Selbstzeugnisse digital – Erschließung, Präsentation und Benutzbarkeit

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Inga Hanna Ralle Autoreninformationen

DOI: 10.17175/sb002_005

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 1007185619

Erstveröffentlichung: 15.03.2018

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autoren

Letzte Überprüfung aller Verweise: 07.03.2018

GND-Verschlagwortung: Ego-Dokument | Edition | Informationsvermittlung |

Empfohlene Zitierweise: Inga Hanna Ralle: Selbstzeugnisse digital – Erschließung, Präsentation und Benutzbarkeit. In: Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft. Hg. von Roland S. Kamzelak / Timo Steyer. 2018 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 2). text/html Format. DOI: 10.17175/sb002_005


Abstract

Neben dem primären Ziel der Erschließung und systematischen Verzeichnung der Selbstzeugnisse des Handschriftenbestandes der Herzog August Bibliothek (HAB) ist es im Projekt ›Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit in der HAB‹[1] ebenfalls von großer Bedeutung, die Optionen für das digitale Produzieren, Publizieren und Rezipieren von Texten und Forschungsergebnissen auszuloten. Im Vergleich zum Druck und anhand der Textgruppe ›Selbstzeugnis‹ sollen dabei Chancen sowie Vor- und Nachteile der wissenschaftlichen Informationsvermittlung und Kommunikation untersucht werden. Selbstzeugnisse werden im Projekt verstanden als autobiografische Schriften, z. B. Tagebücher, Reiseberichte oder Autobiografien, wobei der Begriff gezielt offen gehalten und diskutiert wird. Die Projektteile sind erstens ein Selbstzeugnis-Repertorium auf Basis autoptischer Analyse der Handschriften, zweitens die digitale Musteredition des Tagebuches von Herzog August dem Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel sowie drittens die Präsentation der Projektergebnisse in einem Forschungsportal. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, welcher auf der Tagung "Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft" gehalten wurde.


Next to the primary goal of encoding and the systematic markup of the autobiographical documents in the manuscript collection of the Herzog August Library (HAB), it is of central importance for the project Selbstzeugnisse‹ der Frühen Neuzeit in der HAB (›Autobiographical writings of the early modern age in the Herzog August Library‹) to evaluate the options for producing and compiling texts and research results. In comparison with print-based methods, and using the group of autobiographical texts, the opportunities, advantages, and disadvantages of the scholarly distribution of information and communication should be explored. The Selbstzeugnisse in this project are defined as autobiographical writings, such as diaries, travel journals, or autobiographies, although the term is intentionally left open and is under discussion. The project results will be a finding aid to the Selbstzeugnisse using autoptic analysis of the manuscripts, a digital critical edition of the diary of Duke August the Younger of Braunschweig-Wolfenbuettel, and the presentation of the project results in a research portal.



1. Einleitung

Textgattungen und -sorten haben im Druck ihren je individuellen Ausdruck in Format, Form und Material gefunden. Material und Typografie verweisen idealerweise direkt auf den Inhalt und gehören damit der Semantik des Textes an. Um über dieses Plus an Informationen auch im Digitalen zu verfügen, ist die Auseinandersetzung mit der Form der Veröffentlichung bzw. der für den Menschen lesbaren Form von Forschungsergebnissen und Texten im Digitalen notwendig. Werden Editionen beispielsweise zukünftig als reine Datenmodelle gedacht und veröffentlicht, geht m. E. ein großer Teil der tradierten Funktion der Textsorte Edition verloren. Bisher können diese den Text und dessen Daten in einem sinnvollen Kontext präsentieren, so dass Menschen dies möglichst effektiv und einfach verstehen und bearbeiten können. Die Konzentration der Forschenden auf Daten und Maschinenlesbarkeit wird in diesem Beitrag kritisch hinterfragt. Dennoch werden auch die Identifizierung von Mehrwerten durch die Digitalisierung von Forschungsergebnissen sowie ein Vergleich von Aufwand und Nutzen in den Blick genommen.

Forschende und Institutionen, wie beispielsweise Akademien, Bibliotheken und Archive, sehen sich mit einem Wandel technischer Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Arbeitsumgebung konfrontiert. Die Digitalisierung von Kulturgut einerseits und der Forschung andererseits verändern ihre Tätigkeiten grundlegend. Die Digital Humanities tragen maßgeblich zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen bei. Auswirkungen auf Fragestellungen, Erkenntniswege und Aufgaben in den Geisteswissenschaften und somit auch in der Editionswissenschaft sind die Folge. Für wissenschaftliche Editionen und digital publizierte Forschungsergebnisse werden vor allem die Einführung neuer Werkzeuge und Methoden ausprobiert und angestrebt. Sehr hohe Erwartungen werden an die Emanzipation der digitalen von der gedruckten Edition sowie an die daraus resultierenden computergestützten Analysen und Datensammlungen gestellt.

2. Selbstzeugnisse

In der Forschungsliteratur werden Selbstzeugnisse über Jahrzehnte hinweg bis heute im Spannungsfeld von historischer Quelle und literarischer Gattung, von Fiktion und Fakt sowie von Objektivität und Subjektivität untersucht. Grundsätzlich leiten Fragen nach der Individualisierung als Riss in der Geschichte und als Entstehung der Moderne, nach der Subjektivität, nach Erinnerung und Wahrnehmung der Schreibenden sowie nach der Repräsentation des Ichs und des Zeitgeschehens die wissenschaftliche Debatte. Dabei spiegeln Aspekte wie Religiosität und Tod, Krankheits- und Körperwahrnehmung, Kindheit und Familie sowie Beziehungs- und Geschlechterrollen die thematische Bandbreite wider. Die neuere Forschung konzentriert sich nicht mehr allein auf die einzelne Person und deren Wahrnehmung, sondern wendet sich gerade dem sozialen Gefüge als relevantem Untersuchungsgegenstand zu. Auf einer interkulturellen Ebene werden auch die Formen und Bedingungen autobiografischen Schreibens in verschiedenen Ländern und Epochen untersucht. Eine weitere Entwicklung ist, dass sich die Forschung auf Kulturpraktiken bezieht und Lese- bzw. Schreibpraktiken und den Text selbst in den Vordergrund rückt.

Der Quellenwert von Selbstzeugnissen wird in der Forschungsliteratur different bewertet. So galten sie zeitweise als nicht vertrauenswürdige, weil subjektiv gebrochene Texte, andererseits wurde ihnen der beste Einblick in das alltägliche Leben und die persönlichsten Gedanken des Individuums angerechnet. Die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Wahrnehmungen historischer Akteure brachte ein Interesse für diese subjektbezogenen Quellen hervor und heute werden sie sehr differenziert betrachtet, sodass ihr Quellenwert für viele Disziplinen als hoch eingestuft wird.

Selbstzeugnisse haben charakteristische Merkmale, die im Bezug auf die Digitalisierung interessant sind, diese werden weiter unten ausgeführt. Eine Definition von Selbstzeugnis ist: »Um ein Selbstzeugnis handelt es sich also dann, wenn die Selbstthematisierung durch ein explizites Selbst geschieht. Mit anderen Worten: die Person des Verfassers bzw. der Verfasserin tritt in ihrem Text selbst handelnd oder leidend in Erscheinung oder nimmt darin explizit auf sich selbst Bezug.«[2] Eine andere Definition lautet: »Unter Selbstzeugnissen verstehen wir alle Texte, in denen eine Person über sich, ihr familiäres Umfeld oder ihre Gemeinschaft Auskunft gibt, im Kern Autobiografien und Lebenserinnerungen, Tagebücher aller Art, Reiseberichte, kommentierte Wirtschaftsnotizbücher, Chroniken, Haus- und Familienbücher.«[3] Die Egodokumente hingegen umfassen eine weiter gefasste Textgruppe, nämlich auch unfreiwillig entstandene Schriften: »[...] sollen darunter alle jene Quellen verstanden werden, in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig […] oder durch andere Umstände bedingt geschieht.«[4] Für diesen Beitrag wird die Definition von Kaspar von Greyerz zu Grunde gelegt.

3. Erschließung – Repertorium

Die Forschung bemängelt nachdrücklich die schlechte Auffindbarkeit der Textgruppe ›Selbstzeugnis‹. So formulierte Roswitha Jacobsen in ihrer Einleitung zum ersten Band der Tagebücher von Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg: »Zu fürstlichen Selbstzeugnissen, darunter Tagebüchern, fehlt es noch nahezu an jeglicher Grundlagenforschung. Es gibt kein Repertorium des in den verschiedenen Archiven überhaupt Vorhandenen, es mangelt an Einzelstudien ebenso wie an theoretisch-systematischen Versuchen, das Material zu klassifizieren.«[5] Für Selbstzeugnisse der Reiseforschung erläutern Joachim Rees und Winfried Siebers: »Der Großteil dieses Quellenmaterials ist bisher gar nicht erschlossen und nur unzureichend für die historische Reiseforschung genutzt worden.«[6] Harald Tersch betont das Verzeichnis von Selbstzeugnissen des Dreißigjährigen Krieges von Benigna von Krusenstjern[7] als Pionierarbeit für den deutschsprachigen Raum.[8]

Weiterhin werden die Heterogenität der unter dem Begriff Selbstzeugnis diskutierten Texte, die Abgrenzung zu Egodokumenten und die fehlende allgemeingültige Definition als problematisch beschrieben. Zumindest eine verbesserte Auffindbarkeit und Sichtbarkeit verspricht an dieser Stelle das digitale Medium mit online zugänglichen Kataloge und Verzeichnissen sowie digitalen Editionen, wobei die Frage nach geeigneten Präsentations- oder Veröffentlichungsformen noch zu beantworten ist.

Die für diese Untersuchung verwendeten handschriftlichen Selbstzeugnisse[9] der HAB sind derzeit folgendermaßen recherchierbar: Es gibt die online zugängliche Handschriftendatenbank, in der viele, allerdings nicht alle Handschriften verzeichnet und digitalisiert vorliegen.[10] Grundlage jeder Recherche sind daher weiterhin die gedruckten Kataloge, die zwar teilweise online, jedoch nicht durchsuchbar vorliegen. Die Kataloge sind nicht thematisch, sondern nach Signatur der Handschriften sortiert. Sie sind mit Registern ausgestattet, über die die Selbstzeugnisse gefunden werden können. Die Heterogenität der Texte und deren verschiedenen und synonymen Bezeichnungen machen die Suche nach dem richtigen Begriff und dem relevanten Text aufwendig. So etwa der synonyme Gebrauch von Autobiografie, Selbstbiografie und Lebenserinnerung oder von Familienbuch, Familienchronik und Hausbuch. Jedes Stichwort erfordert einen separaten Suchvorgang. Speziell bei den HAB-Katalogen kommt hinzu, dass Selbstbiografie und Lebenslauf nur unter dem Registereintrag des betreffenden Personennamens gefunden werden können, was die Suche weiter erschwert.

Zur Vereinfachung dieses Rechercheweges wird ein digitales Selbstzeugnis-Repertorium als textsortenübergreifendes Verzeichnis und Recherchesystem erstellt, welches die Selbstzeugnisse ordnet und beschreibt. Folgende Kategorien werden erfasst: Aufbewahrungsort, Signatur, Verfasser, Titel in Vorlageform, Sachtitel, Textart, Besitzgeschichte/Provenienz, Entstehungszeit, Berichtszeitraum, Einband, Beschreibstoff, Umfang, Maße des Buchblocks, Seitenzählung, Seitenaufbau, Illustrationen, Sprache, Beigaben/Besonderheiten, bibliografische Verweise, Entstehungsort und eine knappe Inhaltsangabe. Diese Informationen werden in projektspezifischen Richtlinien als Metadaten im W3C XML Schema der Text Encoding Initiative (TEI) in der jeweils gültigen Fassung, derzeit P5, ausgezeichnet. Die Personennummern der Gemeinsamen Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek und die Geokoordinaten des Getty Thesaurus of Geographic Names (TGN) werden verwendet, um standardisierte Daten für den Leser anzubieten. Die auf diese Weise inhaltlich mit selbstzeugnisspezifischen Kriterien erschlossenen Daten werden online als Linked Open Data (LOD) angeboten. Für die Forschenden erweisen sich als enormer Vorteil und somit als großer Nutzen der digitalen Form die Volltextsuche und die facettierte Suche.

Für das Repertorium konnte ein weiterer positiver Effekt identifiziert werden, der durch seine digitale Form erreicht wird: Das virtuelle Zusammenführen von Selbstzeugnissen einer Person oder von auf andere Weise verwandten Selbstzeugnissen, wie Abschrift und Vorlage, die in verschiedenen Institutionen vorliegen. Weiter denkbar ist ein Annotations- oder Autorentool, mit dem externe Forscher und Leser ihr Wissen und evtl. weitere Daten in das Repertorium einpflegen können.

4. Präsentation und Benutzbarkeit – Editionen

Kern und Startpunkt des Projektes und Gegenstand der digitalen Edition ist das gegenwärtig weder vollständig transkribiert noch ediert vorliegende Diarium von Herzog August dem Jüngeren zu Braunschweig-Lüneburg mit dem Originaltitel Ephemerides. Sive Diarium.[11] Es umfasst einen Zeitraum von knapp 41 Jahren (10.04.1594–16.04.1635). Der Text besteht aus 61 handschriftlichen Seiten auf Deutsch, teilweise auf Latein und Italienisch sowie wenige Zeilen in Geheimsprache. Dieses in der Forschung oft als Reisetagebuch bezeichnete Diarium enthält neben den Beschreibungen mehrerer größerer Reisen viele Lebensstationen des Herzogs vom Eintritt in die Universität Rostock bis zum Einzug in die Residenz Wolfenbüttel. Das Tagebuch gewährt außerdem Einblicke in Augusts Interessen und vor allem auch in seinen Beziehungs- und Wirkungskreis.

Für die Tagebuch-Edition gelten die folgenden Grundsätze zur Textwiedergabe und -darstellung: Die Transkription erfolgt am Original, dem codex unicus. Die textkritische Bearbeitung beschränkt sich daher auf Entstehungsvarianten und erfolgt im textkritischen Apparat. Eine Textgenese existiert in geringem Grad als insgesamt wenige Anmerkungen in der extra dafür vom Autor vorgesehenen Spalte und geringfügigen nachträglichen Bearbeitungen und Eingriffe von August selbst und einer fremden Hand. Verschreibungen und vermeintliche Fehler des Autors werden gemäß der Vorlage übernommen und bei entstehender Unverständlichkeit des Textes im textkritischen Apparat vermerkt. Es kommt bei der Textkonstitution nicht auf eine Reproduktion visueller, autografer, materieller und typografischer Merkmale des Textes an (topologisch exakte Transkription). Da mit dem edierten Text ein digitales Faksimile verknüpft ist, wird bei der Textkonstitution auf eine exakte Reproduktion oder grafisch abbildende Wiedergabe verzichtet. Das Manuskript wird im Hinblick auf Typografie, Layout, Beschaffenheit und Material exakt beschrieben. Der Einsicht, dass Material und Typografie Informationsträger sind, wird damit Rechnung getragen.

Das Konzept der Edition beinhaltet weiterhin, dass die vorgegebene diaristische Struktur, also die Einteilung in Jahres-, Monats- und Tagesabschnitte, aufgenommen wird. Ein Tageseintrag Augusts im Diarium wird daher als semantische Einheit behandelt. Die Jahre sind jeweils mit einer Kurzbeschreibung versehen und der Leser kann durch Mausklick direkt in den edierten Text des angewählten Jahres gelangen. Durch Pfeile und einen kleinen Zeitstrahl am oberen Rand des Textes kann durch Anklicken mit der Maus in den Text des vorangegangenen oder folgenden Jahres gewechselt werden. Damit wird ein zeitlicher und struktureller Zugriff auf den Text bereitgestellt. Als weitere Einstiegsstellen in den Text werden ein thematischer und ein örtlicher Zugriff für den Leser erstellt. Die längeren Reisen Augusts, die das Tagebuch in Abschnitte teilen, werden jeweils als Einheit gefasst und bilden so einen thematischen Zugriff auf das Tagebuch. Jede Reise wird mit einer Kurzbeschreibung versehen und kann so vom Leser gezielt angewählt werden. Der Zugriff auf die Orte wird über eine Karte realisiert, in der diese nach der Häufigkeit ihrer Nennung im Tagebuch unterschiedlich groß visualisiert werden. Als weitere Einstiegsstellen in den Text werden dem Leser erläuternde Personen-, Orts- und Sachregister angeboten. Die Personennamen werden außerdem auf der Startseite des Selbstzeugnisportals in einer Schlagwortwolke angezeigt, diese Art der Visualisierung von Daten hat sich in digitalen wissenschaftlichen Angeboten etabliert. Über das Anklicken der Namen gelangt man direkt in den Repertoriums- oder den Tagebucheintrag, in dem z. B. die Person vorkommt. Wortwolken haben eine hohe Akzeptanz und können die Usability verbessern und so einen leichten Einstieg in die gebotenen Inhalte leisten.

Aus der Projektarbeit entwickelte sich die These, dass die Form von Selbstzeugnissen in Kombination mit dem Digitalen einen besonders positiven Effekt herbeiführen kann. Diese Annahme wird durch die Beobachtung unterstützt, dass sehr häufig digitale Editionen von Tagebüchern und Briefen erstellt werden. Neben dem allgemein hohen Interesse an diesen Quellen konnte ein weiterer Grund hierfür identifiziert werden. Selbstzeugnisse besitzen im Vergleich häufig einen sich natürlich ergebenden Aufbau, der segmentierbar ist und gewissen strukturellen Regeln unterliegt. Briefen, Tagebüchern, Reisebeschreibungen, Verzeichnissen von Geburten und Sterbefällen, Lebensläufen, Berichten und Journalen liegt eine natürliche chronologische Struktur zugrunde. Auch sind diese Textsorten meist thematisch gegliedert oder topografisch geordnet. Selbstzeugnisse eignen sich durch ihre Segmentierbarkeit und die mögliche Verifizierung der Daten besonders gut für die Umsetzung als digitale Edition. Selektives Lesen und verschiedene Einstiegsstellen in den Text werden durch eine digitale Umsetzung hierbei besonders unterstützt. Der digitale Zugriff zeichnet sich gerade durch eine feine Granulierung und unterschiedliche Visualisierungsmöglichkeiten von Daten und Informationen aus. Dies erfolgt meistens über Wortwolken, Listen, facettierte Suchen und Filter.

Doch die Präsentation von Selbstzeugnissen durch Editionen ist aufwendig und fordernd. Beim Erstellen eines Editionskonzeptes gibt es neben inhaltlichen Entscheidungen Aspekte der Edition, wie z. B. Lesbarkeit, intuitive Bedienbarkeit und gute Benutzbarkeit, die für ihr Funktionieren relevant sind. Gedruckte Editionen basieren auf der Korrelation von Inhalt und Form sowie auf dem Bezug zum Menschen als Vermittler von Wissen oder als Rezipient von Texten. Als elementare Aufgaben der Edition gelten Beschreibung, Erschließung, Vermittlung, Erhaltung und Archivierung von historischen Dokumenten. In Vorworten und Einführungen von Editionen wird die Kernaufgabe expliziter oft mit der Formel ›die Erstellung eines zuverlässigen/authentischen Textes‹ für schriftliche Dokumente umschrieben. Spezialisten setzen ihr Fachwissen und ihre Fertigkeiten ein, um anderen Wissenschaftlern das Arbeiten mit den Quellen bzw. historischen Dokumenten zu ermöglichen: »Dass Wissenschaftler Editionen nicht um des Selbstzwecks willen herstellen, sondern für die Benutzung durch entsprechende Interessenten, ist Teil jenes Selbstverständnisses, das der Editorik als philologischer Grundlagenforschung zukommt.«[12] Dies bedeutet auch, dass der Editor nicht nur sein Fachwissen einsetzt, um Erkenntnisse zu gewinnen und neues Wissen zu erarbeiten, sondern auch um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erlangen, sein Leseverhalten aktiv zu gestalten und das Verständnis des Textes zu verbessern. Die Edition fungiert demnach als Wegweiser für den Leser, nicht als Bevormundung, sondern als Angebot und Vorarbeit. D. C. Greetham betont diese Aufgabe wie folgt: »[…] to prepare a scholary edition in order to present the information in a helpful manner to a learned audience.«[13] Die Statik des Druckes und damit die Konvention bestimmter Formen ermöglichen das Funktionieren von Editionen in Bezug auf ihre elementare Aufgabe.[14]

Bei der Edition des Diariums werden insbesondere die folgenden Fragen berücksichtigt: Wie kann es bei digitalen Editionen gelingen, die Zwecke der Edition in neuen Darstellungsformen und Funktionalitäten zu erfüllen? Können Standards entwickelt werden, die dem Leser eine intuitive und effektive Benutzbarkeit ermöglichen? Ist dies auch bei der Gestaltung von Kommentar, Apparat und Text erreichbar? Wie lässt sich die im Druck funktional als semantische Einheit genutzte Element Typografie umsetzen? Vor allem die Einrichtung und Erstellung des Apparates ist ein zentraler und kritischer Teil der Editionsarbeit, durch welchen sich das Vorgehen der typografischen Markierung von editorischen Entscheidungen und Ergebnissen zieht: »Am Wandel des Aufbaus und an der veränderten Positionierung des Apparates in den unterschiedlichen Ausgaben von MF [Minnesangs Frühling Anm. d. Verf.] lassen sich zwei grundlegende Fortschritte innerhalb der Fachwissenschaft festmachen. […] Carl von Kraus bedient sich des neuen Seitenaufbaus in der Edition, erarbeitet aber einen doppelstöckigen Apparataufbau, was enorm zur besseren Übersicht und Handhabbarkeit desselben beiträgt.«[15]

Die editionswissenschaftliche Methodendiskussion wurde und wird zu einem großen Teil von der Frage nach der bestmöglichen Darstellung von ediertem Text, Textfassungen, Textgenese, Apparat, Kommentar, Dokumentation des Überlieferten und der eigenen Arbeit sowie der Darlegung des Schreibprozesses geleitet. Editoren bzw. deren Ausgaben können beispielsweise entweder der Textfassung (statisches Verständnis) oder der Textgenese (dynamisches Verständnis) den Vorrang geben. Hierfür werden verschiedene Darstellungsweisen entwickelt, die z. B. als unterschiedliche Apparattypen (Einzelstellen-, Einblendungs- oder Treppenapparat) und mit der räumlichen und hierarchischen Einteilung der Edition in Text, Apparat und Kommentar ausgedrückt werden. Anfänglich wurde der edierte Text an den Anfang platziert, räumlich und hierarchisch danach erst folgten Kommentar, Apparat und Erläuterungen. Diese Darstellungsart wurde dann zugunsten eigener Text- und Apparatbände zum besseren parallelen Lesen aufgelöst.

Bei der Edition des Diariums werden edierter Text, Digitalisat, Kommentar und Apparat parallel dargestellt. Dabei sind der edierte Text links und wahlweise die beiden anderen Anzeigemöglichkeiten rechts angeordnet. Oben befinden sich zwei Schaltflächen, die das Umschalten zwischen Digitalisat und Apparat ermöglichen. Das Digitalisat ist dabei blätter- und zoombar und läuft beim Scrollen synchron mit dem Text mit. Kommentar und textkritischer Apparat werden parallel zur relevanten Textstelle angezeigt. Diese ist farblich hinterlegt, damit der Leser erkennt, dass ein Kommentar oder eine textkritische Bemerkung vorhanden ist. Außerdem wird der Kommentar zu Personen und Orten durch Tooltips gezeigt, die eine knappe Information enthalten und dann direkt in die jeweiligen Register weiterleiten. Einführungstexte und Sacherläuterungen werden als selbstständig stehende Texte in die Edition eingebunden.

Ziel ist es, eine intuitive Bedienbarkeit für den Leser und die Komplexität von Editionen zu vereinen. Beispielsweise müssen Schaltflächen und Mouseover-Funktionen als solche erkannt werden. Wichtig ist insbesondere, dass Text und Leser im Fokus verbleiben und nicht die Möglichkeit der maschinellen Verarbeitung von Daten. Im ersten Fall handelt es sich um Editionen mit einem Mehrwert an Erkenntnisangeboten, im zweiten Fall um reine Datenbanken. Hier schließen die Thesen und Beobachtungen an den Diskurs und den Vergleich gedruckte – digitale Edition und die Frage an, ob das digitale Medium Probleme der Text- und Apparatgestaltung im Gegensatz zum Druck besser lösen kann. Als Lösung für diese Probleme wird die Trennung von Inhalt und Form im Digitalen genannt und als das entscheidende Merkmal und der große Vorteil der digitalen Editionen ausgelegt.

Das bedeutet, dass die Darstellung des Inhalts Gewicht behält und nicht allein Sache des Lesers sein sollte. Die genannte Trennung und die weitergehende Vorstellung einer individualisierbaren und interaktiven Edition, bei der der Leser/Nutzer selbstständig und allein die Darstellung der Inhalte bestimmt, lassen die digitale Edition Gefahr laufen, sich nur auf das Dasein als Datenbank zu beschränken. So formuliert z. B. Patrick Sahle die Möglichkeit eines »[...] interaktive[n] Zugriff[s] auf Datenbankmäßig (sic!) organisierte Editionsinformationen«.[16] Wichtiger ist es m. E. nach dem Leser eine ausgewählte und begründete Ausgabe – also eine Edition – zu bieten, die eine möglichst gute Benutzbarkeit aufweist. Die digitale Edition steht vor den gleichen Herausforderungen wie die gedruckte. Es müssen deutlich Entscheidungen des Editors markiert, die Textgenese muss verständlich gemacht und Kommentare müssen mit dem edierten Text in Verbindung gebracht werden. Beim Webdesign ist also zu beachten, dass Editionen ein Spezialfall sind, vor allem in Bezug auf die Unterscheidung verschiedener Bereiche voneinander, so z. B. Sachapparat und textkritischer Apparat. Die Umsetzung weicht zwar voneinander ab, aber auch im Digitalen spielen farbliche Markierungen, Auszeichnungen mit Buchstaben, Zahlen, Symbolen oder Siglen sowie das Layout eine zentrale Rolle. Das Erkennen und Verstehen der Inhalte wird unverkennbar durch die Präsentation und Benutzbarkeit erleichtert oder erschwert.

Die Flexibilität und Offenheit von digitalen Editionen zugunsten einer etwas statischeren Variante einzuschränken, kann durchaus Vorteile bringen. Der Leser/Nutzer kann aus einer gewissen Statik bei Editionen Vorteile ziehen. Der Leser/Nutzer besitzt mit einer vom Editor festgesetzten Darstellung der Edition einen Referenzpunkt und durch die Wahl eines Edierten Textes zugunsten einer Datenbank die Meinung eines Editors. Auf beides kann er sich beziehen, dies kann sich durch Kritik, Weiterentwicklung oder ein Zitat äußern. Die genannten statischen Kriterien verbessern zudem den Aspekt der Wissenschaftlichkeit einer Edition, indem Zitierbarkeit und eine erneute Heranziehung desselben Textes zu einem späteren Zeitpunkt möglich sind.


Fußnoten


Literaturverzeichnis

  • David C. Greetham: Textual Scholarship. An Introduction. New York 1994. [Nachweis im GVK]

  • Roswitha Jacobsen: Fürstentagebücher als Quellengattung, ihre Edition und Erforschung. In: Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg: Die Tagebücher 1667–1686. Bearb. von Roswitha Jacobsen. Unter Mitarb. von Juliane Brandsch. Bd. 1: Tagebücher 1667–1677. Weimar 1998, S. 13–14. [Nachweis im GVK]

  • Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. [Nachweis im GVK] In: Historische Anthropologie: Kultur, Gesellschaft (1994), S. 462–471. [Nachweis im GVK]

  • Benigna von Krusenstjern: Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis. Berlin 1997. [Nachweis im GVK]

  • Judith Lange / Claudia Schumacher: Ein Aufriss der Editionsgeschichte anhand der Sammlung Des Minnesangs Frühling. In: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Hg. von Thomas Bein. Berlin u. a. 2015, S. 145–166. [Nachweis im GVK]

  • Rüdiger Nutt-Kofoth: Wie werden neugermanistische (historisch-)kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt? Versuch einer Annäherung aufgrund einer Auswertung germanistischer Periodika. In: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Hg. von Thomas Bein. Berlin u. a. 2015, S. 233–246. [Nachweis im GVK]

  • Inga Hanna Ralle: Maschinenlesbar – Menschenlesbar. Über die grundlegende Ausrichtung der Edition. In: Editio 30 (2016), H. 1, S. 144 – 156. [Nachweis im GVK]

  • Joachim Rees / Winfried Siebers: Erfahrungsraum Europa: Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reichs 1750–1800. Ein kommentiertes Verzeichnis handschriftlicher Quellen. Berlin 2005. [Nachweis im GVK]

  • Patrick Sahle: Vom editorischen Fachwissen zur digitalen Edition. Der Editionsprozeß zwischen Quellenbeschreibung und Benutzeroberfläche. PDF. [online] In: FUNDUS – Forum für Geschichte und ihre Quellen (2003), H. 2, S. 75–102. [online]

  • Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. von Winfried Schulze. (Konferenz, Bad Homburg, 4.-6.6.1992) Berlin 1996. [Nachweis im GVK]

  • Harald Tersch: Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400–1650). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen. Wien 1998. [Nachweis im GVK]