Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft

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1.0
Roland S. Kamzelak Autoreninformationen
Timo Steyer Autoreninformationen

DOI: 10.17175/sb002_001

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 1013712498

Erstveröffentlichung: 15.03.2018

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autoren

Letzte Überprüfung aller Verweise: 15.03.2018

GND-Verschlagwortung: Edition | Digital Humanities |

Empfohlene Zitierweise: Roland S. Kamzelak, Timo Steyer: Vorwort. In: Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft. Hg. von Roland S. Kamzelak / Timo Steyer. 2018 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 2). text/html Format. DOI: 10.17175/sb002_001


Vorwort

Die Digital Humanities (DH) wirken mit ihren Inhalten und Methoden in vielfacher Weise auf die Geistes- und Kulturwissenschaften ein, denn die Aufnahme und Anwendung digitaler Methoden in den Geisteswissenschaften ist längst Realität geworden. Doch der Diskurs über die Kanonisierung der DH ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. In der Praxis bilden sich derzeit zwei Integrations- bzw. Adaptionsmodelle heraus: Das erste trennt die etablierten traditionellen Arbeitsweisen einer Fachdisziplin von den Aspekten der DH ab und entwickelt neue, von den traditionellen Fächern unabhängige, methodische Ansätze. Das zweite Modell setzt auf Integration und versucht, disziplinenspezifische Fragestellungen mit den Methoden der DH neu zu formulieren oder zu beantworten. Diese ›Durchdringung‹ eines Fachs mit DH-Methoden findet sich besonders stark in der Editionswissenschaft, in der die Erstellung bereits seit den 70er Jahren digital geworden ist. Bei der Präsentation und Nutzung von Editionen stellt sich jedoch die Frage der Verortung der digitalen und nicht-digitalen Editionswissenschaft bis heute.

Digitale Methoden bieten sich besonders dort an, wo sie eine Überwindung der Beschränkungen des analogen Drucks versprechen. Zugleich zeichnet sich ab, dass mit einem Wechsel zu digitalen Editionsformen nicht nur neue Werkzeuge genutzt werden, die es erlauben, eine analoge Edition anzureichern oder dank derer die Edition hybrid durch komplementäre digitale und analoge Versionen präsentiert werden kann, sondern dass sich prinzipielle strukturelle Änderungen ergeben. Editoren[1] werden so vor neue Herausforderungen gestellt. Gleiches gilt für Infrastrukturen, die die Produkte der digitalen Editionswissenschaft publizieren und langfristig verfügbar machen sollen. Grundlegende Fragen der Qualitätsmessung und -bewertung, der Arbeitsorganisation, Vernetzung und Distribution müssen bei der digitalen Editionswissenschaft anders bzw. neu gestellt und beurteilt werden. Angesichts der zunehmenden Durchdringung aller Bereiche der Wissensproduktion und Wissenskultur mit digitalen Prozessen sind die einzelnen Fachdisziplinen herausgefordert, sich diesen Transformationsprozessen zu stellen und die Frage nach der methodischen und strukturellen Integration in ihrem Fach zu beantworten.

Diesen Aspekten widmete sich die Tagung ›Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft‹, welche vom 2. bis zum 4. November 2015 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel stattfand.[2]

Abb. 1: Tagungsplakat ›Digitale Metamorphose: Digital
                        Humanities und Editionswissenschaft‹. Vom 2. bis zum 4. November 2015 an der Herzog August
                        Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar
                        Wolfenbüttel.
Abb. 1: Tagungsplakat ›Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft‹. Vom 2. bis zum 4. November 2015 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel.

Ausgewählte Beiträge der Tagung werden im Rahmen dieses Sonderbandes in der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG) als Open Access publiziert, ergänzt durch weitere Beiträge, die eine zusätzliche fachliche und stärker interdisziplinäre Perspektive einbringen.

Die Beiträge des Sonderbandes thematisieren dabei nicht nur die skizzierten Herausforderungen und Potentiale des digitalen Wandels für die Editionswissenschaft und das Format der Edition per se. So verdeutlicht Carina Hoff, dass dieser Wandel ein langfristiges Phänomen ist, dessen Ende in Form einer Kanonisierung nicht absehbar ist. Die digitale Editorik ist daher durch einen permanenten Wandel – einer beständigen digitalen Metamorphose – gekennzeichnet, für dessen Bewältigung die Balance zwischen Adaption der neuen technischen Möglichkeiten unter Wahrung etablierter Richtlinien entscheidend ist. Gleichfalls müssen experimentelle Verfahren weiterhin erprobt und gefördert werden, um die Potentiale neuer Techniken und Verfahren auszuloten.

Bodo Plachta weist in diesem Kontext zu Recht auf die Bedeutung philologischer Standards für die Editionsarbeit hin. Gerade die Editionswissenschaft kann auf historisch gewachsene philologische Richtlinien sowie aus der editorischen Arbeit hervorgegangene und bewährte Praktiken verweisen, die bei der digitalen Transformation nicht nur bewahrt, sondern als Kriterien für eine Standardisierung der digitalen Editionswissenschaft Pate stehen sollten. Eine digitale Editionswissenschaft kann nur dann erfolgreich etabliert werden, wenn die philologische Sorgfalt als wesentliches Qualitätskriterium beibehalten wird. Die technische Entwicklung muss daher stets von einem kritischen Diskurs begleitet werden, nicht um die schon längst unumkehrbare technische Entwicklung zu bremsen, sondern um deren Auswirkungen für die Entwicklung der Editionswissenschaft produktiv zu nutzen und zu moderieren. So können traditionelle editionswissenschaftliche Herausforderungen, wie z. B. die durch das Medium Druck begrenzten Kommentierungsmöglichkeiten oder die Darstellung der Textgenese, durch die Potentiale des Digitalen überzeugend umgesetzt werden. Artur R. Boelderl verdeutlicht am Beispiel der Hybrid-Edition von Musil diesen Zusammenhang durch eine Reflexion zur (Über-)Kommentierung. Die Möglichkeiten der digitalen Publikationsform dürfen nicht das Prinzip der interpretatorischen Askese ad absurdum führen.

Die Vor- und Nachteile des digitalen Publizierens und der Textrezeption sind bedingt durch die Fluidität und Dynamik des World Wide Web. Hier bedarf es Standards zur Sicherstellung der wissenschaftlichen Referenzierung und Nachvollziehbarkeit der Textinterpretation des Editors. Gleiches gilt für die Bereitstellung der Edition zur wissenschaftlichen Nachnutzung, wobei Inga Hanna Ralle einen bisher wenig beachteter Faktor ins Gedächtnis ruft: die Benutzerfreundlichkeit. Die sogenannte Usability der digitalen Auftritte spielt für die wissenschaftliche Akzeptanz eine entscheidende Rolle. Maschinen- und menschenlesbare Texte stellen dabei nicht das Spannungsverhältnis dar, da durch den de-facto-Standard der TEI eine überzeugende Lösung gefunden wurde. Vielmehr muss für die mediale Präsentation eine den Stellenwert der Editionsrichtlinien adäquate Bedeutung bei der Konzeption und Umsetzung einer digitalen Edition beigemessen werden. Im Gegensatz zu gedruckten Editionen müssen technische Umsetzungen, wie z. B. Schnittstellen oder Suchfunktionalitäten, in die Bewertung bzw. Rezension ebenso mit einbezogen werden wie die Daten- und Kodierungsqualität. Hier sind – so zeigt Ulrike Henny - seit einigen Jahren Aktivitäten zu verzeichnen, die ein neuartiges Reviewingverfahren für digitale Editionen etablieren. Im Zuge dieses Verfahrens besteht auch die Chance, die wissenschaftliche Kreditierung von digitalen Editionen zu fördern.

Die skizzierten Problemfelder scheinen alle nicht zuletzt vor dem Hintergrund neuer technischer Möglichkeiten lösbar, wie Jörg Wettlaufer schreibt. Auch besteht vor allem in der Hinwendung zu den Möglichkeiten des Semantic web und zu Linked open data (LOD) weiteres Entwicklungspotential. Roland S. Kamzelak zeigt, dass die Edition über die semantischen Daten Teil des digitalen Wissenskosmos wird und dadurch neue, bisher unbekannte Möglichkeiten von Interoperabilität bieten kann, welche die Potentiale von TEI-kodierten Texten weiter ausbauen könnten. Aber auch die Editionsarbeit wird sich durch das Semantic web nachhaltig ändern, da bisher repetitive Arbeiten, wie z. B. die Anlage von Normdatensätzen, zu kanonischen Ansetzungen entwickelt werden könnten. Neue Editionen müssten nur noch durch spezifische Informationen angereicht werden. Erstmals könnten so auch komplexe Suchabfragen editionsübergreifend ebenso ermöglicht werden wie Vernetzungen zwischen Editionen über ihre Entitäten.

Nicht zuletzt gehört laut João Dionísio dazu auch die zunehmende Internationalität der Editionswissenschaft in ihren Methoden und ihren Kommunikationsstrukturen. Die Verbindung der Fachcommunity über Sprach- und Landesgrenzen hinweg weist auf neue Kooperationsmöglichkeiten hin, die über die bekannten Möglichkeiten auf institutioneller Ebene hinaus zu neuartigen und sehr dynamischen philologischen Netzwerken führen. So könnten damit neue Konstruktionen und Interpretationen von Textbedeutung und -verstehen geschaffen werden, die in Zukunft gänzlich neue Editionsvorhaben ermöglichen. Dazu gehört auch die stärkere Nutzbarkeit von Editionen über mehrere Fachdisziplinen hinweg. Dies trifft u. a. für die Sprachwissenschaft zu, wie dies Norbert Ankenbauer exemplarisch an der Analyse der Druckersprache eines frühneuzeitlichen Druckes demonstriert. Durch ein detailliertes Tagging und die Verbindung der Edition mit einer sprachwissenschaftlichen Fragestellungen, zeigt diese Edition exemplarisch die innovative Interdisziplinarität von digitalen Editionen auf – ist der Editionstext doch ebenso für die Geschichts- wie auch für die Kulturwissenschaften relevant und in der strukturierten Form adaptierbar.

An dieser Stelle sei ausdrücklich allen Autoren für ihre Beiträge gedankt, die durch die Dikussionen auf der Tagung weiter geschärft wurden. So gilt unser Dank auch den Tagungsteilnehmern und allen Helfern vor Ort. Ebenso danken die Herausgeber der Redaktion der ZfdG, die den Publikationsvorgang unterstützt und begleitet hat. Dank gebührt last but not least dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das über die Förderung des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel die Tagung und den Sonderband erst ermöglicht hat.


Fußnoten

  • [1]
    Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Band auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen in dem Sonderband verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

  • [2]


Bibliographische Angaben

  • Hartmut Beyer / Inga Hanna Ralle / Timo Steyer: Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft. Tagung an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 2.–4. November 2015. DOI: 10.1515/editio-2016-0014 [Nachweis im GVK] In: Editio 30 (2016), S. 222–228. [online] [Nachweis im GVK]


Abbildungsnachweise und –legende

  • Abb. 1: Tagungsplakat ›Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft‹. Vom 2. bis zum 4. November 2015 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel.