Abstract
Die Frage nach dem Lehren und Lernen im digitalen Raum wurde von der Mediendidaktik in den vergangenen Jahren bereits ausführlich behandelt; digitale Methoden haben sich mittlerweile sowohl in der Forschung als auch im schulischen Umfeld mehr und mehr durchgesetzt. Dennoch wird den neu gewonnenen Erkenntnissen in der Theorie und Praxis der Vermittlung von Latein und Griechisch nach wie vor noch zu wenig Bedeutung zugemessen. Insbesondere das Gebiet der digitalen Lehr-/Lernressourcen bzw. der Open Educational Resources findet bisweilen eher wenig Beachtung in der Fachdidaktik der Klassischen Sprachen. Daher widmet sich dieser Beitrag, der Teil 1 einer interdisziplinär angelegten Untersuchung darstellt, diesem Medium zunächst von Seiten der Digital Humanities, um die technischen Spielräume digitaler Lehr-/Lernressourcen für die Anwendung im altsprachlichen Unterricht auszuloten, dabei unter anderem terminologisch-definitorische Fragestellungen in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, welche Konsequenzen technische Entscheidungen für den konkreten Unterrichtseinsatz haben können. Als Beispiel dafür dient die jüngst fertiggestellte digitale Fabel-Ausgabe ›Grazer Repositorium antiker Fabeln‹ (GRaF).- 1. Einleitung
- 2. Learning Management Systems und Open Educational Resources – ein Forschungsüberblick
- 3. Technische Chancen
- 3.1 Aufbau und Inhalte des GRaF-Portals
- 3.2 Das Single Source-Prinzip und die Trennung von Inhalt und Darstellung
- 3.3 Sowohl digitale als auch analoge Nutzung ist möglich
- 3.4 Freie Lizenzierung
- 4. (Noch) zu realisierende technische Potenziale
- 4.1 Interaktivität
- 4.2 Digitalität
- 5. Zusammenfassung
- Bibliografische Angaben
1. Einleitung
[1]Der vorliegende Beitrag[1] sieht sich als Schnittstelle zwischen drei Wissenschaftsdisziplinen, die in den letzten Jahren einen starken Aufschwung und ein erhöhtes öffentliches Interesse erlebten: Die Digital Humanities, die Mediendidaktik im Allgemeinen und die Fachdidaktik der Klassischen Sprachen im Speziellen.[2] Learning Management Systems[3] (LMS) und Open Educational Resources[4] (OER), denen die folgenden Ausführungen gewidmet sind, stellen per se Phänomene dar, die sinnvollerweise nur multiperspektivisch beschrieben werden können, bedingen sich hier doch die didaktischen und die technischen Konzepte gegenseitig. Die Perspektiven der sich auf diese beiden Bereiche beziehenden Disziplinen auf LMS und OER anhand eines anschaulichen Beispiels zu diskutieren, stellt das Ziel dieser in zwei Teilen angelegten Untersuchung dar. In den Blick nimmt sie dabei ein Projekt, das ebenfalls aus einer Synthese dieser beiden Sichtweisen entstanden ist: das Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF).[5] Im Rahmen dieses Projekts wurde in Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Antike (vormals Institut für Klassische Philologie) und dem Zentrum für Informationsmodellierung (ZIM) der Universität Graz ein Webportal entwickelt, das fachdidaktisch aufbereitete Lehr- und Lernmaterialien zur Lektüre der antiken Fabel zur Verfügung stellt und damit als didaktisierte digitale Edition bezeichnet werden kann. Das Repositorium wird über die GAMS-Infrastruktur[6] des Zentrums sowohl langfristig archiviert als auch öffentlich zugänglich gemacht und stellt eine repräsentative Menge antiker Fabeltexte in Latein und Altgriechisch zur Verfügung.[7] Durch seine spezifische Konzeption der digitalen Textaufbereitung und der daraus resultierenden technischen Implementation birgt das Webportal GRaF bereits umfassendes Potenzial für die Vermittlung der zur Verfügung gestellten Inhalte und weist gleichzeitig auf Potenziale für die zukünftige Weiterentwicklung dieser Art von Lehr-/Lernressourcen hin. Von der Perspektive der Digital Humanities ausgehend beleuchtet der vorliegende Beitrag diese bereits bestehenden oder noch zu verwirklichenden Potenziale und weist auf die Verbindungen und Konsequenzen hin, die Entscheidungen auf der Ebene der technischen bzw. digitalen Konzeption für die didaktische Umsetzung bzw. den konkreten Einsatz im Unterricht haben können. Als Beispiele werden hier einerseits die Langzeitarchiverung nach dem Single Source-Prinzip sowie dem Prinzip der Trennung von Inhalt und Darstellung diskutiert; andererseits spielen die Möglichkeit der Nutzung im Unterricht – sowohl im digitalen als auch analogen Medium – sowie im Sinne eines mixed methods-Ansatzes des blended learning eine Rolle. Dabei handelt es sich um Prinzipien, die mittlerweile zum Standard in den Digital Humanities gehören, die ihren Weg in die jeweiligen Communities jedoch noch nicht so weit gefunden haben, dass ihre Konsequenzen im fachdidaktischen Diskurs adäquat reflektiert würden. Ferner wird die freie Lizenzierung der bereits genannten Open Educational Resources als vorteilhaftes Spezifikum in der technischen Umsetzung des Webportals vorgestellt. Abschließend werden die Interaktivität und die Digitalität des Mediums - sowohl allgemein als auch in konkreten Unterrichtsszenarien - als Bereiche auf dem Gebiet der digitalen Lehr-/Lernressourcen diskutiert, die noch Potenzial für weitere Innovation bieten.
2. Learning Management Systems und Open Educational Resources – ein Forschungsüberblick
[2]Im Bereich der Mediendidaktik, die sich mit den Herausforderungen der Wissensvermittlung in einer digitalisierten Welt beschäftigt, nehmen LMS und OER mittlerweile einen sehr wichtigen Stellenwert ein.[8] Diesem Teilbereich der Didaktik ist es zu verdanken, dass bereits terminologische Grundlagen für die Beschreibung digitaler Lehr-/Lernressourcen existieren, die auf die entsprechenden Fachdidaktiken und mögliche Digital Humanities-Anwendungen übertragen werden können.[9] In der bisherigen Forschungsliteratur zum Thema wird ersichtlich, dass Forschungsbestrebungen zu digitalen Bildungsmedien und OER sowohl von einem theoretisch-analysierenden[10] als auch von einem einzelfall- bzw. projektbasierten[11] Zugang geprägt sind. Während das Thema im Bereich der Mediendidaktik also schon gut verankert ist, finden sich Übertragungen auf den Bereich der Fachdidaktik der Klassischen Sprachen lediglich in Ansätzen.
[3]Die altsprachlich-fachdidaktische Literatur seit 2000 verzeichnet zwar Veröffentlichungen, die sich dem Thema ›Digitalisierung in der Didaktik der klassischen Sprachen‹ verschreiben.[12] Technische Überlegungen werden dabei jedoch kaum angestellt, oder sie beziehen sich auf Inhalte, die mittlerweile bereits überholt sind.[13] Daneben finden Überlegungen zu Konzepten wie Digitale Lernplattform / Learning Management System beziehungsweise Open Educational Resources kaum Eingang in die entsprechende Literatur, um von den verschiedenen Formen digitaler Bildungsmedien zu sprechen; wenn solche Reflexionen angestellt werden, so geschieht dies hauptsächlich im Zuge von konkreten Projektvorstellungen.[14]
[4]Analysiert man die fachdidaktische Literatur zu digitalen Lehr-/Lernressourcen, so zeigt sich, dass ein Großteil als Sammlungen verschiedener Lehr- und Lernmaterialien in Form von Überblicksdarstellungen einzelner Tools, Linklisten oder Ähnlichem angelegt ist, deren praktischer Nutzen in ihrem Charakter als Nachschlagewerk begründet liegt. Sie ersetzt jedoch nicht die didaktische Reflexion über den Einsatz dieser Werkzeuge und Materialien. Wenn die Auseinandersetzung mit solchen Ressourcen für die Fachdidaktik zumeist praxisbezogen, die Reflexion im Bereich Mediendidaktik aber nur auf abstrakter Ebene stattfindet, entsteht so auf Dauer eine Kluft zwischen den theoriebezogenen Ansprüchen und dem Verständnis der konkreten Umsetzungsmöglichkeiten, die der digitale Raum anbietet. Damit werden einerseits teilweise vielversprechende Ideen vorgebracht, die sich aber in der Praxis nur schwer umsetzen lassen, andererseits bleiben digitale Potenziale unerschlossen, weil sie für Lehrende nicht intuitiv nachvollziehbar sind. Ein weiterer Punkt, der bei der Diskussion um digitale Bildungsressourcen für eine Verknüpfung des Wissens der einzelnen beteiligten Disziplinen hinderlich ist, betrifft die uneinheitliche Terminologie. In der fachdidaktischen Literatur haben vage Begriffsverwendungen zu uneinheitlichen Kategorien in der Kommunikation über digitale Bildungsressourcen geführt – dort ist etwa von »Computerprogramme[n]«[15], »Lern-Apps« bzw. »Vokabeltrainern«[16] oder »Lernsoftwares«[17] die Rede. Hinter diesen Begrifflichkeiten verbergen sich allerdings verschiedenste Ressourcen, die nicht immer mit den gewählten Bezeichnungen übereinstimmen und die in wissenschaftlicher wie didaktischer Qualität stark variieren.[18] Obwohl aus didaktischer Sicht eine Unterscheidung (z. B. nach Einsatzgebiet) für die schulische Alltagspraxis nachvollziehbar sein mag, scheint sie aus Sicht der Digital Humanities wenig praktikabel. Hier dürften die Überlegungen der Mediendidaktik, den Grad der freien Verfügbarkeit zur Kategorisierung heranzuziehen, erfolgversprechender sein, zumal dieser Ansatz schließlich auch der ständigen Ausdifferenzierung der verschiedenen Lehr-/Lernressourcen Rechnung trägt.
[5]Weitere Kommunikationsprobleme betreffen jedoch nicht nur die Bezeichnung der Ressourcen, vielmehr gehen Digital Humanities und die altsprachliche Fachdidaktik auch unterschiedliche Wege, was den konzeptuellen Blick auf den Untersuchungsgegenstand betrifft: Während für die Fachdidaktik zumeist die Art der Verfügbarkeit der Inhalte ausschlaggebend für die Frage ist, ob diese als digital oder analog bezeichnet werden, folgen die Digital Humanities vielmehr der Forderung, wonach die Speicherung der Daten sekundär gegenüber deren konzeptuellen Hintergründen zu sehen ist – man spricht also mitunter über verschiedene Dinge, wenn über Digitalität diskutiert wird.[19]
[6]Aus unserer Sicht ergäbe sich durch die Übernahme einer gemeinsamen Terminologie für die Fachdidaktik der Klassischen Sprachen die Möglichkeit, an einen interdisziplinären Diskurs zu digitalen Lehr-/Lernressourcen anzuknüpfen, ohne dabei jedoch die funktionale Ausrichtung der bisherigen Begriffsverwendung aufgeben zu müssen.
[7]In der dargelegten Zusammenschau zeigt sich also die Kluft, die zwischen den Ansätzen der Mediendidaktik und der Fachdidaktik in diesem Bereich besteht. Doch auch die Perspektive der Digitalen Geisteswissenschaften zeigt, dass bislang jede Disziplin nur einen recht einseitigen Blick auf das Thema wirft: Fachdidaktische Überlegungen können ohne die Einbeziehung technischer Aspekte, respektive der technischen Implementation, die ja einen nicht unbeträchtlichen Anteil ihrer Gesamtkonzeption ausmacht, digitale Lehr-/Lernressourcen nicht adäquat beschreiben und kategorisieren. Typischerweise werden die ›Neuen Medien‹ in bisherigen Betrachtungen der Fachdidaktik als sinnvolle Ergänzungen zum analogen Klassenraum genannt, wodurch ihre spezifischen, sich erst aus ihrer Digitalität ergebenden Potenziale leicht verkannt und einer Detailbetrachtung für nicht wert befunden werden. In Beiträgen mit eher technischem Fokus findet sich allerdings häufig das gegenteilige Problem – die didaktischen Beweggründe hinter der technischen Konzeption werden nicht offengelegt bzw. überhaupt nicht nachvollzogen, was im Ergebnis wiederum zu einer einseitigen Behandlung digitaler Lehr-/Lernressourcen führt und ihren Bezug auf die Unterrichtspraxis erschwert. Dies stellt auch einen Grund dafür dar, warum sich die vorliegende Untersuchung bewusst von beiden Disziplinen aus an das Medium der Lehr-/Lernressourcen annähert. Zunächst werden im Folgenden mögliche technische Spezifika solcher Ressourcen am Beispiel des ›Grazer Repositorium antiker Fabeln‹ umrissen.
3. Technische Chancen
3.1 Aufbau und Inhalte des GRaF-Portals
[8]Wie bereits erwähnt, wurde im Rahmen des Projekts GRaF in Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Antike und dem Zentrum für Informationsmodellierung (ZIM) der Universität Graz ein Webportal entwickelt, auf dem fachdidaktisch aufbereitete Ressourcen für die Lektüre antiker Fabeln zur Verfügung stehen. Die GAMS-Infrastruktur[20] des ZIM-ACDH dient gleichzeitig als Plattform für die Langzeitarchivierung und als Publikationsorgan des Repositoriums. Als Spielart einer genuinen Digitalen Edition[21] werden im GRaF-Webportal Lehr- und Lernmaterialien, die auf Basis antiker Fabeltexte erstellt wurden, zur Verfügung gestellt, aus denen Nutzende nach ihren Bedürfnissen auswählen können. Die Aufbereitung der einzelnen digitalen Objekte besteht jeweils aus dem Primärtext – d.h. dem lateinischen oder griechischen Text der Fabel –, zu dem entsprechende Angaben zu Grammatik, Vokabeln, und Sachwissen angezeigt werden können. Diese wurden von beteiligten Schulklassen in Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Fachkräften des Projekts im Sinne der Citizen Science[22] selektiert und ausgearbeitet. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, den Text mit Übersetzung, metrischer Aufschlüsselung und struktureller Gliederung anzuzeigen. In einem weiteren Reiter sind Aufgabenstellungen zur Interpretation der Texte dargestellt. Lösungsvorschläge können per Klick hinzugeschaltet werden. Schließlich haben Nutzende zusätzlich die Möglichkeit, sich jeden bearbeiteten Fabel-Text als Arbeitsblatt im PDF-Format ausgeben zu lassen – hier steht auch eine Version für Lehrende zum Download als PDF bereit, die bereits Lösungsvorschläge beinhaltet.
[9]Zusätzlich zu den Primärtexten, die mit Blick auf die Lernenden aufbereitet wurden, bietet GRaF ein wissenschaftliches Portal zur antiken Fabel mit einer Bibliografie zu Aesop, Phaedrus und der antiken Fabel im Allgemeinen sowie einführenden Artikeln zu Aesop[23], Avian[24], Babrios[25], Phaedrus[26], zur antiken Fabel im Allgemeinen[27], zur Metrik[28] und zur Textkritik[29]. Eine Sammlung an Vergleichstexten aus der antiken Literatur in Original und Übersetzung sowie ein Glossar relevanter antiker Autoren werden ebenfalls zu Verfügung gestellt, um eine Interpretation der Texte zu ermöglichen, die auf einer optimalen Wissensgrundlage fußt. Neben relevanten Metainformationen – etwa zur Beantwortung der Frage, welchen Modulen des aktuellen österreichischen Lehrplans ein jeweiliger Text zugeordnet werden kann – sind die Texte thematisch getaggt, sodass die Klassifizierung leicht auf Lehrpläne anderer Länder übertragen werden kann.
[10]Mit dem Ziel, eine möglichst umfassende wissenschaftliche Ressource für Lernende, Lehrende, Studierende und ein wissenschaftlich interessiertes Publikum bereitzustellen, bietet das Repositorium weitreichende Möglichkeiten zur Beschäftigung mit der antiken Fabel. Durch seine spezifische Konzeption der digitalen Textaufbereitung integriert das Webportal GRaF zahlreiche technische Features, von denen die folgenden hier diskutiert werden:
- Die Langzeitarchiverung nach dem Single Source-Prinzip sowie dem Prinzip der Trennung von Inhalt und Darstellung.
- Die Nutzung im Unterricht sowohl im digitalen als auch analogen Medium im Sinne eines mixed methods-Ansatzes des blended learning.
- Die freie Lizenzierung der bereits genannten Open Educational Resources (OER) als vorteilhaftes Spezifikum in der technischen Umsetzung des Webportals.
3.2 Das Single Source-Prinzip und die Trennung von Inhalt und
Darstellung
[11]Die Texte des Repositoriums werden nach dem Single Source-Prinzip[30] archiviert: In jedem Dokument, das im XML-Standard der Text Encoding Initiative (TEI) kodiert wurde, ist eine Fülle an Zusatz- und Metainformationen zum jeweiligen Text enthalten, die über die Kodierung der konkreten Textgestalt hinausgehen und so den Inhalt der Ressourcen und ihre Darstellung voneinander trennen.[31] Aus dieser Basisdatei können je nach Bedürfnissen der Nutzenden unterschiedliche Repräsentationen für die Webanzeige dynamisch generiert werden. Da die Daten offen und frei zugänglich sind (Open Source-Prinzip), besteht die Möglichkeit, den Quelltext herunterzuladen und ihn so mithilfe der Transformationssprache XSLT zur Generierung neuer Repräsentationen zu nutzen. Die Umsetzung nach dem Single Source-Prinzip bietet im Fall des GRaF-Webportals eine vorkonfigurierte Web-Repräsentation in HTML, die eine Reihe interaktiver Features beinhaltet, sowie zwei verschiedene Druckversionen im Ausgabeformat PDF, die mithilfe des Textsatzsystems LaTeX vom System dynamisch (›on-the-fly‹) auf Knopfdruck aus den zugrundeliegenden Daten generiert werden, wenn dieses Angebot in Anspruch genommen wird. Dieses Beispiel zeigt besonders deutlich, wie Entscheidungen auf der konzeptionellen Ebene Einfluss auf den Einsatz bzw. die Einsatzfähigkeit der Ressource haben. Im Falle von GRaF ermöglicht das Single Source-Prinzip etwa, die Quelldaten nach jedem beliebigen fachdidaktischen Paradigma aufbereitet darzustellen, ohne sie inhaltlich verändern zu müssen. Durch die Trennung von Inhalt und Darstellung wird mitunter die Kurzlebigkeit von Lehrplänen und didaktischen Paradigmen überwunden, die ansonsten nicht mit der Forderung nach der Stabilität der Daten, die zur Langzeitarchivierung notwendig ist, in Übereinstimmung zu bringen wäre. Hier können technische Möglichkeiten den didaktischen Bedürfnissen dienlich sein.
3.3 Sowohl digitale als auch analoge Nutzung ist möglich
[12]Mit der Option, Arbeitsblätter für den Ausdruck generieren zu lassen, bietet das Webportal die Möglichkeit, entweder gänzlich digital, gänzlich analog oder aber im Sinne eines mixed methods-Ansatzes (blended learning)[32] verwendet zu werden. In Schulklassen, in denen keine ausreichende technische Infrastruktur zur Verfügung steht, um das Webportal mit der gesamten Klasse gemeinsam im Unterricht zu nutzen, könnten Lernende beispielsweise beauftragt werden, die Webversion zuhause zu verwenden. Der auf dieser Arbeit aufbauende Unterricht könnte anschließend auf Grundlage der bereits erwähnten generierten Arbeitsblätter gestaltet werden. Auch eine Nutzung auf mobilen Geräten, wie etwa den Smartphones der Lernenden oder schuleigenen Tablets, wäre denkbar. Die technische Umsetzung des Webportals mithilfe eines Bootstrap-basierten Templates[33] erlaubt es GRaF, responsive Seiten anzubieten, die auf allen Arten von mobilen und nicht-mobilen Endgeräten gleichermaßen nutzbar sind.[34] Arbeiten im Computerraum ist hier also keinesfalls conditio sine qua non. Dies erleichtert die Anwendbarkeit im Unterrichtsalltag ungemein.
3.4 Freie Lizenzierung
[13]Im Gegensatz zu einem ›klassischen‹ durch einen Verlag proprietär und entgeltlich vertriebenen, analogen Schulbuch handelt es sich bei GRaF um eine Freie Bildungsressource (OER).[35] Dies ergibt sich durch die Lizenzierung nach einer Creative Commons CC-BY-Lizenz.[36] Der Quelltext sowohl der TEI/XML-Daten als auch der XSLT-Transformationsstylesheets, mit deren Hilfe die Daten in ihre unterschiedlichen Transformationen übersetzt werden, sind als open source zugänglich sowie frei nutz- und nachnutzbar. Der Zugang zum Portal ist unentgeltlich. Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als die Erlaubnis zur Nachnutzung bei vielen anderen didaktischen Materialien aus dem Internet rechtlich nicht einwandfrei geklärt ist.[37] Rhoads, Berdan und Toven-Lindsey bemängeln etwa, dass viele Unterrichtsmaterialien nur in einem read only mode zur Verfügung stehen: Lehrende sind zur kreativen Weiterverarbeitung nicht berechtigt.[38] Dass viele, auch online zur Verfügung gestellte Bildungsressourcen von der Weiterverarbeitung ausgeschlossen sind, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sie auf einem nach wie vor am analogen Druckparadigma orientierten Wissensmodell basieren, das Wissen als ›proprietär‹ im Sinne von ›Verlagen und Urhebern‹ definiert. Aus didaktischer Sicht ist dies insofern problematisch, als damit die Nutzbarkeit im Rahmen eines streng vorgegebenen Lehrplans, auf den die online zur Verfügung gestellten Materialien zur sinnvollen Unterrichtsvorbereitung erst angepasst werden müssten, stark eingeschränkt wird. In einem solchen Fall kann also der Schutz des geistigen Eigentums einem optimalen didaktischen Einsatz des Materials im Weg stehen. Die OER-Bewegung, der sich auch GRaF verschreibt, legt ihren Forderungen einen anderen Wissensbegriff zugrunde – sie verlangt ausdrücklich nach Offenheit und strebt damit eine ›Demokratisierung des Wissens‹ an.[39] Die freie Lizenzierung des Portals ermöglicht eine sinnvolle didaktische Nachnutzung und hat zudem den Vorteil, dass weder Schulen noch Lernende bzw. Lehrende finanzielle Mittel aufwenden müssen, um von der digitalen Ressource profitieren zu können.
[14]Auch hier zeigt sich also, dass die Strategien, die auf konzeptioneller Ebene getroffen wurden, einen direkten Einfluss auf die didaktische Anwendbarkeit der Ressource haben – durch eine freie Lizenzierung und die Möglichkeit, gewisse Inhalte auch analog zu nutzen, passt sich GRaF an unterschiedliche Lehr-/Lernsettings an, wobei weder finanzielle Ressourcen noch die benötigte Infrastruktur (mehr dazu im folgenden Kapitel) ausschlaggebend für eine Nutzung der Inhalte sind.
4. (Noch) zu realisierende technische Potenziale
[15]Neben den großen technischen Vorteilen, die ein digitales Webportal bietet, das eher der üblichen Umsetzung einer Digitalen Edition folgt als jener eines Content Management Systems, stößt dieses Medium natürlich auch an seine Grenzen, die wiederum Potenzial für Innovation in sich bergen. In diesem Zusammenhang soll im Speziellen auf die Frage der Interaktivität und die potenziell einschränkenden Spezifika von Digitalität im konkreten Unterrichtssetting eingegangen werden.
4.1 Interaktivität
[16]Zunächst ist bei der Diskussion des interaktiven Charakters des Webportals vorauszuschicken, dass hier vom digital-technischen Aspekt der Interaktivität die Rede ist. Diese unterscheidet sich vom Interaktivitätsbegriff der Didaktik insofern, als damit weniger die interaktive Auseinandersetzung von Nutzenden miteinander und mit der Ressource gemeint ist. Vielmehr bezieht sich Interaktivität nach Verständnis der Digital Humanities auf die Konzeption, Gestaltung und technische Implementierung der Ressource, die den interaktiven Umgang durch Nutzende überhaupt erst ermöglicht, von diesem jedoch nicht abhängig ist – eine Ressource kann interaktiv angelegt sein und so die Möglichkeit zur Interaktion bieten, ohne dass sie notwendigerweise so genutzt wird.
[17]Um in Hinblick auf Fragen der Langzeitarchivierung dem aktuellen wissenschaftlichen Standard zu entsprechen, wurde im Falle des Webportals GRaF bewusst die Entscheidung getroffen, das Repositorium nicht um eine interaktive Komponente im eigentlichen Sinne zu erweitern. Basisdaten nach dem Single Source-Prinzip unter Erhaltung aller Funktionalitäten langfristig zu archivieren, stellt bereits eine beträchtliche Herausforderung dar; die Langzeitarchivierung einer interaktiven Plattform würde ferner aber auch die Forderung nach dauerhafter Erhaltung solcher interaktiver Funktionalitäten bedeuten. Damit eine derartige Ressource aufgrund des rasanten technischen Wandels nicht bereits in naher Zukunft als bloße Ruine an ihre ursprüngliche Funktion und Funktionalität erinnert, würde eine durchgehende Aufwendung von Mitteln für deren Instandhaltung benötigt. Schließlich muss damit gerechnet werden, dass es einige Zeit dauert, bis sich eine derartige Plattform überhaupt in der schulischen Alltagspraxis durchgesetzt hat. Diese Erhaltung ist im Fall von GRaF über die Projektlaufzeit hinaus, die der Erstellung des Repositoriums und des Webportals diente, nicht gegeben, weshalb die eigentliche ›Nutzungszeit‹ des Portals erst nach dem Ende des Projekts – und damit auch seiner Finanzierung – beginnen kann. Der Forderung nach durchgehender Betreuung hinsichtlich der Usability wird wohl in den allerwenigsten digitalen Projekten dieser Art auf lange Sicht nachzukommen sein.
[18]Dieses Problem stellt die auffälligste technische Begrenzung der Möglichkeiten digitaler fachdidaktischer Ressourcen dar, woraus sich die Frage ergibt, ob nicht in vielen Fällen gerade aus diesem Grund auf ›Interaktivität‹ im eigentlichen Sinne verzichtet werden sollte, es sei denn, das didaktische Konzept setzt diese explizit voraus. Hier zeigt sich auch, dass eine interaktive Plattform deutlich kostenintensiver und damit viel eher gefährdet ist, der Forderung nach interaktiven freien Ressourcen auf Dauer nicht entsprechen zu können. Eine kostspielige dauerhafte Erhaltung könnte womöglich Nutzungsgebühren erfordern, die dem Prinzip der OER zuwiderlaufen würde. Im Sinne des Open Source- sowie des Open Access-Prinzips wurde die beschriebene Interaktivität daher im Falle von GRaF weder in der Konzeption noch der Umsetzung angestrebt. Für Projekte, die eine derartige oder ähnliche Funktionalitäten andenken, empfiehlt es sich jedoch, entsprechende Fragen bereits in ihrer Konzeptionsphase zu klären und die Konsequenzen zu berücksichtigen.
[19]Eine solche konzeptionelle Ausrichtung wirkt sich auf den Einsatz im Unterricht insofern aus, als dadurch eine primär angeleitete Nutzung den pädagogisch besten Erfolg erzielen dürfte; allerdings verfolgt das Webportal als didaktisierte digitale Edition auch nicht das Ziel, so responsiv zu reagieren, dass Schülerinnen und Schüler dieses gänzlich ohne Unterstützung der Lehrperson nutzen können. In jedem Fall ermöglicht GRaF, verglichen mit einem traditionellen analogen Schulbuch, ein in vielen Bereichen individuelleres Nutzungserlebnis.
4.2 Digitalität
[20]GRaF versteht sich als ein digitales Webportal, das als born digital-Ressource auch konzeptuell als genuin digital angedacht wurde. Dieser größte Vorteil des Projekts stellt allerdings auch seine deutlichste Einschränkung dar, wenn die Ressource für den analogen Raum des Klassenzimmers nutzbar gemacht werden soll. Wie bereits erwähnt, ist es möglich, analoge Outputs aus dem Webportal zu generieren, die somit auch in Schulen ohne entsprechende mediale Ausstattung Anwendung finden können.
[21]GRaF ist jedoch eine an den Lernenden orientierte, genuin digitale Edition[40], weil das Portal nicht nur im digitalen Medium existiert, sondern damit auch über Möglichkeiten verfügt, die im Analogen nicht wiedergegeben werden können. Dies stellt auch ein notwendiges Kriterium in der Definition einer Digitalen Edition nach Patrick Sahle dar:
[22]»It can be said that digital editions follow a digital paradigm, just as printed editions have been following a paradigm that was shaped by the technical limitations and cultural practices of typography and book printing. With the mere digitisation of printed material, the implications of a truly digital paradigm cannot be realised. [...] A digital edition cannot be given in print without significant loss of content and functionality.«[41]
[23]So zählt im Fall des Webportals GRaF die Möglichkeit, Inhalte mithilfe einer JavaScript-Funktion selektiv und dynamisch hinzu- oder wegzuschalten, zu den essentiellen Charakteristika des Materialangebots. Diese Funktionalität, die einen der Hauptvorteile des Portals darstellt, geht bei einer analogen Umsetzung verloren – eine uneingeschränkte Nutzung der Inhalte unabhängig vom digitalen Paradigma ist nicht möglich. Die Digitalität von GRaF bedeutet allerdings auch, dass zunächst die ausreichende technische Infrastruktur an Schulen vorhanden sein muss, um das Webportal im Unterricht effektiv zu verwenden – obwohl bei der Wahl des Endgerätes große Freiheiten gegeben werden. Die Möglichkeit, Arbeitsblätter zu generieren, stellt zwar einen ›Brückenschlag ins Analoge‹ dar, führt jedoch zum Verlust der spezifischen Chancen, die die Digitale Edition bietet.
[24]Dieses Beispiel illustriert schließlich, dass die verschiedenen Qualitäten, die das Webportal auf der Ebene der digitalen Konzeption und der daraus folgenden didaktisch-anwendungsorientierten Ebene auszeichnen, einander zum Teil auch zuwiderlaufen: Während die Digitalität auf der einen Seite neue Potenziale für den schulischen Einsatz mit sich bringt, steht sie aufgrund der dafür benötigten Ressourcen nicht mehr allen uneingeschränkt offen; um für alle Nutzenden eine größtmögliche Verfügbarkeit zu ermöglichen, müssen jedoch mitunter die digitalen Spezifika geopfert werden, was den Funktionsumfang und damit die volle Einsatzfähigkeit der Ressourcen einschränkt. Gerade für den praktischen Einsatz im Unterricht scheint für die Lehrperson daher eine Reflexion darüber unumgänglich, welche Parameter sie für die jeweilige Situation und Lernendengruppe setzen möchte und welche Einschränkungen sie mitunter in Kauf nehmen muss, um die Ressource für ihre Zwecke erfolgreich einzusetzen.
5. Zusammenfassung
[25]GRaF als Ressource überzeugt in seiner technischen Umsetzung erstens durch eine in der Datenstruktur begründete hohe Qualität des Materials für die Langzeitarchivierung im Gegensatz zu klassischen Print-Schulbüchern; zweitens durch die Möglichkeit der Nutzung im Sinne des blended learning-Ansatzes sowie drittens durch die freie Lizenzierung als Open Educational Resource. Einschränkungen und mögliche (noch) zu realisierende Potenziale des Webportals betreffen auf technischer Seite dessen Interaktivität im Vergleich zu einem vollständigen Learning Management System sowie dessen digitale Natur, die zwar einerseits Funktionalitäten abseits des analogen Paradigmas bietet, jedoch das Vorhandensein einer digitalen Infrastruktur in Lernsettings erfordert und damit die Überführung digitaler Repräsentationen auf eine analoge Nutzung nur eingeschränkt möglich macht.
[26]Es stellt sich schließlich die Frage, inwiefern GRaF den zu Beginn eingeführten Kriterien von Learning Management Systems sowie von Open Educational Resources entspricht. Eine vollständige Antwort kann erst gegeben werden, wenn man die didaktischen Aspekte mit einbezieht, die im zweiten Teil dieser Untersuchung dargelegt werden. Es sei jedoch bereits darauf hingewiesen, dass sich die Funktionen von GRaF mit den Kriterien dieser beiden digitalen Lehr-/Lernformen in bestimmten Bereichen decken, in anderen wiederum Unterschiede aufweisen. Technische Gemeinsamkeiten zwischen GRaF und Learning Management Systems umfassen etwa die digitale Bereitstellung und Organisation von Bildungsressourcen sowie deren Anreicherung mit didaktischen Metainformationen. Im Fall der Open Educational Resources sind als Gemeinsamkeiten etwa die freie Lizenzierung und die damit verbundene freie Modifizier-, Anwend- und Reproduzierbarkeit zu nennen. Es bleibt jedoch fraglich, ob eine Plattform im Schulunterricht wirklich als ›freie Lernressource‹ gelten kann, wenn sie ein digitalisiertes Klassenzimmer erfordert, solange dieses in der Realität des Schulalltags eine gar nicht unbedingt so frei verfügbare Ressource darstellt. In jedem Fall hoffen wir gezeigt zu haben, dass die technischen und konzeptionellen Überlegungen und Vorgaben der Digital Humanities, die oft am Beginn derartiger Projekte stehen, direkten Einfluss auf die didaktische Nutzbarkeit und die möglichen Einsatzbereiche der Ressourcen haben. Diese gilt es von Beginn an zu bedenken, um eine möglichst große Passung zwischen der didaktischen Ressource und der anvisierten Zielgruppe zu erreichen.
[27] Die Tatsache, dass sich am Beispiel von GRaF diese und viele andere Fragen überhaupt erst stellen, weist darauf hin, dass das Projekt – und derartige Ressourcen im Allgemeinen – an einem neuralgischen Punkt angesiedelt sind. Sowohl die (in diesem Fall altsprachliche) Didaktik als auch die Digital Humanities werden so vor neue Herausforderungen gestellt, was jedoch schlussendlich auch darauf hinweist, dass ein solches Projekt als Ausgangspunkt für Innovation in beiden Disziplinen gesehen werden kann.