Erkenntnisprozesse, die einen Verstand voraussetzen und sich an einen anderen Verstand richten. Diltheys psychologische Überlegungen waren gerade in seinem Spätwerk eben keine Vereinzelungsargumente, sondern zielten auf ein Bewusstsein von Zeithorizonten, innerhalb derer jedes denkende und fühlende Subjekt seine Aussagen über die eigene Erlebniswelt zu veräußerlichen hat. Letztlich laufen die erkenntnistheoretischen Diskurse in den Digital Humanities an solchen Stellen auseinander, weil sie die Begründung eines geisteswissenschaftlichen Argumentes traditionell mit Konzepten wie Divination und Einfühlung[61] assoziieren, was eine Vereinbarkeit mit Konzepten der Digital Humanities in weite Ferne zu rücken lassen scheint, obwohl die Fähigkeit des Perspektivwechsels lediglich einen Akt der Plausibilisierung darstellt, der für das Verständnis der Handlungen und Gedanken menschlicher Akteur*innen, so es darum geht, tatsächlich unabdingbar ist, während das eigentliche geisteswissenschaftliche Argument auch traditionell in der fragmentarischen Überlieferung von Kulturerbe wurzelt, deren Lacunae durch Inferenz überbrückt werden müssen. Folglich setzt die Interpretation eine Kenntnis des Untersuchungsgegenstandes und eine Kenntnis von Methoden voraus, die auf diesen Untersuchungsgegenstand angewandt werden, und wenn auf diesen Untersuchungsgegenstand keine Methoden angewandt werden außer die der Hermeneutik, dann liegt der Argumentation dennoch eine Ausgangsevidenz zugrunde. Dilthey nennt diese Evidenz die »Reste menschlichen Daseins«[62] und schreibt darüber hinaus:
»Mit der Auslegung der auf uns gekommenen Reste ist innerlich und notwendig die Kritik derselben verbunden. [...] Auslegung und Kritik haben im geschichtlichen Verlauf immer neue Hilfsmittel zur Lösung ihrer Aufgabe entwickelt, wie die naturwissenschaftliche Forschung immer neue Verfeinerungen des Experiments.«[63]
[22]In diesem Sinne erscheint es naheliegend, Forschung in den Digital Humanities als Schicht zu betrachten, die sich zwischen Ausgangsevidenz und Interpretation derselben legt, ohne das eine oder andere zu ersetzen, sondern um – im besten Falle – das eine, das andere oder beides zu ergänzen. Aus diesem Grund ist es auch irreführend, die Digital Humanities als tool box zu betrachten, die sich über ihre Methoden definiert; stattdessen müssen sie über ihr Verhältnis zu »the research objects they study and the research questions they aim to answer«[64] bestimmt werden, wie Michael Piotrowski und Mateusz Fafinski bereits ausgeführt haben. Zum Aspekt der Erkenntnis sollte zuletzt noch angemerkt werden, dass das Verständnis eines kulturellen Erzeugnisses, das aus einem Geist entstanden und dessen Geist mutmaßlich nur in einem Geist zu erahnen (siehe August Boeckhs Erkenntnis des Erkannten[65]), etwas anderes ist als eine Erkenntnis über ein kulturelles Erzeugnis oder seine Entstehung oder seine Einbettung in einen größeren historischen Kontext. Insofern die Geisteswissenschaften für die Untersuchung ihrer weitreichenden Fragestellungen alle Evidenz einbeziehen, auch eine Evidenz, die sie selbst auf Grundlage der Überlieferung generieren und deren Bewertung sie nur vornehmen können, wenn sie in der Lage sind, diesen Vorgang nachzuvollziehen, braucht es die Differenzierung von Evidenzen für ein Argument anhand methodenkritischer und auch methodenspezifischer Kriterien; was jedoch nicht in das Verstehen eingreift, das der Beweisführung Auftrieb gibt.
[23]Um auf die Frage des Scheiterns zurückzukommen: Forschung scheitert nicht, sie lernt dazu. Formen der Weiterentwicklung, die auch bei Dilthey anklingen und von ihm gutgeheißen werden, bedingen sich aus anderen Formen der Weiterentwicklung, wie man sie etwa im technologischen Bereich beobachten kann. Gegebenenfalls ließe sich argumentieren, dass Forschung zwar nicht als gescheitert, aber als verfehlt oder fehlgeleitet gelten muss, wenn sie sich durch Unkenntnis der Evidenz, Unkenntnis der Methoden oder Unkenntnis ihrer eigenen Ergebnisse auszeichnet; das würde dann allerdings für jede Art von Forschung gelten, ungeachtet ihres disziplinären (und damit auch immer wissenschaftshistorischen) Zuschnitts.[66]
4. Experimente, Laboratorien, Projekte
[24]Warum aber sprechen die Digital Humanities nun so oft von ihrem eigenen Experimentcharakter? Es ließe sich spekulieren, dass damit eine bewusste Grenzüberschreitung intendiert ist, hin zu den Naturwissenschaften, die vermeintlich objektiver, wissenschaftlicher, empirischer.[67] Aus geisteswissenschaftlicher Sicht kommen Zitate wie dieses in den Sinn: »One cannot put the Roman Empire in a test tube, add a dash of Christianity, and watch to see whether it rises or falls.«[68]
[25]Dazu sei gesagt, dass es immer auf die Variablen ankommt oder besser gesagt auf die Komplexität der involvierten Entitäten, ob man sie dahingehend modellieren kann, dass sich daraus extrafaktische oder kontrafaktische Szenarien ableiten lassen. Im Wissenschaftsrepertoire reiht sich das Experiment unter anderem neben die Beobachtung von Evidenz, die Modellierung von Evidenz, die Manipulation von Evidenz und die Simulation von Evidenz (die letzteren beiden als Sonderformen der Modellierung). Der sogenannte ›Untergang‹ des Römischen Reiches eignet sich nach derzeitigem Kenntnisstand nicht für solche Gedankenspiele, da es sich dabei bereits um die deutende Beschreibung eines multikausalen Vorgangs handelt, der sich nicht an einzelnen Ereignissen festmachen lässt und dessen Bewertungsgrundlage entsprechend zu polyvalent für solche Vereinfachungen ist. Gleichzeitig handelt es sich um eine vereinfachte, stark romantisierende Vorstellung, man müsse in den Naturwissenschaften bloß Reagenzien vermischen und dann zusehen, was passiert. Selbst wenn dem so wäre: Was reagiert in den Digital Humanities womit? Ist es nicht ebenso naiv, anzunehmen, man könne Daten in Kontakt mit bestimmten Verarbeitungsschritten bringen und hätte damit die Hürde eines wissenschaftlichen Experimentes genommen? Zusehen, was passiert?
[26]An dieser Stelle sei angemerkt, dass es womöglich zum eigenen Schaden der Digital Humanities ist, mit welcher Persistenz sich die Experimentrhetorik bereits festgesetzt hat, ohne eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dieser sprachlichen Praxis zu zeitigen. Zumindest in Teilen scheint sich diese Praxis aus den Innovationsansprüchen des Feldes zu speisen, bei denen das Experiment als Antonym zu ›etablierten Methoden und Verfahren‹ agiert und sich damit stilistisch in die Verwendung des Experimentbegriffs in den Kulturwissenschaften einreiht:
»Die Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaften dagegen selegieren in ihren Verwendungen des Experimentbegriffs in der Mehrzahl der Fälle nur einen seiner semantischen Aspekte: den eines einmaligen Aktes des Ausprobierens neuartiger (künstlerischer) Techniken. Sie konturieren ›Experimentieren‹ als sowohl innovativen als auch singulären (nicht-reproduzierbaren) Akt der Erfindung, Entdeckung oder Schöpfung. Damit scheinen sie die Prägungen des naturwissenschaftlichen Experimentierverständnisses zu reduzieren. Doch blenden sie die naturwissenschaftlich dominierte Definitionsmacht des Begriffs durchaus nicht aus, die als expliziter oder impliziter Referenzpunkt stets erhalten bleibt.«[69]
[28]Nun ergeben sich dadurch zwei Schwierigkeiten: Zum einen überdeckt die starke Betonung eines Neuheitswertes ältere Forschungsliteratur und Forschungslogiken, die eine längere Tradition haben, als ihre experimentelle Anwendung suggerieren würde. Hierzu zählt insbesondere, wie auch bei Lauer sinnvoll dargelegt, der Einsatz von quantitativen Methoden in den Geisteswissenschaften, der prinzipiell weder besonders neu noch besonders kritikwürdig ist.[70] Zum anderen wird die Verwendung des Experimentbegriffs in den Digital Humanities durch die Schaffung von Labs als Arbeitsorten potenziert und stärker in die Nähe einer (Natur‑)Wissenschaftlichkeit gerückt, die weder gegeben noch über eine allgemeine Legitimierungs- und Authorisierungsfunktion hinaus mutmaßlich intendiert ist. Keine Einrichtung, die in Zusammenhang mit den Digital Humanities als Lab bezeichnet wird, muss hierfür bestimmte Kriterien erfüllen, was die Vergleichbarkeit einschränkt und nahelegt, dass die assoziative Kraft des erfolgsdruckbefreiten Ausprobierens, händischen Arbeitens und kollaborativen gemeinschaftlichen Entdeckens im Vordergrund stehen soll. Hierzu passt etwa, dass dezidiert von dem Amalgam des »collaboratory«[71] gesprochen wird und man mitunter das Lab selbst zum Experiment deklariert.[72]
[29]In Anlehnung an die Ausführungen von Nowviskie, die, wie anfangs erwähnt, genau diese Aspekte in Bezug auf das ›Scholars’ Lab‹ an der University of Virginia hervorgehoben hat,[73] kann man sich an die Frühphase der analytischen Chemie erinnert fühlen, als Laboratorien im Entstehen begriffen waren, die im Laufe der Zeit dazu übergingen, ganz bestimmten Zwecken zu dienen, ganz bestimmte Bedingungen herzustellen und ganz bestimmte Forschung überhaupt erst zu ermöglichen, physisch, vor Ort, in der Beobachtung bestimmter beeinflusster und unbeeinflusster Prozesse.[74] Dabei gilt es allerdings das zu bedenken, was Justus von Liebig in Hinblick auf den Zustand der analytischen Chemie zu Beginn des 19. Jahrhunderts so treffend beschrieben hat:
»Chemische Laboratorien, in welchen Unterricht in der Analyse ertheilt wurde, bestanden damals nirgendwo; was man so nannte, waren eher Küchen, angefüllt mit allerlei Oefen und Geräthen zur Ausführung metallurgischer oder pharmaceutischer Processe. Niemand verstand eigentlich die Analyse zu lehren.«[75]
[31]Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine offene Frage, ob sich die Laboratorien in den Digital Humanities an den Wortschöpfungen des Kreativsektors orientieren oder einen ähnlichen wissenschaftlichen Wandlungsprozess durchlaufen werden. Zumindest impliziert ihre Existenz Rahmenbedingungen, innerhalb derer Parameter für ein überwachtes, replizierbares, über sich selbst hinausdeutendes und in ein externalisiertes Ganzes hineindeutendes Schaffen festgelegt werden können. Dieser Punkt deutet eine weitere offene Frage an, nämlich die Frage, wie es um die Reproduzierbarkeit in den Digital Humanities bestellt ist, wobei dabei zwischen einer Nachvollziehbarkeit des Verfahrens und einer Wiederholbarkeit des Ergebnisses unterschieden werden sollte. Eine Erörterung dieses Aspektes würde an dieser Stelle zu weit führen, er soll aber erwähnt sein, da sich im Zuge der gesamtwissenschaftlichen »Replikationskrise«[76] durchaus der Gedanke auftut, man sollte Möglichkeiten des wissenschaftlichen Scheiterns womöglich auch in dieser Hinsicht thematisieren. Läge das Problem dann aber in der Wissenschaftstheorie oder nicht vielmehr in den Bedingungen, unter denen Wissenschaft stattfindet?
[32]Das führt uns in unserer Betrachtung verschiedener Dimensionen des Scheiterns zuletzt noch einmal in realpolitische Zusammenhänge. Wenn es um das projektbasierte Arbeiten in den Digital Humanities geht und wir zugleich anerkennen, dass das Festschreiben von Zielvorgaben Projekte in die missliche Lage bringt, ambitioniert zu sein und dennoch produktorientiert, so verwundert es nicht, dass sich aus dieser Quelle der großen Versprechungen die feuilletonistische Kritik eines Urs Hafner speist, der im Fall der Schweiz eine negative Bilanz dortiger DH-Großprojekte gezogen hat.[77] Es wäre wahrscheinlich sinnvoll, aus dem Bewusstsein um die Versagensgründe, die sicherlich von Fall zu Fall zu unterscheiden und nicht immer mit Pauschalurteilen des Scheiterns treffend beschrieben sind, wie Tobias Hodel betont,[78] eine Fachkultur der Aufarbeitung zu entwickeln, die sich offen und ehrlich mit pragmatischen Aspekten der Projektdurchführung in den Digital Humanities auseinandersetzt. Dass ein Scheitern teilweise gar intendiert ist oder zumindest in Kauf genommen wird, hebt Lisa Spiro mit einem Verweis hervor, der noch in eine andere Richtung deutet:
»Not all experiments succeed as originally imagined, but the digital humanities community recognizes the value of failure in the pursuit of innovation. ›[T]o encourage innovations in the digital humanities,‹ the National Endowment for the Humanities offers ›Digital Humanities Start-Up Grants,‹ which ›are modeled, in part, on the ›high risk/high reward‹ paradigm often used by funding agencies in the sciences‹ (National Endowment for the Humanities). Failure is accepted as a useful result in the digital humanities, since it indicates that the experiment was likely high risk and means that we collectively learn from failure rather than reproducing it (assuming that the failure is documented).«[79]
[34]In dieser Sicht steht nicht der Erkenntnisgewinn im Mittelpunkt, sondern die vermeintliche Fallhöhe. Max Kemman rückt diese Form des Scheiterns in die Nähe von Geschäftsmodellen und Vermarktungsstrategien aus der Gründer*innenszene, wo unter Vermeidung von fundierter Forschung und entsprechender Vorbereitung von Vorhaben Formen des prototyping und andere teils bloß als Nebelkerzen kurz aufleuchtende Aktivitäten favorisiert werden.[80] Mangels Fachkenntnis lohnt es sich an dieser Stelle nicht, näher auf solche Überlegungen einzugehen; es sollte genügen, darauf zu verweisen, dass die Digital Humanities universitär verankert sind und den Richtlinien der Forschungsförderung entsprechen müssen, wenn sie gefördert werden wollen; inwiefern sich verschiedene gesellschaftliche, wissenschaftspolitische und sozioökonomische Tendenzen gegenseitig bedingen, sei dahingestellt. Da Vorstellungen des Scheiterns in den Digital Humanities allerdings eng mit dieser Fragestellung verknüpft zu sein scheinen, ist es erstens notwendig, diesen Umstand zu benennen, und zweitens, den Dialog differenziert zu führen.
5. Fragen
[35]Es gäbe noch viel zu sagen, doch die Zeichenzahl ist begrenzt. Daher in aller gebotenen Kürze: Wenn Quinn Dombrowski von Kommunikationsfehlern spricht,[81] dann handelt es sich dabei nicht unmittelbar um spezifisch digitalgeisteswissenschaftliche Problematiken. Es mag sein, dass das Ausmaß solcher Herausforderungen in interdisziplinären Zusammenhängen eine neue Qualität annimmt; und die begriffliche Präsenz von collaboration, sowohl in den ›Lab‹-Diskursen als auch in DH-Diskursen allgemein, kann hier als Fingerzeig dienen.[82] Was sich daraus als Handlungsempfehlung ableiten soll, ist momentan noch unklar. Überhaupt deutet eine Durchsicht der Forschungsliteratur an, dass in vielen Punkten Diskussionsbedarf besteht, der nicht immer oder nicht einmal hauptsächlich in der Forschungsliteratur selbst gedeckt werden kann, auch wenn er nicht spurlos an ihr vorübergeht. Daher kann dieser Themenkomplex um Formen des Scheiterns, Formen von Experimenten und Formen von Laboratorien keinesfalls als abgeschlossen erachtet werden. Vielmehr gilt es, folgenden Desideraten weitere Aufmerksamkeit zu schenken:
- In den Digital Humanities vermischen sich verschiedene Fachkulturen, Denktraditionen, auch sprachlich und damit ideengeschichtlich vormals abgegrenzte Diskurse. Frage: Wie lässt sich ein wissenschaftstheoretischer Dialog aufbauen, wenn nicht in der direkten Konfrontation dieser Umstände?
- Die Bandbreite an Experimenten und was mit dem Begriff gemeint sein kann, ist in den Digital Humanities nur vage umrissen. Frage: Wann verliert ein DH-Experiment den Status eines Experiments?
- Erfolg und Misserfolg sind keine geeigneten Richtgrößen, um Forschung zu evaluieren. Man muss aber den Wert dessen, was man tut, erkennen und bewerten können. Man muss die ›Analyse lehren‹. Nur dann lassen sich Ergebnisse einordnen. Frage: Wer lehrt das Verstehen?
[36]Da die Fragen rhetorisch klingen mögen, hier noch einige kurze Anmerkungen für ihre ausstehende Beantwortung:
[37]Zu 1.: Dialog setzt verschiedene Gesprächspartner voraus. Vertreter*innen einer Kulturkritik an den Digital Humanities wie Domenico Fiormonte haben dabei unter anderem den Monolingualismus des Faches im Blick, der zumindest in seiner internationalen Ausrichtung Wissensaustausch fördert, aber auch behindert.[83] Für die deutschsprachigen digitalen Geisteswissenschaften sollte es allerdings zweitrangig sein, ob und inwiefern theoretische Schriften wie jene von Dilthey in anglophonen DH-Publikationen rezipiert werden oder nicht; sie sollten nur darüber die Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen Geisteswissenschaften und die damit verbundenen Diskurse selbst nicht vergessen. Perspektivisch wäre ein internationaler Austausch über solche Traditionen aus verschiedenen nationalen Kontexten wünschenswert.
[38]Zu 2.: Die Antwort hängt davon ab, was man unter einem Experiment versteht. Wenn ein Experiment in den Digital Humanities darin besteht, Methoden aus anderen Wissenschaften auf geisteswissenschaftliche Untersuchungsgegenstände anzuwenden, vorausgesetzt, das Vorgehen wäre in der gegebenen Kombination unerprobt und hätte noch keinen gesicherten Nutzen, so würde ein solches Verfahren in dem Moment seinen experimentellen Status verlieren, in dem der Nutzen erbracht wäre. Wenn ein Experiment in den Digital Humanities hingegen darin besteht, neue Formen der Zusammenarbeit zu erproben, neue Formen der Wissenschaftskommunikation einzuführen, neue Formen von Arbeitsorten zu schaffen, dann wäre dieses wissenschaftskulturelle Experiment erst mit einer Etablierung entsprechender Strukturen und Formate beendet oder in dem Moment bereits wieder von einer sich verändernden Praxis überholt und erneut zum Experiment geworden. Noch ein Aspekt ist wichtig: Experimente müssen nicht aufhören, Experimente zu sein; ganz im Gegenteil ist das Experiment selbst als wissenschaftliche Methode beständig und folgt seiner eigenen Logik. Wenn wir uns also vorstellen, es würde neben diesen anderen Definitionen eines Experimentes auch solche Experimente in den Digital Humanities geben, die gezielt darauf ausgerichtet sind, immer nur bestimmte Daten mit anderen Daten oder bestimmten Verarbeitungsschritten zusammenzubringen und dabei zuzusehen, was passiert, dann würde diese Art des Experimentes immer Experiment bleiben. Hierbei gälte es black boxes zu vermeiden, da ein Experiment, wenn es auf die Beobachtung zielt, eine Beobachtung ermöglichen muss. Weitere Formen von Experimenten in den Digital Humanities sind vorstellbar; nur sollte Klarheit darüber herrschen, was mit dem Begriff jeweils gemeint ist.
[39]Zu 3.: Diese Frage ist in der Tat die entscheidende. Sie muss – über das Offensichtliche, also die universitäre Lehre, hinaus – zunächst offen bleiben.
[40]Es sei noch ein Schlusswort erlaubt:
[41]Ein Antrieb für Forschung ist die Neugier (oder die Unkenntnis). Doch worauf zielt die Vorstellung eines wiederholten Versagens? Auf das letztliche Gelingen, zumindest, wenn man voraussetzt, dass jeder eintretende Lerneffekt einem Zweck dient, nämlich der Verbesserung und Verfeinerung des Vorgehens. Wissenschaftsgeschichte ist auch immer eine Geschichte, die von Fehlschlägen geprägt ist[84] – das gilt im Übrigen für alle Wissenschaften inklusive der Geisteswissenschaften, wenn wir Thesen und Theorien dazu zählen, die mittlerweile als widerlegt oder überholt gelten; in dem Fall würden wir normalerweise aber wohl kaum von Fehlschlägen sprechen, weil es gemeinhin als selbstverständlich gilt, dass nur in der Auseinandersetzung, in der Fortentwicklung wissenschaftlicher Standards, das heißt in einer zunehmenden Tiefe und Breite der Auseinandersetzung (angesichts eines stetig anwachsenden Korpus an Forschungsliteratur), dass sich also nur in der Argumentation für und wider eine These und damit einhergehend einer Rückversicherung anhand der Quellenlage eine Erkenntnis herauskristallisiert, die es wiederum zu widerlegen gilt. Bewerten kann man das nur, wenn man Methode, Zielstellung und das Verhältnis beider zum untersuchten Material, respektive Datenmaterial, durchdrungen hat. In jedem Fall braucht es nicht nur Mensch oder Maschine, sondern den Wunsch zu wissen; so gut es geht zu wissen; sonst bleibt jedes Bemühen, um auf Unsworths ›new ignorance‹ zurückzukommen, nur Teil von jener Kraft, die stets das Wissenschaftliche will und stets das Nichtwissen schafft.