Best Practices für die Gestaltung virtueller Museumsräume - Experimente im Spannungsfeld von Human Computer Interaction, Digital Humanities und Public History

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Vera Piontkowitz Autor*inneninformationen
Manuel Burghardt Autor*inneninformationen

DOI: 10.17175/sb005_005_v2

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 185820383X

Erstveröffentlichung: 19.11.2021

Version 2.0: 01.09.2023

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autor*innen.

Letzte Überprüfung aller Verweise: 10.02.2023

GND-Verschlagwortung: Heuristik  | Informationswissenschaft  | Usability  | Virtual environment | Virtuelles Museum  | 

Empfohlene Zitierweise: Vera Piontkowitz / Manuel Burghardt: Best Practices für die Gestaltung virtueller Museumsräume. In: Manuel Burghardt / Lisa Dieckmann / Timo Steyer / Peer Trilcke / Niels Walkowski / Joëlle Weis / Ulrike Wuttke (Hg.): Fabrikation von Erkenntnis – Experimente in den Digital Humanities (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Sonderbände, 5). Wolfenbüttel 2021–2022. 19.11.2021. Version 2.0 vom 20.08.2023. HTML / XML / PDF. DOI: 10.17175/sb005_005_v2


Abstract

Die Covid-19-Pandemie belegt eindrucksvoll die Relevanz von virtuellen Museumsräumen, welche den Zugang zu Kunst- und Kulturartefakten auch in Zeiten physischer Einschränkungen ermöglichen. Neben der unstrittigen Relevanz solch virtueller Angebote steht als weiteres wichtiges Kriterium deren Akzeptanz, die im Wesentlichen von Kriterien wie Usability und User Experience abhängt. Bislang gibt es für die Umsetzung von benutzerfreundlichen Virtual Environments (VE) nur generische Design-Guidelines, wie etwa die Heuristiken-Sammlung von Sutcliffe und Gault 2004. In diesem Beitrag untersuchen wir im Rahmen einer heuristischen Evaluation die Anwendbarkeit dieser allgemeingültigen VE-Heuristiken auf virtuelle Museumsräume. Dazu wählen wir sechs exemplarische virtuelle Ausstellungen aus und evaluieren sie bzgl. der bestehenden Heuristiken. Im Ergebnis entstehen so einerseits Best Practices zur konkreten Umsetzung virtueller Museumsräume. Andererseits diskutieren wir anhand konkreter Beispiele die Grenzen der bestehenden Heuristiken. In der Folge benennen wir zwei Heuristiken, die für den Anwendungsbereich virtueller Museen nicht geeignet scheinen. Weiterhin ergänzen wir zwei Heuristiken, welche aus den Anwendungsbeispielen abgeleitet werden konnten und argumentieren für einen weiteren Ausbau spezifischer Heuristiken und Best Practices für virtuelle Museumsräume, um so systematisch die Wissensvermittlung im Sinne des Public-History-Ansatzes zu verbessern.


The Covid-19 pandemic demonstrates the relevance of virtual museums, which provide access to art and cultural heritage even in times when museums are closed. Besides their undisputable relevance, another important factor is the acceptance of virtual museums, which primarily depends on usability and user experience. So far, there are only generic guidelines for the design of user-friendly virtual environments, such as the twelve heuristics presented by Sutcliffe and Gault 2004. This paper presents an evaluation of those VE heuristics and their applicability to virtual museums. To do so, we select six exemplary virtual exhibitions and evaluate them with respect to the existing heuristics. Based on the results, we present best practices for the design of virtual museums. Furthermore, we discuss limitations of the existing heuristics. Two existing heuristics do not seem to be suitable for virtual museums. In addition, we complement two heuristics which could be derived from the examples and argue for a further development of domain-specific heuristics and best practices for virtual museums in order to systematically improve knowledge transfer in the sense of the public history approach..


Version 2.0 (01.09.2023)

Es wurden folgende Änderungen vorgenommen: Inhaltliche und formale Anpassungen, wie sie von den Gutachten angemerkt worden sind. Aktualisierung und Ergänzung der bibliografischen Angaben.

1. Zur Relevanz virtueller Museen und Ausstellungen

[1]Die Fotografie hat die Malerei nicht ersetzt, Instagram hat die Fotografie nicht platt gemacht und virtuelle Museumsrundgänge werden nicht die Museen killen.[1]


[2]Mit diesen Worten verfechtet die Kuratorin und Kolumnistin Anika Meier die Rolle virtueller Museumsrundgänge und verteidigt sie vor all jenen Kritiker*innen, die behaupten, eine virtuelle Museumserfahrung könne niemals den realen Besuch ersetzen. Diese Sichtweise sei laut Meier ein großes Missverständnis: Bei virtuellen Rundgängen gehe es nicht darum, Museen zu ersetzen, sondern darum, einen neuen Zugang zu Kunst und Kulturgütern zu schaffen.

[3]Im deutschsprachigen Raum wird seit den 1990er Jahren über eine einheitliche Definition des virtuellen Museums diskutiert.[2] Während der Begriff oft für begleitende oder ergänzende Angebote physischer Museen verwendet wird, definiert das Virtual Multimodal Museum (ViMM) virtuelle Museum in Abgrenzung zum physischen Museum folgendermaßen: »A virtual museum is a digital entity that draws on the characteristics of a museum, in order to complement, enhance, or augment the museum through personalization, interactivity, user experience and richness of content.«[3] Bei dieser Definition ist besonders hervorzuheben, dass das virtuelle Museum unabhängig vom physischen Museum existieren und damit als ein eigenständiges (und nicht nur als unterstützendes oder ergänzendes) Angebot fungieren kann. Angelehnt an diese Definition werden im Rahmen der vorliegenden Studie unter virtuellen Museen oder Museumsrundgängen sämtliche Angebote online zugänglicher Ausstellungen von Kunst und Kulturgütern verstanden, die als eigenständiges Angebot fungieren, wobei die Präsentation der Exponate und Informationen vielfältig ist und von einfachen Fotografien bis hin zu videospielartigen 360-Grad-Erfahrungen reicht. Bei virtuellen Museen liegt der Fokus in Abgrenzung zu beispielsweise Online-Sammlungen in der Vermittlung, weniger in der Erforschung oder Bewahrung von Exponaten.[4] Weiterhin ist der Begriff des virtuellen Museums nicht auf die Institution ›Museum‹ beschränkt – auch andere Gedächtnisinstitutionen wie Bibliotheken, Archive und Galerien (sogenannte GLAM-Institutionen) bieten derartige Ausstellungen an.

[4]Bereits lange bevor die Covid-19-Pandemie viele Museen und Kulturinstitutionen dazu zwang, ihre Tore für Besucher*innen zu schließen,[5] wurde das Internet als Ausstellungsplattform von Museen genutzt. Die Pandemie zeigt jedoch stärker und dringlicher denn je den Bedarf, aber auch die Potenziale virtueller Rundgänge auf. Neben einer hohen Zugänglichkeit durch die Verfügbarmachung von Exponaten im Internet sowie die Überwindung geografischer und zeitlicher Barrieren bieten virtuelle Museen die Möglichkeit, die Museumserfahrung interaktiv zu gestalten und Nutzer*innen beispielsweise durch digitales Storytelling zu aktivieren. Virtuelle Museen haben keine Einschränkungen, was die Größe der Ausstellungsräume betrifft und ermöglichen Kurator*innen und Museumsschaffenden, Räumlichkeiten nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Nutzer*innen zu gestalten und neuartige Präsentationsformen von Exponaten zu testen und umzusetzen. Weiterhin lassen sich fremde Exponate als Digitalisate in eine virtuelle Ausstellung einbinden. Nicht zuletzt können historische Stätten und zerstörte Orte, die nicht besucht werden können, für Nutzer*innen rekonstruiert und zugänglich gemacht werden.[6] Beispielhaft für die Relevanz virtueller Museen steht hier das Virtual Museum of Iraq: Dieses virtuelle Museum entstand aus der Not heraus, als während des Irakkrieges im Jahr 2003 das Gebäude des irakischen Nationalmuseums erheblichen Schaden nahm und unzählige Artefakte gestohlen wurden. Im Rahmen des Projektes des Consiglio Nazionale delle Ricerche,[7] des italienischen Außenministeriums und des irakischen Nationalmuseums wurden einige Exponate der Sammlung digitalisiert und in einen virtuellen Raum eingebunden, in dem Nutzer*innen 3D-Modelle der Artefakte, ergänzt durch Audio- und Videoinhalte, betrachten konnten. Das Projekt trug maßgeblich dazu bei, das historisch-archäologische Erbe des Iraks für die ganze Welt zugänglich zu machen, als das Museum selbst für Besucher*innen schließen musste. Das Virtual Museum of Iraq wurde so zu einem wichtigen Element der Sicherung des kulturellen Erbes des Landes.[8]

[5]Während die Relevanz virtueller Museumsräume spätestens seit Covid-19 außer Frage steht,[9] so ist aus Perspektive der public history für den Aspekt der Wissensvermittlung ein weiterer zentraler Faktor die Akzeptanz.[10] Die Akzeptanz virtueller Ausstellungen hängt dabei wesentlich von deren Gestaltung unter Berücksichtigung des Kriteriums der Usability ab. Immer dann, wenn wir das Gefühl haben, dass ein Produkt oder eine Software einfach zu benutzen ist und vielleicht sogar Spaß macht, ist dies auf die inhärente Usability zurückzuführen. Gute Usability ist typischerweise das Ergebnis vieler unterschiedlicher Faktoren und deswegen nicht immer klar benennbar.[11] Deshalb schlägt etwa Nielsen vor, Usability nicht als abstraktes, eindimensionales Konzept zu behandeln, sondern in mehrere konkrete Komponenten wie Erlernbarkeit, Effizienz, Einprägsamkeit, Fehlerquote und Zufriedenheit zu zerlegen.[12] Auf Basis dieser einzeln benennbaren Komponenten wurden im Bereich der human computer interaction (HCI) in der Vergangenheit unterschiedliche Guidelines, Heuristiken und Best Practices abgeleitet, um die Erstellung von Benutzeroberflächen mit einer möglichst hohen Usability und User Experience zu unterstützen. Dabei gibt es einerseits generische Guidelines, wie beispielsweise die Usability-Heuristiken von Nielsen[13] oder die acht goldenen Regeln des Interface-Designs von Shneiderman et al.[14] Andererseits gibt es eine ganze Reihe von domänen-spezifischen, angepassten Varianten von Design-Guidelines und Heuristiken, etwa für die Bereiche mobile design oder e-commerce.[15]

[6]Auch für die Domäne virtueller Ausstellungen finden sich Best Practices im Bereich der Benutzeroberflächen: Beispielsweise untersucht Johnson verschiedene Präsentationsformen von 3D-Objekten im Internet und leitet aus der Evaluation von fünf Projekten Best Practices ab, die Museen und andere Gedächtnisinstitutionen dabei unterstützen sollen, 3D-Objekte online frei verfügbar zu machen.[16] Vergleichbare Empfehlungen für die Umsetzung von Desktop-VR-Anwendungen im musealen Bereich sucht man bislang jedoch vergebens. Dabei liegt es nahe, generische Heuristiken aus dem übergeordneten Feld der VR-User-Interfaces[17] für den Bereich virtueller Museumsräume zu adaptieren.

[7]In unserem Beitrag verwenden wir zwölf Heuristiken von Sutcliffe und Gault,[18] um bestehende virtuelle Ausstellungen zu evaluieren und Best Practices für deren Umsetzung abzuleiten. Das Vorgehen orientiert sich dabei am Prinzip einer heuristischen Evaluation,[19] d. h. es werden sechs exemplarische virtuelle Ausstellungen systematisch exploriert und gegen die genannten Heuristiken evaluiert. Im Ergebnis entstehen so Best Practices für den Anwendungsbereich virtueller Ausstellungs- und Museumsräume, welche künftig für die Evaluation bestehender Angebote und vor allem auch für die Umsetzung neuer Ausstellungen eingesetzt werden können.

2. Methodisches Vorgehen

[8]In diesem Abschnitt wird das methodische Vorgehen bei der heuristischen Evaluation dargestellt. Dabei werden zum einen die zugrundeliegenden Heuristiken und zum anderen die evaluierten Projekte näher erläutert. Zudem sollen vorab einige grundlegende Begrifflichkeiten im Kontext des (3D-)User-Interface-Designs kurz erörtert werden.

2.1 Grundbegriffe des User-Interface-Designs

[9]Während ein User Interface (UI) das Medium beschreibt, mithilfe dessen die Kommunikation zwischen Nutzer*in und Computer stattfindet, werden Interaktionen in einem 3D-User-Interface in einer virtuellen 3D-Umgebung bewältigt. Eine 3D-Welt, welche aus einer First-Person-Perspektive erkundet wird, bezeichnet man als Virtual Environment (VE). Ein VE, welches nicht mithilfe eigens für den Zweck entwickelter Ein- und Ausgabegeräte (beispielsweise Controller und VR-Headset) betreten wird und stattdessen den Computerbildschirm als Fenster in die virtuelle Realität nutzt, wird als eine Desktop-VR-Anwendung bezeichnet.[20] Solche Desktop-VR-Anwendungen, die von Museen, aber auch anderen Institutionen frei im Internet zugänglich gemacht werden, sind Gegenstand der nachfolgenden Evaluationsstudie.

2.2 Ausgangslage: Heuristiken nach Sutcliffe und Gault

[10]Die Ermittlung von Best Practices im Anwendungsgebiet virtueller Museen stützt sich zunächst auf allgemeine Gestaltungsgrundsätze für (3D-)User-Interfaces. Solche Heuristiken, also Gestaltungsgrundsätze bzw. Usability-Prinzipien für Benutzeroberflächen, dienen deren Evaluation.[21] Basierend auf der Methode der Usability Inspection,[22] bei der User Interfaces von Expert*innen getestet werden, ist die heuristische Evaluierung eine Methode, bei der überprüft wird, ob eine Benutzeroberfläche mit allgemeinen Heuristiken der entsprechenden Domäne übereinstimmt und welche Probleme sich bei der Benutzung eines Interfaces ergeben könnten.[23] Solche Heuristiken wurden mit dem Hinweis, diese für explizite Anwendungsgebiete anzupassen und zu ergänzen, von Nielsen und Molich und in überarbeiteter Form von Nielsen veröffentlicht.[24] Diese Heuristiken beziehen sich ausschließlich auf 2D-User-Interfaces und sind deshalb nicht oder nur teilweise für die Nutzung in anderen Anwendungsszenarien geeignet.

[11]Die Heuristiken dienen trotz ihres weit zurückliegenden Publikationsdatums in vielen Anwendungsgebieten nach wie vor als Grundlage für die Erstellung von neuen, domänenspezifischen Heuristiken, welche die Eigenheiten und spezifischen Probleme des jeweiligen Anwendungsfelds berücksichtigen, beispielsweise für die sprachliche Interaktion von Mensch und Maschine oder für Augmented-Reality-Anwendungen für das Smartphone.[25] Für die Gestaltung und Evaluation von VEs präsentieren Sutcliffe und Gault, angelehnt an Nielsen, zwölf Heuristiken (vgl. Tabelle 1).

[12]Wenngleich die Heuristiken nach Sutcliffe und Gault für die Evaluation von VEs bereits vor über 15 Jahren veröffentlicht wurden, erweisen sie sich nach wie vor als aktuell: Beispielsweise dienten sie der Evaluation verschiedener italienischer virtueller Museumsrundgänge[26] oder der Entwicklung einer VR-Anwendung zur Behandlung von Nyktophobie[27].


Nr. Name Beschreibung
1 Natural engagement Interaktionen sollen sich den Erwartungen der Nutzer*innen an die Interaktion in der realen Welt so weit wie möglich annähern. Die Interpretation dieser Heuristik hängt von der Anforderung der Natürlichkeit der Anwendung sowie dem Gefühl der Präsenz und des Interesses der Nutzer*innen ab.[28]
2 Compatibility with the user‘s task and domain Das VE und das Verhalten von Objekten sollen so genau wie möglich den Erwartungen der Nutzer*innen an Objekte der realen Welt, ihrem Verhalten und den Möglichkeiten für die Durchführung von Aufgaben entsprechen.
3 Natural expression of action Die Darstellung des Selbst im VE soll es den Nutzer*innen ermöglichen, auf natürliche Weise zu handeln und zu erforschen und normale körperliche Bewegungen nicht einschränken. Diese Gestaltungsqualität kann durch die verfügbaren Geräte eingeschränkt sein. Wenn das haptische Feedback fehlt, leidet unweigerlich der natürliche Ausdruck.
4 Close coordination of action and representation Die Darstellungen des im VE manifestierten Selbst sollen den Handlungen der Nutzer*innen getreu sein. Die Reaktionszeit zwischen einer Bewegung der Nutzer*innen und der Aktualisierung der Anzeige des VE soll weniger als 200 ms betragen, um Probleme mit Cybersickness[29] zu vermeiden.
5 Realistic feedback Die Auswirkungen der Aktionen der Nutzer*innen auf Objekte der virtuellen Welt sollen sofort sichtbar sein und den physikalischen Gesetzen sowie den die Wahrnehmung betreffenden Erwartungen der Nutzer*innen entsprechen.
6 Faithful viewpoints Die visuelle Darstellung der virtuellen Welt soll der normalen Wahrnehmung der Nutzer*innen entsprechen, und der Blickpunktwechsel durch Kopfbewegungen soll ohne Verzögerung wiedergegeben werden.
7 Navigation and orientation support Für Nutzer*innen soll es immer möglich sein, ihre Position im VE auszumachen und zu bekannten, voreingestellten Positionen zurückzukehren. Unnatürliche Aktionen, wie beispielsweise das Durchfliegen eines Raumes, können hilfreich sein, müssen aber in einem Kompromiss mit der Natürlichkeit beurteilt werden (Heuristik 1 und Heuristik 2).
8 Clear entry and exit points Die Mittel zum Betreten und Verlassen einer virtuellen Welt sollen klar kommuniziert werden.
9 Consistent departures Wenn Designkompromisse eingegangen werden, sollen sie konsistent und klar gekennzeichnet sein.
10 Support for learning (Inter-)Aktive Objekte sollen markiert werden und sich gegebenenfalls selbst erklären, um das Erlernen von VEs zu fördern.
11 Clear turn-taking Wo Systeminitiativen eingesetzt werden, sollen diese klar signalisiert, weiterhin sollten Konventionen für das turn-taking festgelegt werden.
12 Sense of presence Die Präsenz im virtuellen Raum sollte sich für Nutzer*innen so natürlich und real wie möglich anfühlen.

Tab. 1 : Heuristiken nach Sutcliffe und Gault. [Suttcliffe / Gault 2004]

[13]Die grundlegende Eignung der in Tabelle 1 vorgestellten Heuristiken wurde anhand zweier Fallstudien, einerseits mit einem Experten für Mensch-Computer-Interaktion, andererseits mit einer Gruppe Bachelorstudierender, evaluiert.[30] Wenngleich die Einschätzung der Begutachtenden grundlegend positiv war, so ergaben sich in der Gesamtschau einige weitere Erkenntnisse für die Optimierung der Heuristiken. Vor der konkreten Anwendung der Heuristiken sollten diese, angepasst an das jeweilige VE, gefiltert werden. Die Autoren schlagen dafür folgende Einteilung vor:[31]

  • Heuristiken 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 und Heuristik 12 sind elementare Heuristiken, welche in jedem Fall für die Evaluation von VEs hinzugezogen werden können.
  • Heuristiken 8 und 9 hingegen eignen sich nur dann, wenn es sich beim VE um eine Desktop-VR-Anwendung handelt.
  • Die Einbindung von Heuristik 10 hängt von der Komplexität und Größe des VE ab.
  • Heuristik 11 eignet sich nur für kollaborative VEs, also solche VEs, in denen sich mehrere Nutzer*innen gemeinsam bewegen.

[14]Die Evaluation zu den Heuristiken nach Sutcliffe und Gault zeigt, dass die Sammlung zwar viele wichtige Aspekte abbildet, allerdings nicht gleichermaßen für die ganze Bandbreite von VE-Szenarien eingesetzt werden kann. Im Rahmen dieses Beitrags dienen die Heuristiken deshalb zunächst als Ausgangspunkt, um bestehende virtuelle Ausstellungen systematisch zu evaluieren und auf dieser Basis Best Practices für deren benutzerfreundliche Gestaltung abzuleiten.

2.3 Heuristische Evaluation

[15]Für die Erarbeitung von allgemeingültigen Best Practices zur Entwicklung und Gestaltung virtueller Museumsräume werden ausgewählte VEs aus dieser Domäne genauer betrachtet und Beispiele zur konkreten, positiven Umsetzung der Heuristiken[32] präsentiert. Der Erkenntnisgewinn stützt sich dabei auf ein deduktives Vorgehen, angelehnt an die heuristische Evaluation nach Nielsen:[33] Die Heuristiken werden dabei als Schablone auf die Anwendungen gelegt, woraufhin untersucht wird, ob und wie diese realisiert wurden. Mithilfe textueller Beschreibungen werden die Möglichkeiten zur Umsetzung der Heuristiken diskutiert und anschließend für jede Heuristik zusammengefasst. Unterstützend wird für die Beurteilung der Ansätze der Anwendungen einschlägige Literatur zu 3D-UIs hinzugezogen. Weiterhin wird die Relevanz jeder Heuristik für die gegebene Domäne diskutiert.

2.4 Projektauswahl

[16]Bei der Erarbeitung von Best Practices wurden insgesamt sechs VEs aus dem GLAM-Bereich ausgewählt. Die Projekte wurden weiterhin so ausgewählt, dass möglichst vielfältige, unterschiedliche Ansätze zur Umsetzung virtueller Museumsräume abgedeckt werden. Konkret wurde bei der Wahl der Projekte auf Diversität im Hinblick auf die nachfolgenden Selektionskriterien geachtet:

  • Gesamtansatz: eher klassisch vs. eher experimentell
  • Grad der Immersion: eher immersiv vs. weniger immersiv
  • Bewegung im Raum: eher frei vs. eher eingeschränkt
  • Interaktionsmöglichkeiten: eher viel vs. eher wenig

[17]Alle ausgewählten Projekte sind Desktop-VR-Anwendungen, die frei im Internet zur Verfügung stehen. Um die Projekte nutzen zu können, brauchen die Nutzer*innen also lediglich einen Computer mit Bildschirm, Tastatur und Maus und einem Audioausgang. Zum Teil unterstützen die Anwendungen zwar die Nutzung von VR-Headsets, dies wurde in der Analyse aber nicht weiter berücksichtigt, da die Nutzung der Anwendungen eine hohe Zugänglichkeit gewährleisten soll. Nachfolgend werden die Projekte kurz vorgestellt. Die Beschreibungen basieren dabei, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf der eigenen Betrachtung und Nutzung der Anwendungen. Tabelle 2 zeigt eine Übersicht über die ausgewählten Anwendungen sowie eine Aufschlüsselung der Selektionskriterien.


Selektionskriterien
Name Kurzname[34] Veröffentlichungsjahr Gesamtansatz Grad der Immersion Bewegung im Raum Interaktionsmöglichkeiten
WDR Zeitkapsel[35] Zeitkapsel 2018 Eher experimentell Eher immersiv Eher eingeschränkt Eher viel
Google Arts and Culture[36] Google 2011 Eher klassisch Wenig immersiv Eher frei Eher wenig
Nach Berlin[37] Berlin 2020 Eher experimentell Wenig immersiv Eher eingeschränkt Eher wenig
Walter’s Cube[38] Walter 2016 Eher klassisch Eher immersiv Eher frei Eher wenig
Digitale Kunsthalle[39] Kunsthalle 2019 Eher klassisch Eher immersiv Eher frei Eher viel
Museum Schnütgen[40] Schnütgen 2020 Eher klassisch Wenig immersiv Eher frei Eher wenig

Tab. 2 : Übersicht über die zu untersuchenden Projekte. [Piontkowitz / Burghardt 2021]

  1. Projekt: WDR-Zeitkapsel
    Die WDR-Zeitkapsel ist ein Projekt, welches den Nutzer*innen eine virtuelle Zeitreise ermöglichen soll. Es besteht die Möglichkeit, ein Wohnzimmer im Jahr 1968 zu besuchen oder an Bord eines Flugzeuges im Jahr 1960 zu reisen. Die virtuellen Orte bieten den Nutzer*innen eine 360°-Perspektive mit vielen Interaktionsmöglichkeiten. Bei bestimmten Interaktionen werden innerhalb der Umgebung kurze Videosequenzen abgespielt, die in die 360°-Erfahrung eingebunden sind. Der WDR bietet darüber hinaus Unterrichtsmaterialien für Lehrer*innen, um die Zeitkapsel in den Schulunterricht einzubinden.[41]
  2. Projekt: Google Arts and Culture
    In diesem Projekt von Google werden virtuelle Rundgänge für eine Vielzahl von Museen und historischen Stätten angeboten. Einerseits haben Nutzer*innen die Möglichkeit, Museen und historische Stätten in der Funktionsweise von Google Street View zu besuchen, andererseits gibt es ein großes Angebot hochauflösender Fotografien von Exponaten, die in eigens für dieses Medium konzipierten Ausstellungen eingebunden sind.
  3. Projekt: Nach Berlin
    Die virtuelle Ausstellung Nach Berlin ist ein Projekt zum 75. Jahrestag des Kriegsendes. Die Ausstellung bietet 360°-Ansichten an unterschiedlichen Orten, darunter der Reichstag, das Brandenburger Tor, das ehemalige KZ Sachsenhausen sowie der Alexanderplatz. Bei der 360°-Erfahrung werden Bilder der Orte, wie sie heute aussehen, vermischt mit historischen Bildern vom Kriegsende. Audiosequenzen, Bilder und kurze Texte versorgen die Nutzer*innen mit Informationen zu unterschiedlichen Aspekten des Krieges und des Kriegsendes.
  4. Projekt: Walter’s Cube
    Walter’s Cube bietet Galerien und Museen die Möglichkeit, Ausstellungen als 3D-Räume zu erfassen und auf verschiedenen Plattformen zu veröffentlichen. Nutzer*innen können sich frei in den virtuellen Räumen von Walter’s Cube bewegen und unterschiedliche Kunstwerke wie Malereien oder 3D-modellierte Skulpturen betrachten. Das Ziel der Organisation ist es, zeitliche und geographische Barrieren abzubauen und Ausstellungen frei zugänglich zu machen.
  5. Projekt: Digitale Kunsthalle
    Die digitale Kunsthalle ist ein Projekt des ZDF, das wechselnde Ausstellungen in einem virtuellen Museum zeigt. Gezeigt werden neben Bildern und Malereien auch 3D-modellierte Objekte, welche durch die freie Bewegung im Raum und das Heranzoomen mit dem Mausrad genauer betrachtet werden können. Eine Einbindung von Informationstexten und Videos vermittelt den Nutzer*innen weitere Hintergründe zur Ausstellung und ihren Exponaten.
  6. Projekt: Museum Schnütgen
    Die Dauerausstellung des Kunstmuseums Museum Schnütgen ist als virtueller 360°-Rundgang online zugänglich. Nutzer*innen können sich an bestimmten Punkten in der Ausstellung in einer 360°-Perspektive umsehen und sich mit einem der Audioguides (für Kinder oder für Erwachsene) über die Ausstellung und die Exponate informieren. Zusätzlich stehen für eine Vielzahl der Exponate Fotografien in guter Qualität zur Verfügung, die in die virtuelle Ausstellung eingebunden sind.

3. Best Practices für die Gestaltung virtueller Museumsräume

[18]In diesem Abschnitt stellen wir die Ergebnisse der heuristischen Evaluation von den genannten virtuellen Museumsräumen vor und leiten jeweils Best Practices für die konkrete Umsetzung einzelner Heuristiken ab. Dabei diskutieren wir die Anwendbarkeit und mögliche Interpretationsspielräume der bestehenden VE-Heuristiken für das Szenario musealer Räume. In Ergänzung zu den nachfolgenden Heuristiken sollten virtuelle Ausstellungen grundsätzlich einen möglichst barrierefreien Zugang haben. Gemeint ist damit beispielsweise die Verfügbarmachung von Untertiteln für auditive Elemente und Vorlesefunktionen für textuelle Informationen, aber auch die Möglichkeit, Texte in leichter Sprache anzeigen zu lassen.

3.1 Natürlichkeit der Anwendung (Natural engagement)

[19]Bei der Untersuchung der ausgewählten Projekte auf ihre Natürlichkeit und Nähe zur realen Welt stellt sich die Frage, welcher Anspruch an Natürlichkeit bei der Gestaltung eines virtuellen Museums gestellt werden sollte. Hier bietet sich ein Vergleich zu einer anderen Domäne an: Ist das VE beispielsweise eine Trainingssoftware für Chirurgie, so sollten sich die Aktionen und Interaktionen von Nutzer*innen klar an der realen Welt orientieren und diese nachahmen. Virtuelle Museen dagegen haben niedrigere Anforderungen an die Natürlichkeit, da hier nicht der Anspruch besteht, eine möglichst reale Museumserfahrung zu imitieren, sondern vielmehr die Vorteile und Stärken des interaktiven Mediums genutzt werden sollen. Dieser Kompromiss wird von Sutcliffe und Gault auch betont,[42] indem sie verdeutlichen, dass die Interpretation dieser Heuristik von den Anforderungen an die Natürlichkeit der Anwendung abhängig gemacht werden soll. In der zu betrachtenden Domäne sollte nur dann eine Nähe zur realen Welt aufgebaut werden, wenn dies auch direkte Vorteile für die Nutzung der Anwendung mit sich bringt. Es lassen sich bestimmte Funktionen festmachen, die einerseits das Maß der Natürlichkeit der Anwendung erhöhen und andererseits auch zur intuitiven Nutzung der Anwendung beitragen.

[20]Wie in der Kunsthalle umgesetzt, ermöglicht die freie Bewegung im Raum den Nutzer*innen, sich ohne Einschränkungen umzusehen, verschiedene Positionen und Blickwinkel einzunehmen und so beispielsweise Skulpturen im Museum ganzheitlich betrachten zu können. Die Nutzer*innen können sich einerseits mit den Pfeiltasten fortbewegen, andererseits können sie mit der Maus einen beliebigen Punkt im Raum anklicken, um dorthin zu gelangen. Hält der*die Nutzende eine beliebige Maustaste gedrückt und bewegt die Maus, kann die Sicht in alle Richtungen verändert werden. Diese handgesteuerte Lenkung hat einerseits den Nachteil, dass die Nutzer*innen zwei Richtungen, also Blick- und Bewegungsrichtung, kontrollieren müssen, was die Lenkung komplizierter macht. Andererseits birgt diese Art der Lenkung den Vorteil, dass Blick- und Bewegungsrichtung nicht die gleiche sein müssen und sich durch die Kontrolle zweier Richtungen schneller ein räumliches Verständnis bei den Nutzer*innen bildet.[43]

[21] Zusammenfassung: Die Natürlichkeit der Anwendung ist keine hohe Priorität bei virtuellen Museen und sollte lediglich dann umgesetzt werden, wenn dies die Usability erhöht oder Möglichkeiten für das Vermittlungskonzept bietet. Durch die freie Bewegung im Raum mit einer handgesteuerten Lenkung können Nutzer*innen Kunstwerke und Exponate aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und das VE besser erkunden.

3.2 Konformität mit der Anwendungsdomäne und den Nutzererwartungen (Compatibility with the user’s task and domain)

[22]Bei Betrachtung dieser Heuristik sollte vorerst definiert werden, welche Aufgaben Nutzer*innen potenziell in einem virtuellen Museum durchführen bzw. welche Ziele sie erreichen möchten, und wie sie diese Aufgaben in einem realen Museum durchführen würden. Deggim et al. nennen verschiedene Anwendungen für die Nutzung virtueller Museen:[44] den Zugang zu Informationen und Zusammenhängen, die Präsentation von Inhalten, wie sie gegebenenfalls mit klassischen Ausstellungsmethoden nicht möglich ist, die Entwicklung eines Interesses am Themengebiet sowie die Möglichkeit zeit- und ortsunabhängiger Museumsbesuche. Letzteres ist bei allen ausgewählten Projekten gegeben, da diese online zur Verfügung stehen. In besonderem Maße wird dies jedoch im Walter-Projekt umgesetzt. Zum einen handelt es sich hier um 3D-modellierte Ausstellungen, die nachträglich verändert werden können und deshalb nicht in einer Zeit ›stehenbleiben‹. Weiterhin macht sich die Firma Walter’s Cube die Orts- und Zeitunabhängigkeit explizit zur Aufgabe: »Our mission is to eliminate geographic and temporal barriers between exhibitions and the audiences.«[45]

[23]Exponate betrachten zu können und sich über diese und darüberhinausgehende Zusammenhänge zu informieren, ist eine elementare Aufgabe, die in virtuellen Museen unbedingt durchführbar sein sollte. Schnütgen ermöglicht den Nutzer*innen die Bewältigung dieser Aufgaben, wobei eine starke Orientierung an realen Museumserfahrungen auffällt. Die Möglichkeit zur Informationsakquise wird hier durch unterschiedliche Medien gewährleistet: Nutzer*innen können sich mithilfe eines Audioguides durch die Ausstellung führen lassen. Ein zusätzlicher Audioguide für Kinder vermittelt die Inhalte in leicht verständlicher, kindgerechter Weise. Die Stationen für die Audioguides werden durch runde Buttons mit entsprechenden Symbolen gekennzeichnet. Wird der Button angeklickt, öffnet sich oben rechts im Bildschirm ein kleines Fenster, das den Titel der Tonspur, die Länge der Audiosequenz, die Länge der bisher angehörten Audiosequenz sowie einen Play- und Pause-Button anzeigt. Darüber hinaus sind ausgewählte Exponate mit Buttons versehen, die kennzeichnen, dass zu diesem Objekt eine hochauflösende Fotografie sowie ein Informationstext oder eine Beschreibung des Exponats zur Verfügung steht. Detailansichten, die mit Informationstexten versehen sind, finden sich auch im Projekt Kunsthalle. Hier klicken Nutzer*innen die Exponate an, wobei sich ein neues Fenster öffnet, welches entweder mit Fotografien der Exponate aus unterschiedlichen Blickwinkeln und passenden Informationstexten gefüllt ist oder die Nutzer*innen mit zusätzlichen Medien wie eigens für die Ausstellungen gedrehten Videos versorgt (vgl. Abbildung 1).


                           Abb. 1: Detailansicht eines
                           Kunstwerks mit zugehörigem Informationstext im Projekt Kunsthalle. In: Digitale Kunsthalle. [ZDF (Hg.)
                              2016]
Abb. 1: Detailansicht eines Kunstwerks mit zugehörigem Informationstext im Projekt Kunsthalle. In: Digitale Kunsthalle. [ZDF (Hg.) 2016]

[24]Weiterhin umfasst diese Heuristik auch das Verhalten von virtuellen Objekten, welches den Erwartungen der Nutzer*innen weitestgehend entsprechen sollte. Beispielhaft lässt sich dies im Projekt Zeitkapsel festmachen. Im Szenario 1968 – Schöner Wohnen haben Nutzer*innen etwa die Möglichkeit mit Elektrogeräten in authentischer Weise zu interagieren. Beim Fernseher können Nutzer*innen ein Programm auswählen und sich dieses anschauen, das Radio bietet die gleiche Möglichkeit. Mit einem Klick auf den Plattenspieler können Nutzer*innen zwischen zwei Platten wählen und diese dann abspielen. In der digitalen Kunsthalle zeigt sich beispielhaft, wie multimediale Inhalte für die Nutzer*innen intuitiv eingebunden werden können: In der Ausstellung Geraubte Kunst – Jüdische Sammlungen im Nationalsozialismus befindet sich im zweiten Raum ein 3D-modellierter Schreibtisch, auf dem unterschiedliche Objekte präsentiert sind, unter anderem ein Laptop. Der Bildschirm des Laptops zeigt ein Standbild eines Interviews, welches mit einem Klick auf das Gerät abgespielt wird.

[25] Zusammenfassung: Es zeigt sich, dass Detailansichten von Exponaten, versehen mit hochauflösenden Fotografien der Objekte und Informationsmedien unterschiedlicher Art, den Nutzer*innen deren Betrachtung erleichtert. Weiterhin bietet es sich im virtuellen Raum an, Gebrauchsobjekte entsprechend ihrer Verwendung in der realen Welt mit Interaktionen oder multimedialen Angeboten zu versehen.

3.3 Natürliche Interaktion (Natural expression of action)

[26]Im Rahmen dieser Studie wurden ausschließlich Projekte mit einer hohen Zugänglichkeit ausgewählt, was u. a. bedeutet, dass für deren Nutzung keine speziellen VR-Ein- und Ausgabegeräte benötigt werden. Entsprechend erfahren die Nutzer*innen der Anwendungen auch kein haptisches Feedback und können die Anwendung nicht mit natürlichen Körperbewegungen wie Gehen oder Greifen bedienen, weshalb die Relevanz dieser Heuristik in den Hintergrund rückt. Sutcliffe und Gault nehmen die Einschränkungen durch die verfügbaren Ein- und Ausgabegeräte zur Kenntnis, beschreiben aber auch, wie durch eben diese Einschränkungen der natürliche Ausdruck leidet.[46] Diese Problematik scheint in der Museumsdomäne aber wenig relevant, da hier, wie oben bereits erläutert, nicht der Anspruch besteht, eine reale Museumserfahrung nachzuahmen.

[27]Die natürliche Darstellung des Selbst kann jedoch auch ohne haptisches Feedback in Desktop-VR-Anwendungen angedeutet werden. LaViola et al. schlagen etwa vor, bei einer Einschränkung der zur Verfügung stehenden Geräte das haptische Feedback durch auditives und visuelles Feedback zu substituieren.[47] Beispielsweise wird den Nutzer*innen von Walter’s Cube mit Gehgeräuschen ihre Bewegung verdeutlicht, was den natürlichen Ausdruck im VE fundiert. Auch im Projekt Zeitkapsel wird die Selbstwahrnehmung im VE durch auditives Feedback unterstützt. Obgleich die Nutzer*innen dieser Anwendung sich lediglich in einer 360°-Ansicht im Raum umsehen können, verändert sich beispielsweise die Lautstärke des Fernsehers im Szenario 1968 – Schöner Wohnen , wenn sich die Nutzer*innen von diesem wegdrehen. Auditives Feedback unterstützt jedoch nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern kann auch förderlich für die Orientierung im VE sein. Dieser Aspekt wird in der Betrachtung von Heuristik 7: Navigation and orientation support näher beleuchtet. Auch die freie Bewegung im Raum, wie sie in der Kunsthalle umgesetzt ist und unter Heuristik 1: Natural engagement bereits erörtert wurde, trägt zum natürlichen Ausdruck und einer besseren Selbstwahrnehmung im VE bei.

[28] Zusammenfassung: Insgesamt lässt sich festhalten, dass der natürliche Ausdruck eine*r Nutzer*in zwar durch die Ein- und Ausgabegeräte limitiert ist, sich haptisches Feedback aber durch auditives Feedback substituieren lässt und auch die freie Bewegung im Raum zu einer verbesserten Selbstwahrnehmung und Natürlichkeit beiträgt.

3.4 Schnelle Reaktionszeiten (Close coordination of action and representation)

[29]Eine schnelle Reaktionszeit zwischen Aktionen der Nutzer*innen und der Anzeige dieser Aktionen soll vermeiden, dass Nutzer*innen unter Cybersickness leiden. Studien zeigen, dass Desktop-VR-Anwendungen jedoch deutlich seltener Cybersickness hervorrufen als VR-Headsets.[48] Dennoch verliert die Heuristik dadurch nicht an Relevanz, da eine schnelle Reaktionszeit insgesamt zur Usability der Anwendung beiträgt.[49] Reaktionszeiten hängen von unterschiedlichen Faktoren, wie beispielsweise der Serverleistung, ab und werden weniger vom Design eines VE, als vielmehr von dessen Implementierung beeinflusst.[50] Dennoch ist festzuhalten, dass mit neu aufkommenden Formaten, welche Nutzer*innen die Erstellung virtueller 3D-Räume und die kollaborative Nutzung jener ermöglichen, die Performance auch von der Anzahl der eingebundenen Medien und der sich zeitgleich im virtuellen Raum befindenden Nutzer*innen abhängt.[51] Da es sich bei den betrachteten virtuellen Museen nicht um solche Räume handelt, soll diese Heuristik für die weitere Bearbeitung nicht berücksichtigt werden.

[30] Zusammenfassung: Diese Heuristik ist für Desktop-VR-Anwendungen, wie sie in dieser Studie untersucht werden, nicht relevant.

3.5 Realistisches Feedback (Realistic feedback)

[31]Objekte im VE sollten in ihrem Verhalten physikalischen Gesetzen folgen und darauf bezogen den Erwartungen der Nutzer*innen gerecht werden. Der Fokus liegt hier auf Realismus, und weniger auf den Erwartungen der Nutzer*innen an die Nutzung der Objekte zur Durchführung von Interaktionen, wie es bei Heuristik 2: Compatibility with the user’s task and domain der Fall ist. Die Anforderungen an realistisches Verhalten von Objekten sind in der vorliegenden Domäne eher nebensächlich. Beispielsweise lassen sich in keinem der ausgewählten Projekte Beispiele für Objekte finden, die ergriffen und anschließend fallen gelassen werden können.

[32]Bestimmte Faktoren werden dennoch den Anforderungen an eine realistische Darstellung gerecht. Beispielsweise spiegelt das auditive Feedback in der Zeitkapsel-Anwendung, das unter Heuristik 3: Natural expression of action bereits beschrieben wurde, realistisches Verhalten von Objekten bzw. die Interaktion mit diesen wider. Weiterhin fällt bei der Kunsthalle auf, dass hier Schatteneffekte genutzt wurden, die die realistische Darstellung des Raumes und der Objekte unterstützen. Unterschiedliche Lichtquellen lassen die 3D-modellierten Objekte im virtuellen Museum unterschiedliche Schatten werfen. Die Lichtquellen selbst spiegeln sich teilweise im Boden. Diese Tiefenhinweise bieten den Nutzer*innen eine verbesserte Wahrnehmung des dreidimensionalen Raumes insgesamt und ergänzen die Vorstellung der Positionen der Objekte im Raum.[52] In der gleichen Anwendung wird der Realismus dadurch verstärkt, dass Gegenstände, Wände und Möbel innerhalb der 3D-modellierten Museumsräume Hindernisse darstellen. Das bedeutet, das Nutzer*innen nicht durch diese Objekte hindurchlaufen können. So wird die Nähe zur realen Welt gewährleistet. Nutzer*innen werden Raum für Raum durch die Ausstellung geleitet und können sich besser orientieren, da ihr Orientierungssinn nicht durch physisch unmögliche Handlungen wie das Durchfliegen von Wänden gestört wird. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die Reihenfolge der Räume und Exponate so zu gestalten, dass diese zum Verständnis des Themenkomplexes beiträgt, ohne dass Nutzer*innen diese Reihenfolge missachten können.

[33] Zusammenfassung: Objekte, die Interaktion durch Bewegung zulassen, sollten grundlegenden physikalischen Gesetzen folgen. Realismus kann in Desktop-VR-Anwendungen durch auditives Feedback sowie Schatteneffekte verbessert werden, wodurch auch die dreidimensionale Wahrnehmung der Nutzer*innen unterstützt wird. Wird die freie Bewegung dadurch limitiert, dass Objekte und Wände Hindernisse darstellen, so verbessert dies die Orientierung in der Anwendung: Indem die Wahlmöglichkeiten der Nutzer*innen eingeschränkt sind und sie weniger Entscheidungen treffen müssen, wird der Umgang mit dem System vereinfacht.[53]

3.6 Zuverlässige Blickpunkte (Faithful viewpoints)

[34]Diese Heuristik behandelt Perspektivwechsel innerhalb des VE. Diese sollen ohne Verzögerung entsprechend den Kopfbewegungen der Nutzer*innen wiedergegeben werden. Hier wird deutlich, dass diese Heuristik nur bedingt auf Desktop-VR-Anwendungen angewendet werden kann, da kein VR-Headset zur Verfügung steht, um den Blickpunkt mit Kopfbewegungen zu wechseln. Jedoch lassen sich auch in Desktop-VR-Anwendungen die Blickpunkte mit Maus und Tastatur als Eingabegeräte verändern.

[35] Projekt Google ermöglicht es den Nutzer*innen, sich in alle Richtungen ohne Einschränkungen umzusehen. Dazu halten die Nutzer*innen die linke Maustaste gedrückt und ändern den Blickpunkt, indem sie das Bild mit der Maus umherschieben, wobei der Bildschirmrand eine Limitation darstellt: Ist dieser mit dem Cursor erreicht, muss der Cursor erst wieder in eine neue Position gebracht werden, damit der Blickwinkel weiter verändert werden kann. Durch die Betätigung des Mausrades oder das Zusammen- bzw. Auseinanderziehen der Finger auf dem Touchpad kann zusätzlich heran- und weggezoomt werden. Die Möglichkeit zur Änderung des Blickpunktes bietet sich vor allem in Anwendungen an, in denen historische Orte präsentiert werden. Ein Beispiel aus der Google-Anwendung ist ein virtueller Rundgang durch Schloss Versailles, bei dem es viele Kunstwerke zu entdecken gilt, die sich nicht auf Kopfhöhe der Nutzer*innen befinden, sondern beispielsweise die Decke zieren. Durch die Zoom-Funktion lassen sich in den Gebäuden und Kunstwerken Details ausmachen, die sonst nicht zu erkennen wären. Auch die Kunsthalle bietet Nutzer*innen die Möglichkeit, sich frei im Raum umzuschauen. Die Steuerung unterscheidet sich minimal von Google: Die Veränderung des Blickwinkels wird durch Gedrückthalten einer beliebigen Maustaste gesteuert. Dabei wendet sich der Blick in die Richtung, in die der Cursor bewegt wird. Bei Google ist es umgekehrt. Hier bewegt sich der Blickwinkel immer in die entgegengesetzte Richtung des Cursors. Es ist unklar, welche der beiden Varianten der Blickpunktänderung hier stärker konventionalisiert ist, da beide Interaktionsvarianten jeweils auch in zahlreichen anderen Anwendungen vorzufinden sind.

[36] Zusammenfassung: Grundsätzlich sollten bei der Gestaltung von virtuellen Museumsangeboten freie Wechsel des Blinkwinkels ermöglicht werden. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn die Ausstellung von Exponaten nicht auf eine durchschnittliche Kopfhöhe limitiert ist, sondern überall im Raum zu finden sind. Durch das Heranzoomen mit Mausrad oder Touchpad können zusätzlich Details exploriert werden.

3.7 Unterstützung bei Navigation und Orientierung (Navigation and orientation support)

[37]Die Orientierung im VE sollte insofern durch eine intuitive Navigation unterstützt werden, dass Nutzer*innen ihre Position stets ausmachen und gegebenenfalls zu bekannten Positionen steuern können. Dabei sollten sich unnatürliche Aktionen wie das Durchfliegen von Räumen mit dem Anspruch des VE nach Natürlichkeit die Waage halten. In der digitalen Kunsthalle wird etwa die Orientierung in der Ausstellung durch eine Anzeige am rechten unteren Bildschirmrand unterstützt, welche die Nutzer*innen darüber informiert, in welchem Raum sie sich befinden. Die Räume sind mit einer Nummer und einem Titel versehen. Nutzer*innen werden in einen anderen Raum teleportiert, wenn sie einen der Pfeile links und rechts der Anzeige anklicken. So können sie, ohne selbst in die entsprechenden Räume zu navigieren, einfach in andere Räume innerhalb der Ausstellung springen. Eine ähnliche Umsetzung der Unterstützung wird den Nutzer*innen beim Projekt Nach Berlin geboten. Hier sind am unteren Bildschirmrand nebeneinander alle Orte, an die sich die Nutzer*innen begeben können, mit Namen und einem Bild gelistet. Damit deutlich ist, an welchem Ort sich die Nutzer*innen befinden, sind die inaktiven Orte grau unterlegt. So wird der aktive Ort hervorgehoben. Die gelisteten Orte fungieren einerseits als Information über den aktuellen Aufenthaltsort der Nutzer*innen im VE, andererseits kann nur durch Anklicken der Orte die Position gewechselt werden.

[38]Beim Museum Schnütgen wurde bei der Navigationshilfe auf eine klassische Karte gesetzt (vgl. Abbildung 2). Durch das Klicken auf ein entsprechendes Symbol am rechten unteren Bildschirmrand öffnet sich eine Karte, welche die Ausstellungsräume zeigt. Zusätzlich werden auf der Karte alle Punkte angezeigt, die ›angeflogen‹ werden können. Auch der aktuelle Standort der Nutzer*innen wird auf der Karte rot markiert und mit dem Winkel der Blickrichtung dargestellt. Standortänderungen können durch das Anklicken der verfügbaren Punkte erfolgen. Diese Hilfestellung bietet sich hier besonders an, da die Bewegung in der Anwendung auf das Anklicken einzelner Punkte, von denen aus sich die Nutzer*innen umsehen können, beschränkt ist. Auch auditive Stimuli können die Nutzer*innen bei der Orientierung im VE unterstützen, indem Geräusche und ihre Lautstärke einen Ort oder die Distanz zu einem Ort signalisieren.[54] Stehen den Nutzer*innen Kopfhörer zur Verfügung, profitieren sie in der WDR-Zeitkapsel von Raumklang. So können sie ausmachen, aus welcher Richtung Geräusche kommen, beispielsweise Gespräche von Personen oder der Klang eines Fernsehers oder Plattenspielers.

[39] Zusammenfassung: Nutzer*innen sollten bei der Navigation und Orientierung im VE unterstützt werden. Je nach Anwendung bieten dafür unterschiedliche Möglichkeiten an, wie z. B. die Einbindung einer Karte oder die Auflistung der Räume der Ausstellung. Durch auditives Feedback kann die Orientierung zusätzlich verbessert werden, indem Orte oder Distanzen zu diesen so signalisiert werden.


                           Abb. 2: Navigationshilfe im
                           Museum Schnütgen. In: Museum
                           Schnütgen. 360° Rundgang. [Stadt Köln (Hg.) 2020]
Abb. 2: Navigationshilfe im Museum Schnütgen. In: Museum Schnütgen. 360° Rundgang. [Stadt Köln (Hg.) 2020]

3.8 Eindeutige Ein- und Ausstiegspunkte (Clear entry and exit points)

[40]Die Ein- und Ausstiegspunkte der VEs sollen eindeutig sein, sodass Nutzer*innen wissen, wie sie ein VE betreten und auch wieder verlassen können. Die Relevanz dieser Heuristik für Desktop-VR-Anwendungen wurde von den Autoren betont.[55] Die Einbindung eindeutiger Ein- und Ausstiegspunkte wurde in den Projekten unterschiedlich umgesetzt.

[41]In der Zeitkapsel ist der Einstieg für Nutzer*innen in das VE in ein Storytelling eingebaut. Um in die Anwendung selbst zu gelangen, betätigen die Nutzer*innen einen ›Starten‹-Button. Daraufhin kann zwischen einer normalen oder einer hohen Auflösung gewählt werden. Nun befinden sich die Nutzer*innen bereits im VE, müssen sich aber noch entscheiden, in welche virtuelle Welt sie reisen möchten ( 1960 – Willkommen an Bord oder 1968 – Schöner Wohnen ). Dazu werden ihnen von einem ›Dealer‹ unterschiedliche Zeitreise-Kapseln angeboten, von denen sie eine einnehmen sollen. So ist der Einstieg in das VE interaktiv gestaltet und in das Storytelling der Anwendung eingebunden. Die virtuellen Welten können gewechselt werden, indem über das Menü, das am rechten oberen Bildschirmrand aufgerufen werden kann, eine andere Zeitkapsel geschluckt bzw. die Episode gewechselt wird. Das Aufrufen des Menüs ist jederzeit möglich, wodurch Nutzer*innen die Möglichkeit haben, das anfängliche Storytelling zu überspringen und sofort in eine andere virtuelle Welt einzutauchen.

[42]Weniger interaktiv, dafür aber leichter verständlich, wird der Ein- und Ausstieg in und aus dem VE in der Kunsthalle gestaltet. Auf der Startseite der Digitalen Kunsthalle sind alle aktuell zugänglichen Ausstellungen gelistet. Mit einem Klick auf den Button ›Ausstellung besuchen‹ gelangen die Nutzer*innen, nachdem die virtuelle Ausstellung geladen wurde, in das gewünschte VE. Die Möglichkeiten zum Verlassen einer Ausstellung bzw. zum Wechseln zu einer anderen sind ebenfalls klar gekennzeichnet. Einerseits befindet sich im ersten und letzten Raum jeder Ausstellung an der 3D-modellierten Wand ein ›Alle Ausstellungen‹-Button, welcher die Nutzer*innen zurück auf die Startseite führt. Andererseits ist dieser Button auch über das Menü am oberen Bildschirmrand zugänglich.

[43]Im Sinne des Natural engagement beginnt die virtuelle Museumstour von Schnütgen im Foyer des Museums. Mit dem Anklicken des sich am Boden des Museums befindlichen Buttons ›Zum 360°-Rundgang‹, der sich an der Stelle befindet, wo in der realen Welt auch der Eingang zu der Ausstellung wäre, gelangen die Nutzer*innen in das virtuelle Museum.

[44] Zusammenfassung: Ein- und Ausstiegspunkte sollten klar gekennzeichnet sein und idealerweise an mehreren Stellen zur Verfügung stehen. Beispielsweise können im VE selbst Buttons zum Verlassen oder Ändern der virtuellen Welt eingebunden werden, die gleichzeitig auch über das Menü zugänglich sind. Abhängig von der Art und Zielgruppe der Anwendung bietet sich eine Einbindung der Ein- und Ausstiegspunkte ins Storytelling an.

3.9 Konsistenz bei Designkompromissen (Consistent departures)

[45]Immer dann, wenn im virtuellen Raum etwas anders umgesetzt wird als in der realen Welt, sollte dies eindeutig gekennzeichnet und vor allem konsistent umgesetzt werden. Typische Beispiele sind hier etwa die Substitution von Modalitäten, beispielsweise das Ersetzen von realem ›Tasten / Fühlen‹ durch ›Hören / Sehen‹ im virtuellen Raum, oder die Verwendung von effektiven Navigationsmechanismen, etwa das Fliegen durch den virtuellen Raum oder die Nutzung von Teleportation. In den evaluierten Projekten finden sich vor allem Beispiele aus dem letztgenannten Bereich der Navigation, allerdings nicht im Sinne erweiterter Navigationsmöglichkeiten, sondern eher im Sinne von Einschränkungen der Bewegung im virtuellen Raum.

[46]Bei Google Arts and Culture etwa ist eine freie Bewegung im Raum nur bedingt möglich. Die Nutzer*innen können mit der Maus anzeigen, in welche Richtung sie sich bewegen möchten. Der Cursor stellt in der Anwendung einen Pfeil dar, der in die Richtung zeigt, in die sich die Nutzer*innen beim Mausklick bewegen werden. Bei der Bewegung zu einem ausgewählten Punkt zeigt eine kurzzeitige Unschärfe des Bildes den Nutzer*innen an, dass diese zu einem Punkt navigieren. So wird deutlich, dass es sich bei der Fortbewegung nicht um ein flüssiges Laufen im VE, sondern um ein schrittweises Weiterkommen zu einem ausgewählten Punkt handelt. Im Sinne dieser Heuristik wird die Anzeige dieser eingeschränkten Navigation allerdings in der gesamten Anwendung konsistent umgesetzt. Beim Museum Schnütgen ist die Fortbewegung vergleichbar eingeschränkt, da sich die Nutzer*innen hier nur zu bestimmten, eindeutig gekennzeichneten Punkten bewegen können. Hierbei handelt es sich um grüne Punkte, die mit einem weißen Kreis umrandet sind. Befindet sich der Cursor auf einem der Punkte, so wird den Nutzer*innen in einer Vorschau gezeigt, welchen Blickpunkt sie einnehmen, wenn sie den Punkt anklicken. Wurde ein Punkt bereits angeklickt, verändert sich die Farbe von grün zu grau. So wird den Nutzer*innen signalisiert, dass sie sich an diesem Punkt bereits umgesehen haben. Auch in diesem Beispiel wird die farbkodierte Information konsistent innerhalb der gesamten Anwendung umgesetzt.

[47] Zusammenfassung: Besonders in Anwendungen, in denen die Bewegung im virtuellen Raum nicht so frei wie in der realen Welt gegeben ist, ist es wichtig, den Nutzer*innen eindeutig und konsistent zu signalisieren, an welche Punkte sie sich bewegen können. Dies kann etwa durch eine Darstellung des Cursors als Pfeil und durch die Unschärfe des Bildes, während die Nutzer*innen an einen bestimmten Punkt ›reisen‹, gewährleistet werden.

3.10 Unterstützung beim Lernen (Support for learning)

[48]Diese Heuristik fordert, dass die Nutzer*innen beim Erlernen der Funktionen des VE durch entsprechende Erklärungen und Hilfestellungen unterstützt werden. In der Zeitkapsel-Anwendung wird dies umgesetzt, indem die Interaktionsmöglichkeiten innerhalb des VE unterschiedlich gekennzeichnet werden. Unterschieden wird dabei zwischen erklärenden Audiosequenzen, die in das Storytelling der Anwendung eingebunden sind, dem Heranzoomen an Objekte wie dem Fernseher, Bücherregal oder Radio und anderen Interaktionsmöglichkeiten wie beispielsweise der Entstehung eines Gespräches zwischen zwei Personen oder dem Klingeln des Telefons. Für alle Elemente gibt es Symbole, welche die Möglichkeiten der Interaktion andeuten und gleichzeitig als Buttons fungieren. Die Buttons verändern beim Näherkommen des Cursors ihre Größe und werden so deutlicher erkennbar. Entsprechend werden die Nutzer*innen subtil auf die Interaktionsmöglichkeiten hingewiesen. Zusätzlich ist über das Menü, das über einen Button in der rechten oberen Ecke geöffnet wird, eine Hilfeseite zugänglich, welche die Funktionen des VE kurz erörtert.

[49]Beim Starten der Berlin-Anwendung öffnet sich ein kurzes Tutorial, das die Hauptfunktionen der Anwendung erklärt. Erst, wenn die Nutzer*innen auf ›Weiter‹ klicken, gelangen sie in die eigentliche Anwendung (vgl. Abbildung 3). So werden die Nutzer*innen bereits vor der Nutzung mit der Anwendung vertraut gemacht. Auch in diesem Beispiel signalisieren unauffällige, aber pulsierende Punkte, dass weitere Informationen oder Interaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Ein kurzes Tutorial zu den Bedienelementen der Anwendung beim Start bietet auch Walter’s Cube. Dieses Tutorial kann mit einem Klick auf ein Fragezeichen-Symbol am rechten unteren Bildschirmrand stets wieder aufgerufen werden.


                           Abb. 3: Einstiegstutorial des
                           Projekts Nach Berlin. In: Nach
                           Berlin. 75 Jahre Kriegsende. [Kulturprojekte Berlin (Hg.)
                              2020]
Abb. 3: Einstiegstutorial des Projekts Nach Berlin. In: Nach Berlin. 75 Jahre Kriegsende. [Kulturprojekte Berlin (Hg.) 2020]

[50] Zusammenfassung: Eine Hilfeseite, die den Nutzer*innen die Bedienung und Hauptfunktionen der Anwendung verständlich und kurz erläutert, ist obligatorisch für VEs der Domäne Museum, da so auch die Zugänglichkeit erleichtert wird. Diese Hilfestellung sollte schnell zu finden sein, beispielsweise über das Menü oder über einen Button, der direkt zur Hilfeseite führt. Mithilfe unterschiedlich gestalteter Buttons kann signalisiert werden, dass unterschiedliche Interaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Durch ein unauffälliges Design stören sie die Nutzer*innen nicht in der Exploration des VE, machen aber durch ihre Dynamik, beispielsweise der Veränderung ihrer Größe, auf sich aufmerksam. Weiterhin wird den Nutzer*innen auf diese Weise verdeutlicht, dass nur bestimmte Objekte die Möglichkeit einer Interaktion bieten.

3.11 Eindeutiges turn-taking (Clear turn-taking)

[51]Laut Sutcliffe und Gault ist diese Heuristik nur für kollaborative VEs relevant,[56] also VEs, in denen sich mehrere Nutzer*innen gleichzeitig befinden und miteinander interagieren. Da eine solche Mehrbenutzer*innen-Funktion in keinem der ausgewählten Projekte implementiert ist, wird Heuristik 11 aus der vorliegenden Evaluation ausgeschlossen.

[52] Zusammenfassung: Diese Heuristik betrifft ausschließlich kollaborative VEs und ist damit für diese Studie nicht relevant.

3.12 Gefühl von Präsenz (Sense of presence)

[53]Diese Heuristik fordert, dass die Wahrnehmung des Aufenthalts im VE und das damit verbundene Gefühl von Präsenz so natürlich und nah wie möglich an der realen Welt sein sollte. Ob oder inwieweit dieser Anspruch auf die Domäne zutrifft, wurde bereits unter Abschnitt 3.1  Natural engagement diskutiert. Jedoch lässt sich im Projekt Zeitkapsel ein Element ausmachen, welches die Wahrnehmung der Natürlichkeit verstärkt: die Interaktion mit Personen. In die genannte Anwendung ist ein interaktives Storytelling eingebunden, wobei reale Personen mit den Nutzer*innen interagieren und auf deren Aktionen reagieren. Bereits beim Einstieg in das VE interagieren die Nutzer*innen mit einem ›Dealer‹, der Zeitkapseln verkauft, die virtuelle Zeitreisen ermöglichen sollen (vgl. Abschnitt 3.8  Clear entry and exit points). Der ›Dealer‹ bewegt sich zum Standpunkt der Nutzer*innen und spricht diese direkt an. Im Storytelling wird suggeriert, dass die Nutzer*innen innerhalb der Szenarien nicht von den sich darin befindenden Personen gesehen werden können. Trotzdem schaut beispielsweise beim Einstieg in das Szenario 1968 – Schöner Wohnen das Ehepaar, das sich in ihrem Wohnzimmer im Jahr 1968 befindet, in Richtung der Nutzer*innen und scheint deren Präsenz zu bemerken. Spielerisch werden die Nutzer*innen dazu aufgefordert, Zeitfehler in den Szenarien zu entdecken. Zum Beispiel steht in eben diesem Szenario das Buch Fifty Shades of Grey aus dem Jahr 2011 im Bücherregal des Ehepaares. Entdecken die Nutzer*innen diesen Zeitfehler, erscheint der ›Dealer‹ als Hologramm, entschuldigt sich bei den Nutzer*innen für den Fehler und tauscht das Buch durch ein anderes aus.

[54] Zusammenfassung: Vor allem interaktive Elemente steigern das Gefühl der Immersion bei den Nutzer*innen. Sie dienen weiterhin der Unterhaltung und sollen die Nutzer*innen aktivieren und dazu motivieren, das VE weiter zu explorieren.

4. Diskussion

[55]Bei der Beschäftigung mit den Heuristiken stellte sich heraus, dass die Interpretation und damit zusammenhängend die Abgrenzung einiger Heuristiken Probleme für die Bearbeitung darstellen. Davon betroffen sind vor allem jene Heuristiken, die sich weitestgehend auf die Natürlichkeit der Anwendung und die Nähe zur realen Welt beziehen (Heuristiken 16 und 12). Bei diesen Heuristiken sind die Unterschiede graduell und beziehen sich auf das, was Gegenstand der Natürlichkeit ist, also beispielsweise das Verhalten von Objekten, die Wahrnehmung des Selbst oder die Durchführung von Aufgaben. Diese Schwierigkeit wurde von den Autoren in der Evaluation ihrer Heuristiken bereits erkannt und thematisiert: Hier gaben viele der Begutachter*innen an, Probleme bei der Interpretation der Heuristiken zu haben.[57] Die Problematik konnte jedoch als Interpretationsspielraum verstanden und genutzt werden, um die Heuristiken der Domäne entsprechend auszulegen. Dennoch stellt sich die Frage, welcher Anspruch an Natürlichkeit und Nähe zur realen Welt an Desktop-VR-Anwendungen im musealen Bereich gestellt werden sollte. Anstatt eine reale Museumserfahrung zu imitieren, können die Potenziale dieser Präsentationsform genutzt werden, um Exponate anders auszustellen, zu vermitteln und die Nutzer*innen über Themenkomplexe zu informieren. Dabei werden an vielen Stellen Kompromisse mit der Natürlichkeit der Anwendung eingegangen.

[56]Nicht alle Heuristiken haben sich als geeignet für die Ausarbeitung von Best Practices erwiesen. Heuristik 4 (Close coordination of action and representation) wurde in der Bearbeitung nicht berücksichtigt, da sie weniger mit der Gestaltung als der Implementierung einer Desktop-VR-Anwendung in Zusammenhang steht. Auch Heuristik 11  (Clear turn-taking) wurde für die Generierung von Best Practices als nicht relevant eingestuft, da sie sich lediglich für kollaborative VEs eignet. Im Gegensatz dazu erwiesen sich die anderen Heuristiken als äußerst produktiv und gut anwendbar. Aus ihnen konnten Best Practices für die Gestaltung von virtuellen Museumsräumen abgeleitet werden, die nachfolgend nochmals zusammengefasst werden.

4.1 Zusammenfassung von Best Practices auf Basis der Heuristiken

[57]Nachfolgend findet sich eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse aus der Evaluation ausgewählter VEs in Form von verallgemeinerbaren Best Practices:

  • Freie Bewegung unterstützen: Durch eine freie Bewegung im Raum und handgesteuerte Navigation können Nutzer*innen das VE erforschen und sich Exponate aus unterschiedlichen Blickwinkeln anschauen, wobei die Kollision mit Objekten oder Wänden vermieden werden sollte. Kommen in VEs unrealistische Navigationselemente zum Einsatz – sei es durch Einschränkungen oder erweiterte Möglichkeiten – muss dies eindeutig gekennzeichnet und vor allem konsistent umgesetzt werden. Außerdem sollen den Nutzer*innen zum Betreten oder Verlassen des VE eindeutige Ein- und Ausstiegspunkte an mehreren Stellen zur Verfügung stehen.
  • Navigationshilfen anbieten: Bei der Orientierung sollten grundsätzlich Navigationshilfen wie Karten die Nutzer*innen unterstützen. Auch auditives Feedback kann hier eine Hilfestellung sein, da Geräusche einen bestimmten Ort (beispielsweise den Standort eines Radios) bzw. die Distanz zu diesem signalisieren können.
  • Interaktion unterstützen und kenntlich machen: Detailansichten mit hochauflösenden Fotografien der Exponate sowie die Möglichkeit des Heranzoomens an Objekte erleichtern deren genaue Betrachtung. Stehen den Nutzer*innen Interaktionsmöglichkeiten mit Objekten oder virtuellen Personen zur Verfügung, sollte dies stets deutlich gemacht werden. Dies kann beispielsweise durch Buttons angezeigt werden, wobei unterschiedliche Buttons auf verschiedene Arten der Interaktion hinweisen können. Eine Hilfeseite oder ein Tutorial sollten die wichtigsten Funktionen und Bedienelemente in verständlicher und leicht zugänglicher Form präsentieren.

[58]Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aus vielen der generischen Heuristiken für VEs auch Best Practices auf den Museumsbereich übertragen werden konnten. Gleichzeitig fiel bei der heuristischen Evaluation der sechs ausgewählten Projekte auf, dass die bestehenden Heuristiken nicht alle Aspekte, die für den musealen Bereich relevant sind, vollständig abdecken. Nachfolgend ergänzen wir deshalb zwei weitere Heuristiken, die induktiv aus der Evaluation der Projektbeispiele abgeleitet wurden. Diese ergänzenden Heuristiken decken im Wesentlichen die Aspekte Multimedialität und Interaktivität ab und sollen nachfolgend näher erläutert werden.

4.2 Zusätzliche Heuristik: Multimediale Vermittlungselemente

[59]Im Rahmen der Betrachtung von Heuristik 2 (Compatibility with the user’s task and domain) wurden einige multimediale Elemente innerhalb der Projekte bereits beschrieben. Allerdings beschränkten sich die Beispiele, die als Best Practices angeführt wurden, auf multimediale Bestandteile der Projekte, welche Elemente einer realen Ausstellung imitieren. In den Projekten finden sich jedoch beispielsweise Audiosequenzen oder Videos, die in anderer Weise, wie es im realen Museum so nicht möglich wäre, präsentiert werden. Deggim et al. sehen die »große Stärke [von virtuellen Museen] in der ergänzenden Präsentation […], die mit klassischen Ausstellungsmethoden nicht möglich [ist]«.[58] Ansätze dazu finden sich auch in den betrachteten Projekten. In der WDR-Zeitkapsel haben die Nutzer*innen im Szenario 1968 – Schöner Wohnen die Möglichkeit, ein Bücherregal im Wohnzimmer, in dem sie sich befinden, genauer zu untersuchen. Fahren sie mit der Maus über das Regal, werden ausgewählte Bücher ein Stück weit aus dem Regal hinausgezogen und ein kurzer Auszug aus dem Buch vorgelesen. Bei den Büchern handelt es sich um Werke, die um die entsprechende Zeit veröffentlicht wurden, beispielsweise das Buch Deutschstunde von Siegfried Lenz aus dem Jahr 1968 (vgl. Abbildung 4).


                           Abb. 4: Beispiel für
                           Multimedialität in der WDR-Zeitkapsel. In: Zeitkapsel. [WDR (Hg.) 2018]
Abb. 4: Beispiel für Multimedialität in der WDR-Zeitkapsel. In: Zeitkapsel. [WDR (Hg.) 2018]

[60]In der Kunsthalle in der Ausstellung Felix Nussbaum – Leben und Werke entpuppt sich ein Bild, das sich im ersten Raum an der Wand befindet, als kurzer Dokumentarfilm. Mit einem Klick auf das Bild wird das Video automatisch an der virtuellen Ausstellungswand abgespielt. Zwar steht dies im Kontrast zur oben genannten Heuristik, da laut dieser das Verhalten von virtuellen Objekten so nah wie möglich an Objekte der realen Welt angelehnt sein soll, jedoch werden so die Vorteile von virtuellen Museen gegenüber realen Ausstellungen ausgenutzt. Im gleichen Projekt in der Ausstellung BEETHOVEN – Welt.Bürger.Musik können Nutzer*innen an Hörstationen auditive Eindrücke von Beethovens Kompositionen erhalten. Dies unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von Hörstationen im realen Museum. Im VE können die Nutzer*innen die Musik aber weiter hören, während sie sich in der kompletten Ausstellung umsehen, die Hörerfahrung ist also nicht an einen bestimmten Punkt in der Ausstellung gekoppelt bzw. darauf beschränkt. Durch ein Fenster, welches sich mit dem Anklicken einer Hörstation öffnet, können die Nutzer*innen die Musik jederzeit pausieren, vor- oder zurückspulen und beenden.

[61]Die Beispiele veranschaulichen unterschiedliche multimediale Präsentationsformen, die die Potenziale des Online-Mediums nutzen und sich so von Ausstellungsformen realer Museen absetzen. Daraus ergibt sich folgende Beschreibung für die neu entwickelte Heuristik Einbindung multimedialer Vermittlungselemente :

  • Im Virtual Environment sollen multimediale Elemente so eingebunden werden, dass sie helfen, den Nutzer*innen Inhalte zu vermitteln. Dabei kann die Nähe des Verhaltens von Objekten zur Realität dann umgangen werden, wenn das Vermittlungsangebot und der Zugang zu diesem profitieren.

[62]Diese Heuristik ist nicht auf die genannten Beispiele beschränkt; vielmehr sind die Gestalter*innen virtueller Museumsräume und vergleichbarer VEs dazu aufgerufen, die Potenziale des Mediums auszuschöpfen und neue Formen der Präsentation in Desktop-VR-Anwendungen zu entwickeln.

4.3 Zusätzliche Heuristik: Interaktive Wissensvermittlung

[63]Interaktive Medienstationen sind längst Teil moderner Ausstellungskonzeption. Durch Spiele oder digitales Storytelling unterstützen sie bei der Vermittlung von Ausstellungsinhalten und aktivieren die Besucher*innen. Durch ihre Attraktivität müssen Besucher*innen allerdings häufig warten, bis sie eine Medienstation nutzen können.[59] Mit diesem Problem sind Nutzer*innen virtueller Museen nicht konfrontiert. Auch erfordert die Einbindung interaktiver Medien keine Station, stattdessen können sie direkt mit Exponaten gekoppelt und beispielsweise beim Klick auf ein Exponat geöffnet werden.

[64]Die Ausstellung Berechenbar – Unberechenbar der Kunsthalle-Anwendung zeigt eine künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Berechenbarkeit und Computern. Bei einem der Kunstwerke handelt es sich um den ›CellularAutomataExplorer‹ – eine Simulation, die nach einfachen Regeln die Populationsentwicklung von Lebewesen nachahmt. Nutzer*innen haben hier die Möglichkeit, in dem Raster des Automaten festzulegen, welche Zellen lebendig sind, woraufhin der Automat generationsweise nach den festgelegten Regeln ermittelt, welche Zellen überleben, neu geboren werden oder sterben. Die Nutzer*innen verfolgen den Algorithmus dann sowohl visuell als auch auditiv. Ein weiteres Kunstwerk, Hypercam , setzt sich künstlerisch mit der Praxis der Videokonferenzen auseinander und will auf die Künstlichkeit von derartigen digitalen Treffen aufmerksam machen. Mithilfe von Hypercam können Nutzer*innen ihre Videobilder verzerren und mit Schiebereglern in verschiedenen Dimensionen manipulieren. So werden sie interaktiv direkt in das Kunstwerk eingebunden und können es selbst explorieren.

[65]Bei der Entwicklung eines virtuellen Museums für ein historisches Gebäude legten Deggim et al. den Fokus auf eine interaktive Visualisierung der Baugeschichte des Alt-Segeberger Bürgerhauses.[60] Diese Visualisierung ist für die Nutzer*innen des virtuellen Museums als ein Modell im 3D-modellierten Modell des Bürgerhauses zugänglich. Für die Betrachtung stehen sieben unterschiedliche Bauphasen zur Verfügung, wobei die Nutzer*innen im Menü auswählen, welche Bauphase sie betrachten möchten. Um die Veränderungen zwischen Bauphasen besser nachzuvollziehen, wird der Übergang von einer Bauphase in eine andere durch eine Animation dargestellt. Zusätzlich können das Dach des Modells entfernt und die einzelnen Räume angeklickt werden, um mehr über die Nutzung der Räume zu erfahren. Die Autoren betonen, dass die Einbindung des Bürgerhaus-Modells in den virtuellen Rundgang ein Beispiel für ein Vermittlungsmedium ist, das in dieser Form nur in einem virtuellen Museum eingebunden werden kann und so die Vorteile des Mediums illustriert.

[66]Auch die Interaktion mit Personen, wie sie bereits unter der Heuristik 12 Sense of presence dargestellt wurde, ist für diese Heuristik relevant. Ein wie im Projekt Kunsthalle umgesetztes digitales Storytelling kann unterhaltende und den Lernprozess fördernde Elemente kombinieren und greift so das Konzept des »Edutainment« auf.[61] Das Konzept bezeichnet die Verschmelzung von lehrenden und unterhaltenden Aspekten und ist besonders im musealen Kontext relevant, da ein Museum einerseits eine Lernumgebung ist, die andererseits (normalerweise) freiwillig besucht wird und entsprechend auch unterhaltend sein soll. Eine Anwendung dieses Konzeptes, beispielsweise in Form von digitalem Storytelling oder der Einbindung von (Lern-)Spielen und Simulatoren, kann helfen, dass Nutzer*innen aktiviert werden, dass sie sich besser an Inhalte erinnern und sich diese stärker einprägen und dass sie überhaupt ein ausgeprägteres Interesse für Exponate oder Themenkomplexe aufbauen.

[67]Virtuelle Museen haben das Potenzial, solche interaktiven Medien direkt an Exponate und Kunstwerke zu koppeln oder Nutzer*innen sogar in diese einzubinden. Die Beschreibung für die Heuristik Interaktive Wissensvermittlung lautet zusammengefasst wie folgt:

  • Die Einbindung interaktiver Wissensvermittlung in das Virtual Environment hilft, um Nutzer*innen zu aktivieren und bei der Erfassung von Inhalten zu unterstützen.

5. Fazit

[68]Die vorliegende Studie untersucht die Anwendbarkeit von bestehenden Heuristiken zur Gestaltung von VEs auf die Domäne virtueller Museumsräume. Dabei wurden die Heuristiken im Rahmen einer heuristischen Evaluation auf sechs beispielhafte Projekte angewandt. So sollten einerseits die Eignung der Heuristiken für den Bereich virtueller Museen überprüft und andererseits – die Heuristiken als Schablone nutzend – konkrete Umsetzungen innerhalb der Projektbeispiele als Best Practices extrahiert werden. Von den ursprünglichen zwölf Heuristiken von Sutcliffe und Gault sind letztlich nur zehn für den Bereich virtueller Museumsräume geeignet. Zusätzlich wurden zwei weitere, domänen-spezifische Heuristiken aus den Projektbeispielen abgeleitet. Im Ergebnis entstand so eine Sammlung von Heuristiken, die es künftigen Gestalter*innen im GLAM-Bereich ermöglichen sollen, virtuelle Museumsanwendungen mit einem hohen Maß an Usability und einer guten User Experience zu konzipieren. Die aus den Projektbeispielen abgeleiteten Best Practices geben dabei weitere Hinweise zur konkreten Umsetzung der teilweise abstrakten Heuristiken.

[69]Wenngleich wir davon überzeugt sind, dass die vorliegende Diskussion und Erweiterung von Heuristiken sowie die abgeleiteten Best Practices hilfreich für das Design künftiger Museumsanwendungen sein werden, so gibt es gleichzeitig einige Limitationen dieser Studie, die nachfolgend diskutiert werden. Eine wesentliche Einschränkung stellt die Auswahl von insgesamt sechs Projekten, stellvertretend für den gesamten Bereich musealer VR-Anwendungen, dar. Zwar wurden die Projekte nach unterschiedlichen Diversifikationskriterien so ausgewählt, dass eine möglichst repräsentative Auswahl entstanden ist, ein Anspruch auf vollständige Abbildung aller Gestaltungsphänomene in diesem Bereich kann auf dieser Basis allerdings nicht erhoben werden. Eine Auswahl nach beispielsweise inhaltlichen Kategorien oder den Zielgruppen der Anwendungen könnte die Vergleichbarkeit der Projekte bei zukünftigen Untersuchungen erhöhen. Da vier der sechs Projekte aus dem deutschsprachigen Raum kommen, und mit Walter’s Cube und Google Arts and Culture nur zwei internationale Projekte untersucht wurden, ist der Aspekt interkultureller Designimplikationen in dieser Studie nicht weiter berücksichtigt.[62] Eine weitere Einschränkung der Studie liegt zudem sicherlich in der Fokussierung auf frei zugängliche Desktop-VR-Anwendungen, die – trotz zunehmender Verbreitung von VR-Technologie im Consumer-Bereich – in den nächsten Jahren trotz alledem weiterhin der Standard-Anwendungsfall bleiben dürften.

[70]Die Relevanz von barrierefreien Zugängen virtueller Ausstellungen wurde im Rahmen dieser Studie zwar erwähnt, in der heuristischen Evaluation fand dieser Aspekt aber wenig Beachtung. Eine Evaluation und Überarbeitung der Heuristiken bezüglich des Einbezugs von Barrierefreiheit und eine sich daran anschließende heuristische Evaluation der Projekte nach den neu gewonnenen Erkenntnissen sind unabdingbar, um die Liste an Best Practices zu vervollständigen.

[71]Insgesamt wirft die Beschäftigung mit virtuellen Museumsräumen auch die Frage auf, welche alternativen Präsentationsformen von Kunst- und Kulturobjekten das Medium Internet bietet. Viele Gedächtnisinstitutionen in Deutschland und auf der ganzen Welt befinden sich längst im Prozess der Digitalisierung ihrer Sammlungen und Exponate und vereinigen sich in Projekten wie der Deutschen Digitalen Bibliothek und Europeana ,[63] um ihre Digitalisate online frei zur Verfügung zu stellen. Neben der Möglichkeit, die Digitalisate und Informationen für Forschungsvorhaben zu nutzen, können so auch institutionsübergreifende Online-Ausstellungen kuratiert werden, die Sammlungen und Objekte unterschiedlichster Museen und anderer Gedächtnisinstitutionen aus ganz Europa zeigen. Die in diesem Beitrag diskutierten Heuristiken und die daraus abgeleiteten Best Practices für die Gestaltung virtueller Ausstellungen wurden eingangs in Hinblick auf ein möglichst hohes Maß an Akzeptanz bei den Besucher*innen motiviert. Jenseits bloßer Akzeptanz im Sinne hoher Besuchszahlen haben Design-Guidelines für virtuelle Museumsräume darüber hinaus die wichtige Funktion der Unterstützung der Wissensvermittlung für breite Teile der nicht-akademischen Welt, wie sie etwa im Bereich der Public History gefordert wird.[64] Sieht man sich die Ursprünge der Public History-Bewegung näher an, wird ein weiterer Aspekt deutlich, der das große Potenzial benutzerfreundlicher, virtueller Ausstellungen verdeutlicht. So beschreibt Conard in ihrer Herleitung der intellektuellen Wurzeln der Public History etwa Benjamin Shambaughs Ansatz der Applied History, also eine konkrete Anwendung von Geschichte.[65] Dabei ging es Shambaugh vordergründig um die praktische Anwendung von Geschichtswissen, um aktuelle politische, soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen. Virtuelle Museumsräume bieten hier offenkundig vielfältige Möglichkeiten, um Kultur und Geschichte in simulierten Umgebungen direkt erfahr- und anwendbar zu machen und liefern damit einen wichtigen Grundstein für ein praktisches Geschichtsverständnis, dass sich hoffentlich auch auf aktuelle politische und soziokulturelle Herausforderungen anwenden lässt.


Fußnoten


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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

  • Tab. 2: Übersicht über die zu untersuchenden Projekte. [Piontkowitz / Burghardt 2021]
  • Abb. 1: Detailansicht eines Kunstwerks mit zugehörigem Informationstext im Projekt Kunsthalle. In: Digitale Kunsthalle. [ZDF (Hg.) 2016]