Objektumgangsnormen in der Literaturwissenschaft

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Friederike Schruhl Autoreninformationen

DOI: 10.17175/sb003_012

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 101060158X

Erstveröffentlichung: 27.06.2018

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autoren

Letzte Überprüfung aller Verweise: 29.11.2019

GND-Verschlagwortung: Praxeologie | Digital Humanities | Wissenschaft | Norm |

Empfohlene Zitierweise: Friederike Schruhl: Objektumgangsnormen in der Literaturwissenschaft. In: Wie Digitalität die Geisteswissenschaften verändert: Neue Forschungsgegenstände und Methoden. Hg. von Martin Huber / Sybille Krämer. 2018 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 3). text/html Format. DOI: 10.17175/sb003_012


Abstract

Im vorliegenden Aufsatz werden die von den Digital Humanities ausgehenden Interventionen genutzt, um geistes-, mithin literaturwissenschaftliche Forschungspraktiken und ihre epistemischen Implikationen zu untersuchen. Hierfür werden die Grundzüge einer praxeologischen Wissenschaftsforschung skizziert. Auf dieser Grundlage werden drei Objektumgangsnormen herausgearbeitet und der für gewöhnlich als Analyseverfahren ausgezeichnete Dualismus ›distant‹ versus ›close reading‹ problematisiert sowie praxeologisch als Umschreibung unterschiedlicher Hierarchisierungen von Objektumgangsnormen gedeutet.


The following article takes the interventions originating from the Digital Humanities as a starting point to analyse research practices in the humanities in general, and literary studies in particular, and to highlight their epistemic implications. Therefore, it sketches out the basic characteristics of praxeological ›science studies‹. On this basis, the dualism ›distant‹ versus ›close reading‹ often labelled as an analytical method is problematized and reconceptualised as the metaphorical description of various hierarchies of scholarly norms.



1. Einleitung

Die Frage, inwieweit die Digitalisierung die Literaturwissenschaft[1] verändert, ist kompliziert zu beantworten. Das liegt nicht nur daran, dass der Gebrauchswert digitaler Anwendungen schwer abzuschätzen ist, der technologischen Weiterentwicklung unterliegt und je nach Geltungs- und Einsatzbereich variieren kann, sondern auch daran, dass über den ›modus operandi‹ der Literaturwissenschaft, die gewöhnlichen Verhaltensroutinen, die inkorporierten Textumgangsweisen und informellen Arbeitszusammenhänge, noch überwiegend Unklarheit herrscht.[2] Insofern fordern Reflexionen über die Modifikationen literaturwissenschaftlicher Praxis durch computergestützte Textanalyseverfahren implizit dazu auf, sich mit der »Normalität«[3] und den »Selbstverständlichkeiten des literaturwissenschaftlichen Alltagsgeschäfts«[4] auseinanderzusetzen. Das vermeintlich schlichte »Interesse daran, was Wissenschaftler tun, wenn sie ihre jeweilige Forschung betreiben«[5], bildet im vorliegenden Beitrag[6] daher den Ausgangspunkt, um sowohl herauszufinden, wie Literaturwissenschaftler ihre Forschungsobjekte identifizieren, legitimieren und bearbeiten, als auch die Materialisierung und Hierarchisierung von Objektumgangsnormen in spezifischen Praktiken zu erfassen.

Um die Beschäftigung mit Praktiken und die ihnen inhärenten Normen vorzubereiten, führt der Beitrag zunächst in eine praxeologische Wissenschaftsforschung ein. In einem weiteren Schritt wird das Verhältnis zwischen Objektumgangsweisen, Praktiken und Normen konkretisiert, um im Anschluss ausgewählte Aspekte des Objektumgangs exemplarisch zu beleuchten. Zum Schluss soll gezeigt werden, dass close, micro, deep, distant, macro und wide readings nicht als konkrete Methodenangebote oder klar umrissene Analyseprogramme zu verstehen sind, sondern vielmehr als Umschreibungen spezifischer Objektumgangsnormen gelten können, die bestimmte Praktiken nahelegen, privilegieren bzw. ausschließen. Mit ihnen lässt sich die »Multinormativität der Literaturwissenschaft«[7] beispielhaft vor Augen führen.

2. Perspektiven der Wissenschaftsforschung

In den letzten Dekaden der wissenschaftsgeschichtlichen Erforschung der Literaturwissenschaft standen vorrangig herausragende Protagonisten der Disziplin, Fachgemeinschaften oder -verbünde, die Gründung von Zeitschriften oder der Aufbau von Archiven und Sammlungen im Zentrum.[8] Diese Arbeiten sind zumeist durch biographische, disziplin- oder institutionsgeschichtliche Archiv- und Verwaltungsleistungen bestimmt. Vielfach setzen sie die Entwicklung der Disziplin in direkter Beziehung zu ihren historischen Kontexten, d.h. den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der literaturwissenschaftlichen Wissensproduktion. Daneben etablierte sich eine Forschung, welche die Literaturwissenschaft in Form einer Ideen-, Programm- oder Theoriegeschichte vorstellte. Im Vordergrund stehen dabei interne Anschlusskonstellationen, Entwicklungslinien und Weiterführungen von Theorien bzw. theoretischen Paradigmen. Inspiriert durch die naturwissenschaftliche Wissenschaftsforschung, vor allem ihrer Laborstudien,[9] zeichnet sich seit einigen Jahren eine dritte Perspektive auf die Disziplingeschichte der Literaturwissenschaft ab, welche das Praxisensemble der Literaturwissenschaft in den Blick nimmt.[10] Die Fokussierung auf Praktiken geht mit einem erhöhten Interesse für Objekte, Infrastrukturen, Forschungskollektive und Institutionen einher und sensibilisiert für vielfältige Prozesse der disziplinären Wissensproduktion. Sie schließt die oben genannten Aspekte keineswegs aus, sondern perspektiviert sie auf spezifische Weise. Auch wenn vergleichbare Arbeiten in den Geisteswissenschaften fehlen und die Übertragbarkeit einzelner Perspektiven und die Anschlussfähigkeiten bestimmter Begriffe aus der auf die Naturwissenschaften konzentrierten Forschung für geistes- respektive literaturwissenschaftliche Arbeits- und Darstellungsformen noch intensiver diskutiert werden müssten, lieferte die Wissenschaftsforschung[11] wertvolle Anstöße, die sozialen, lokalen, kulturellen und objektbezogenen Anteile auch in geistes-, mithin literaturwissenschaftlichen Forschungsprozessen zu reflektieren.

Schon vor nahezu zehn Jahren sprach Steffen Martus davon, dass die »›Logik‹ der Literaturwissenschaft […] nicht allein theoretisch oder methodologisch zu fassen« ist, sondern auch »praxeologisch«.[12] Eine »praxisaffine Erforschung der Wissenschaften«[13] konzentriert sich daher weniger auf die expliziten Regeln oder fixierten Kriterien einer Disziplin. Im Fokus einer praxeologischen Wissenschaftsforschung stehen vielmehr jene vorrausetzungsreichen, komplexen und zeitintensiv einzuübenden

»Praxisformen des Textumgangs, der Begriffsbildung, der Themenfindung, der Wissensordnung, der Validierung und Darstellung von Wissensansprüchen, die den literaturwissenschaftlichen Disziplinen ihr spezifisches Gepräge verleihen.«[14]

Diese Perspektive soll im Folgenden übernommen und im Hinblick auf den Zusammenhang von Praktiken und Normen konkretisiert werden.

3. Objektumgangsweisen im Kontext von Praktiken und Normen

Mit der Konzentration auf Objektumgangsformen geht die Überzeugung einher, dass die Einheit einer Disziplin nicht ausschließlich über gemeinsame Gegenstandsbereiche oder spezifische Theorien und Methoden zu bestimmen ist, sondern vor allem über die Art und Weise, wie Objekte konstituiert, befragt und behandelt werden.[15] Disziplinär gepflegte und kollektiv geteilte Objektumgangsformen zeichnen sich beispielsweise dadurch aus, dass man einen ›spezifischen‹ Blick auf einen Gegenstand werfen, ›anschlussfähige‹ Beobachtungen formulieren, ›passende‹ Forschungszusammenhänge überblicken und seine Erkenntnisabsichten ›adäquat‹ mitteilen kann.[16] Ihnen liegen weniger theoretische Paradigmen oder methodische Anleitungen zugrunde. Sie basieren vielmehr auf einem »disziplinspezifischen Gefühl«[17] und einem »Dazugehörigkeitsgespür«[18], das erst durch langwierige Enkulturationsprozesse erworben werden kann, in habituellen Gewohnheiten und Lebensformen sedimentiert liegt und vor allem durch einen gekonnten Umgang in der Nobilitierung von ›bloßen‹ Gegenständen zu literaturwissenschaftlichen Objekten ›von Interesse‹ demonstriert wird. In Objektumgangsweisen zeigen sich somit »Formen kollektiver Intentionalität, bei denen man zeigt, dass man weiß, was disziplinär gewollt ist und dass man sich dazu […] gekonnt verhält«[19].

4. Die normative Variabilität der Literaturwissenschaft

In philosophisch, rechtswissenschaftlich und soziologisch ausgerichteten Forschungsbeiträgen entfaltet der Zusammenhang zwischen Praktiken und Normen ein großes Diskussionspotential. Dabei geht es zumeist um Begründungszusammenhänge[20], d.h. die Frage, ob Praktiken von Normen angeleitet werden oder ob Normen erst durch Praktiken instituiert und reproduziert werden.[21] Unter einer praxeologischen Perspektive sind Normen keine »autonome[n] Entität[en], sondern finde[n] sich ausschließlich in der Praxis«[22]. Sie sedimentieren und habitualisieren sich in Praktiken und sind in der Regel in

»kulturelle, ökonomische, politische, kommunikative und psychologische Kontexte eingebettet, in Institutionen verkörpert, […] in Konventionen als Ergebnis langwieriger Kompromissbildungsverfahren enthalten, in Konfliktarenen herausgefordert, in Prozessen der Interpretation und Dauerrevision thematisiert und bestritten, in Ritualen und Dramen bekräftigt und stabilisiert«[23].

Normen lassen sich nur theoretisch isoliert voneinander vorstellen.[24]

Um Wissensbildungsprozesse und ihre komplexe Normkonstitution deutlich zu machen, ist in Bezug auf die Kriterien literaturwissenschaftlichen Arbeitens häufig von ›weichen‹ Normen die Rede.[25] Diese Hilfsvokabel, die in Abgrenzung zu den vermeintlich ›harten‹ Normen der Naturwissenschaften formuliert wurde, kann jedoch zu Missverständnissen führen.[26] Literaturwissenschaftliche Untersuchungen verfahren keineswegs voluntaristisch. Ihre Normen sind nicht weich im Sinne eines ›anything goes‹, sondern flexibel hinsichtlich ihrer Position und Relevanz innerhalb eines jeweils passenden Sets.

Anders als die expliziten Normen beispielsweise in Regeln, Vorschriften oder Direktiven ist der literaturwissenschaftliche Objektumgang vor allem durch implizite Normen strukturiert.[27] Ohne die jeweiligen Normen explizieren (können) zu müssen, geht es beispielsweise in Interpretationstexten, welche als prominente Darstellungsform des Objektumgangs gelten können, darum, in ›entsprechender Weise‹ Analysebeispiele zu identifizieren, in ›angemessenem Rahmen‹ Theorievokabular einzubinden, im ›richtigen Verhältnis‹ auf Forschungsliteratur zu verweisen und nicht zuletzt den ›passenden‹ »Ton«[28] zu finden. In einer Interpretation kommen daher nicht nur Normen wie Objektivität oder Richtigkeit vor. Analysen können plausibel, Beobachtungen anschlussfähig, Thesen originell sein u.v.a.m. Insofern kann eine Interpretation gleichzeitig theoretisch unterkomplex, aber von den Beobachtungsleistungen sehr innovativ sein; der Interpret kann vielleicht bei einigen Beispielen argumentativ überzeugen, aber so unpassend kontextualisiert haben, dass es insgesamt nicht mehr richtig erscheint etc. In der Literaturwissenschaft kann also ein variables Set von Normen je nach Forschungszusammenhang und Gegenstand geltend gemacht werden. Die Variabilität von Normen zeigt sich mitunter deutlich in literaturwissenschaftlichen Beiträgen der Digital Humanities.

4.1 Ausweitung der Aufmerksamkeit

»Use all the data! [...] View all the data! [...] View all the combinations! [...] View all angles! [...] Use all the techniques!«[29] Mit diesen Imperativen bringt der Linguist Mark Richard Lauersdorf eine Direktive zum Ausdruck, die vor allem in quantitativen, computergestützten Arbeiten der Digital Humanities privilegiert verfolgt wird und die auf ein möglichst breites und exploratives Aufmerksamkeitsverhalten der Forschung zielt. Diese Form der Aufmerksamkeit wird nicht nur einer präzisen ›Stellenlektüre‹, sondern auch einer theoretisch angeleiteten Untersuchung vorgezogen. Was häufig als Kritik an den Digital Humanities geäußert wird – dass sie zu untheoretisch oder zu oberflächlich operieren – lässt sich auch als Vorteil lesen: Um möglichst offen an Daten heranzutreten und unterschiedliche Aspekte zu registrieren, wird beispielsweise weniger theoretisiert.[30] Im Gegenzug wird die Konzentration auf Muster und Regelmäßigkeiten deutlich erhöht. Die berühmte Stanforder Forschungsgruppe um Franco Moretti beschreibt bei fast allen ›Experimenten‹ das Ausprobieren unterschiedlicher Faktoren, um in verschiedenen Justierungen Muster zu explorieren: Mal clustern sie ihre Daten nach Romangattungen; mal nach den ›most frequent words‹; mal konzentrieren sie sich auf die Semantik, mal auf die Grammatik; mal auf eine kleine Menge von Funktionswörtern.[31] Sie suchen »Hinweise auf eine ungewöhnliche Konstellation«[32].

»Und glücklicherweise kristallisierte sich im rechten oberen Quadranten, rund um den Nebensatz der Nebensatz-Hauptsatz-Folge, ein Cluster verwandter Ausdrücke heraus: ›drawing room‹, ›home‹, ›house‹, ›door‹, ›hall‹, ›church‹, ›building‹, ›gate‹, ›town‹, ›road‹, ›street‹, ›palace‹, ›yards‹, ›slope‹ und ›park‹. Im linken oberen Quadranten zeichnete sich um den Hauptsatz derselben Abfolge ein anderes, aber ebenso zusammenhängendes Cluster ab: ›feelings‹, ›jealousy‹, ›indignation‹, ›despair‹, ›admiration‹, ›fancy‹, ›interest‹, ›memory‹ und ›tears‹. In dem scheinbaren Chaos war ein Muster zum Vorschein gekommen.«[33]

Es sei gerade die Spezifik digitaltechnologischer Textanalyseoperationen, dass

»immer wieder andere Daten immer wieder anders verrechnet und formatiert [werden], um völlig unterschiedliche Rekontextualisierungen der Daten zu erzeugen und damit unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten zu eröffnen«[34].

Der Auflösungsgrad, die Perspektive oder die Auswahl werden so lange variiert, bis sich »zwischen der Erwartung […] und dem Präsentierten eine Relation einstellt«[35] und ein (mit bereits bekannten Kontexten korrelierendes) Muster entsteht, das interpretationsfähig ist. Mit der Ausdehnung der Aufmerksamkeit geht also eine spezifische Konzentration einher, die bestimmte Teilpraktiken als weniger wichtig (bspw. Theoretisieren), andere hingegen als besonders wichtig einstuft (bspw. Kontextualisieren).

4.2 Textkenntnis und Forschungswissen

Quantifizierungsvorhaben in den Geisteswissenschaften, respektive der Literaturwissenschaft gehen häufig mit der Vorstellung von sehr großen, nahezu unübersichtlichen, auf jeden Fall nicht mehr vollständig lesbaren Text- bzw. Datenmengen einher.[36] Untersucht werden in der Regel keine Texte, sondern Korpora. Eine genaue Lektüre aller in dem jeweiligen Korpus enthaltenden Texte ist daher in fast allen Projekten der Digital Humanities unmöglich. Franco Moretti bemerkt beispielsweise, dass »200 Romane zu kennen, schon schwierig [sei]. Aber 20.000? Wie soll das gehen, was bedeutet ›kennen‹ in diesem neuen Szenario?«[37] Auch wenn die Korpora in den literaturwissenschaftlichen Studien der Digital Humanities bislang nicht das Versprechen von ›big data‹ einlösen, sind auch schon Projektgrößen des ›mid scale‹ nicht auf eine vollständige und gründliche Textlektüre abonniert. Aus dieser Anlage heraus ist es naheliegend, dass Objektumgangsweisen in diesen Zusammenhängen nicht auf gründliche Textkenntnis setzen. Allerdings wird diese ›Lockerung‹ mit einem erhöhten Kontext- bzw. Forschungswissen ausgeglichen. Denn »[o]hne eine gute Kenntnis der Sammlung wird man gar nicht auf die Idee kommen, manche Fragen zu stellen«[38]. Thomas Weitin und Katharina Herget verweisen in diesem Zusammenhang auf die Routinen der Literaturwissenschaft vor dem Hintergrund der Digitalisierung:

»Wir untersuchen in den meisten Fällen Korpora, über die wir eine ganze Menge wissen, sei es durch die Kenntnis bestimmter Texte, durch historisches Kontextwissen oder durch systematische Kenntnisse über Gattungen, Formen, Intertextualität usw. Diejenigen Wissenschaftler, denen es gelungen ist, statistische Verfahren bei der literarischen Korpusanalyse so angemessen einzusetzen, dass sie einschlägig werden konnten, kannten die verwendeten Korpora jeweils ausgezeichnet.«[39]

Daher verwundert es nicht, dass es den meisten literaturwissenschaftlichen Arbeiten der Digital Humanities um einen Beitrag zur Literaturgeschichte geht und im Zentrum ihrer Forschungsbestrebungen die kanonische – und damit breit erforschte – Literatur des 17., 18. und 19. Jahrhunderts steht.

Mit dieser Tendenz korrespondiert auch die Art und Weise der Einbeziehung von Forschungsliteratur. Es finden sich auffallend wenig direkte Zitate der Forschungsliteratur in den Arbeiten. Es werden keine einzelnen Positionen vorgestellt, diskutiert oder gegeneinander konturiert. Vielmehr verweist man auf eine geringe Anzahl einschlägiger Standardwerke und etablierte Thesen, die den Ausgangspunkt für die quantitativen Arbeiten bilden. Dies kann jedoch nicht darauf zurückgeführt werden, dass in diesen Beiträgen Forschungszusammenhänge als unwichtig oder irrelevant eingestuft würden. Vielmehr setzen sie voraus, dass bestimmte Grundpositionen der Forschung bekannt sind. Ihre Arbeiten sind daher in hohem Maß forschungsgesättigt und richten sich somit an eine spezialisierte und sachkundige Forschungsgemeinde. Die Reduktion der Notwendigkeit akribischer, genauer und gründlicher Lektüre geht somit Hand in Hand mit einer erhöhten Anforderung an spezielles Forschungswissen.

4.3 Prozessualität, Vorläufigkeit und »Nichtwissen«

Fotis Jannidis stellt in einem Beitrag klar, dass »im Kontext der Stilometrie erst deutlich geworden ist, was wir nicht wissen«[40] und formuliert damit eine Objektumgangsweise, die nicht nur jenes festhält, was durch die Forschung als gesichert gelten kann, sondern auch das, was noch offen oder unklar ist:

»Auch wenn man nicht genau weiß, warum Häufigkeitswörterlisten so gute Stellvertreter für Texte sind, insbesondere auch im Rahmen der Autorschaftsattribution, kann man festhalten, dass die positiven Resultate von stilometrischen Verfahren zur Erfolgsgeschichte der Digital Humanities gehören.«[41]

Vorläufige Wissensansprüche oder Bemerkungen über ›unklare‹ Zusammenhänge werden in den Arbeiten der Digital Humanities schon zu Beginn eines Forschungsprozesses zugelassen – ohne dass Sanktionen befürchtet werden müssten. In Arbeitseinheiten der Literaturwissenschaft, die ohne digitaltechnologische Verfahren operieren, sind diese an bestimmten Stellen ebenso unproblematisch – allerdings eher in Darstellungsformen, wie dem Exposé oder einem Projektantrag als etwa in einem Aufsatz.

Zudem fällt die starke Fokussierung auf die Darstellung des Forschungsprozesses in den Digital Humanities auf, welche die verwendeten Objektumgangsnormen detailliert erfasst. In chronologischer Reihenfolge und protokollähnlich stellen viele der untersuchten Beiträge ihre Forschungsergebnisse vor. Von »Herbst 2008«, »Februar 2009«, »März 2009«, »Juni 2009«, »Juni bis September 2009«, »November 2009« und »Dezember 2009 bis März 2010« protokolliert die eingangs erwähnte Stanforder Forschungsgruppe um Franco Moretti ihre Ergebnisse unter Einbezug von »Fehlschlägen«.[42] Sie, so Moretti, »führen uns an unseren Ausgangspunkt zurück: bis zu jenen impliziten Annahmen, die sich ›von selbst verstehen‹ […].«[43] Die Darstellung des Forschungsprozesses zeigt, dass man es hier mit Umgangsweisen zu tun hat, die man noch nicht für ›selbstverständlich‹ hält und daher explizit beschreibt, was wiederum nicht nur mit einer erhöhten Fehlertoleranz einhergeht, sondern auch zu einem hohen Grad an Terminologisierung und Operationalisierung führt.

5. Schluss: close, micro, deep, distant, macro und wide als Beschreibungen von Objektumgangsnormen

Wurden in den bisherigen Abschnitten eher Objektumgangsweisen und die ihnen inhärenten Normen vorgestellt, die bislang von der Forschung noch nicht intensiv besprochen wurden, sollen zum Schluss bekanntere Objektumgangsnormen in den Mittelpunkt gerückt und praxeologisch reflektiert werden: close, micro, deep, distant, macro und wide readings.

Die Verwendung des close reading als »Methode«[44], »Einzeltextlektüre«[45] oder »detaillierte Form des Lesens«[46] und die begriffliche Bestimmung des distant reading als »second hand criticism«[47], »Verfahren zur Analyse von Literatur«[48] oder »computergesteuerte Erkenntnisverfahren«[49] sind – ebenso wie der reading-Begriff selbst – auffallend heterogen bzw. unscharf.[50] Der Lösungsvorschlag von Thomas Weitin die extremen Pole und »werbewirksam verkündeten Reinformen von close, micro oder depth Lektüren auf der einen und distant, macro oder surface Analysen auf der anderen Seite« zu entschärfen und stattdessen ein auf »Zwischenstufen« abonniertes »scalable reading« zu präferieren, das auf einen »mixed methods«-Ansatz setzt,[51] überzeugt nur in spezifischen Hinsichten. Er kann zwar den dichotomen Rigorismus unterminieren, die disziplinäre »Frontstellung close versus distant«[52] überwinden und die Obligation des large scale bzw. von big data relativieren, bleibt aber demselben Problem verhaftet. Denn weder bei close und distant reading, noch bei scalable reading handelt es sich um konkrete Methoden oder klar umrissene Analyseprogramme. Vielmehr könnte man die Adjektive close, micro, deep, distant, macro und wide als Umschreibungen unterschiedlicher Objektumgangsnormen verstehen, die sich in spezifischen Praktiken materialisieren und in die ein Zusammenhang zwischen Materialumfang und spezifischen Erkenntnisinteressen eingelagert ist. Würde man die orientierende Funktion dieser Normen deutlich machen, ließen sich Enttäuschungen darüber vermeiden, dass häufig unklar ist, was eigentlich in einem close reading oder einem scalable reading ganz konkret getan werden müsste.

Das scalable reading würde in einer solchen Perspektive zu einem programmatischen Hinweis oder tatsächlich zu einem »Konzept«[53] avancieren, das auf eine mittlere Tonlage setzt und auf das weite Spektrum literaturwissenschaftlicher Zugriffsweisen und die unterschiedlichen Kombinationen des Objektumgangs verweist. Close, micro, deep, distant, macro und wide sind von hier aus betrachtet einzelne, lose gekoppelte Bündel an Objektumgangsformen, denen spezifische Normenhierarchien inhärent sind.

Wichtig ist hierbei, so wurde versucht zu zeigen, dass diese Normencluster auf Ebene eines variablen Objektumgangs einzuordnen sind. Die Literaturwissenschaft verfügt nämlich keineswegs nur über eine geringe Anzahl an Objektumgangsweisen; sie ist vielmehr multinormativ und multioptional organisiert. Das bedeutet, dass je nach Gegenstand, Fragestellung, Forschungsstand, Darstellungsform etc. die in routinisierten, intuitiv vollzogenen Praktiken eingelagerten Normengebilde variieren können. Sie sind sowohl durch eine hohe Flexibilität bezüglich ihrer möglichen Zusammensetzung und ihrer internen Hierarchie als auch durch starke wechselseitige Bindungskräfte gekennzeichnet.[54]

Der Vorschlag der diskreten Verschiebung bzw. die Konzentration auf Objektumgangsnormen dient mithin dazu, die »Multinormativität der Literaturwissenschaft«[55] zu erfassen und die Erwartungen an vermeintliche Analyseverfahren zu reduzieren. Zugleich legt eine solche Perspektive die Beobachtung nahe, dass »sich dezidierte theoretische und methodische Divergenzen […] als weniger relevant erweisen als die unterschiedliche Clusterung und Hierarchisierung von Wissenschaftsnormen«[56]. Von hier aus gesehen, könnte man mit dem Blick auf Praktiken und ihren inhärenten Normen jenen mit den Digital Humanities oftmals einhergehenden, zumeist spektakulär betriebenen, aber doch unwirksam bleibenden Grabenkämpfen entgehen.


Fußnoten


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  • Literatur im Labor. Hg. von Franco Moretti / Mark Algee-Hewitt / Sarah Allison / Marissa Gemma / Ryan Heuser / Matthew Jockers / Dominique Pestre / Erik Steiner / Amir Tevel / Hannah Walser / Michael Witmore / Irena Yamboliev. Paderborn 2017. [Nachweis im GVK]

  • Christoph Möllers: Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität. Berlin 2015. [Nachweis im GVK]

  • Nicolas Pethes / Marcus Krause: Scholars in Action. Zur Autoreferentialität philologischen Wissens im Wandel medialer Praktiken. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 91 (2017), S. 73–108. [Nachweis im GVK]

  • Sheldon Pollock: Future Philology? The Fate of a Soft Science in a Hard World. In: Critical Inquiry 35 (2009), H. 4, S. 931–961. [Nachweis im GVK]

  • Hans-Jörg Rheinberger (2006a): Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt/Main 2006. [Nachweis im GVK]

  • Hans-Jörg Rheinberger (2006b): Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte moderner Biologie. Frankfurt/Main 2006. [Nachweis im GVK]

  • Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007. [Nachweis im GVK]

  • Joseph Rouse: Social Practice and Normativity. DOI: 10.1177/0048393106296542 In: Philosophy of the Social Sciences 37 (2007), H. 1, S. 46–56. [online] [Nachweis im GVK]

  • Hilmar Schäfer: Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie. Weilerswist 2013. [Nachweis im GVK]

  • Jörg Schönert: Normen und Standards als notwendige Regulierungen (literatur-) wissenschaftlicher Praxis. In: Journal of Literary Theory 5 (2011), S. 233–243. [Nachweis im GVK]

  • Jörg Schönert: Durchsetzungsstrategien für Wissensansprüche in der literaturwissenschaftlichen Praxis 1965–1985. In: Scientia Poetica 20 (2016), S. 234–253. [Nachweis im GVK]

  • Friederike Schruhl: Literaturwissenschaftliche Wissensproduktion unter dem Einfluss der Digitalisierung. In: Zeitschrift für Germanistik NF 27 (2017), H. 2, S. 239–260. [Nachweis im GVK]

  • Carlos Spoerhase: Prosodien des Wissens. Über den gelehrten »Ton« 1794–1797 (Kant, Sulzer, Fichte). [Nachweis im GVK] In: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Lutz Danneberg / Carlos Spoerhase / Dirk Werle. Wiesbaden 2009, S. 39–80. [Nachweis im GVK]

  • Carlos Spoerhase: Das Laboratorium der Philologie? Das philologische Seminar als Raum der Vermittlung von Praxiswissen (circa 1850-1900). [Nachweis im GVK] In: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Hg. von Andrea Albrecht / Lutz Danneberg / Olav Krämer / Carlos Spoerhase. Berlin u.a. 2015, S. 53–80. [Nachweis im GVK]

  • Philipp Schweighauser / Marion Regenscheit / Jelscha Schmid: Vom Close Reading zum Social Reading. Lesetechniken im Zeitalter des digitalen Texts. [online] In: Dichtung Digital 44 (2014). [online]

  • Friederike Schruhl: Quantifizieren in der Interpretationspraxis der Digital Humanities. In: Quantitative Ansätze in den Literatur- und Geisteswissenschaften. Systematische und historische Perspektiven. Hg. von Andrea Albrecht / Toni Bernhart / Sandra Richter / Marcus Willand. Berlin u.a. 2018, S. 235–267. [Nachweis im GVK]

  • Ted Underwood: A Genealogy of Distant Reading. [online] In: Digital Humanities Quarterly 11 (2017), H. 2. [online]

  • Thomas Weitin: Digitale Literaturwissenschaft. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), H. 4, S. 651–656. [Nachweis im GVK]

  • Thomas Weitin: Scalable Reading. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), H. 1, S. 1–6. [Nachweis im GVK]

  • Thomas Weitin / Thomas Gilli / Nico Kunkel: Auslegen und Ausrechnen. Zum Verhältnis hermeneutischer und quantitativer Verfahren in den Literaturwissenschaften. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 181 (2016), S. 103–115. [Nachweis im GVK]

  • Thomas Weitin / Katharina Herget: Falkentopics. Über einige Probleme beim Topic Modeling literarischer Texte. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), H. 1, S. 29–48. [Nachweis im GVK]

  • Dorothee Wieser: Interpretationskulturen. Überlegungen zum Verhältnis von theoretischen und praktischen Problemen in Literaturwissenschaft und Literaturunterricht. In: Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens. Hg. von Marie Lessing-Sattari / Maike Lohden / Almuth Meissner / Dorothee Wieser. Frankfurt/Main 2015, S. 39–60. [Nachweis im GVK]