Abstract
Die Frage nach dem Lehren und Lernen im digitalen Raum wurde von der Mediendidaktik in den vergangenen Jahren bereits ausführlich behandelt; digitale Methoden haben sich mittlerweile sowohl in der Forschung als auch im schulischen Umfeld mehr und mehr durchgesetzt. Dennoch wird den neu gewonnenen Erkenntnissen in der Theorie und Praxis der Vermittlung von Latein und Griechisch nach wie vor noch zu wenig Bedeutung zugemessen. Insbesondere das Gebiet der digitalen Lehr-/Lernressourcen bzw. der Open Educational Resources findet bisweilen eher wenig Beachtung in der Fachdidaktik der Klassischen Sprachen. Daher widmet sich dieser Beitrag, der Teil 1 einer interdisziplinär angelegten Untersuchung darstellt, diesem Medium zunächst von Seiten der Digital Humanities, um die technischen Spielräume digitaler Lehr-/Lernressourcen für die Anwendung im altsprachlichen Unterricht auszuloten und dabei insbesondere terminologisch-definitorische Fragestellungen in den Blick zu nehmen. Als Beispiel dafür dient die jüngst fertiggestellte digitale Fabel-Ausgabe ›Grazer Repositorium antiker Fabeln‹ (GRaF).- 1. Einleitung
- 2. Learning Management Systems und Open Educational Resources – ein Forschungsüberblick
- 3. Technische Chancen
- 3.1 Das Single Source-Prinzip und die Trennung von Inhalt und Darstellung
- 3.2 Sowohl digitale als auch analoge Nutzung ist möglich
- 3.3 Freie Lizenzierung
- 4. (Noch) zu realisierende technische Potentiale
- 4.1 Interaktivität
- 4.2 Digitalität
- 5. Zusammenfassung
- Bibliografische Angaben
1. Einleitung
[1]Der vorliegende Beitrag[1] sieht sich als Schnittstelle zwischen drei Wissenschaftsdisziplinen, die in den letzten Jahren einen starken Aufschwung und ein erhöhtes öffentliches Interesse erlebten: Die Digital Humanities einerseits, die Mediendidaktik im Allgemeinen und die Fachdidaktik der Klassischen Sprachen im Speziellen andererseits. Learning Management Systems[2] (LMS) und Open Educational Resources[3] (OER), denen die folgenden Ausführungen gewidmet sind, stellen per se Phänomene dar, die sinnvollerweise nur multiperspektivisch beschrieben werden können, bedingen sich hier doch die didaktischen und die technischen Konzepte gegenseitig. Diese Perspektiven auf LMS und OER darzulegen, stellt das Ziel der in zwei Teilen angelegten Untersuchung dar.
[2]In den Blick nimmt sie dabei ein Projekt, das ebenfalls aus einer Synthese beider Sichtweisen entstanden ist: das Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF).[4] Im Rahmen dieses Projekts wurde in Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Antike (vormals Institut für Klassische Philologie) und dem Zentrum für Informationsmodellierung (ZIM) der Universität Graz ein Webportal entwickelt, auf dem fachdidaktisch aufbereitete Lehr- und Lernmaterialien zur antiken Fabel zur Verfügung stehen. Das Repositorium wird über die GAMS-Infrastruktur[5] des Zentrums sowohl langfristig archiviert als auch öffentlich zugänglich gemacht und stellt eine repräsentative Menge antiker Fabeltexte in Latein und Altgriechisch zu Verfügung.[6] Durch seine spezifische Konzeption der digitalen Textaufbereitung und der daraus resultierenden technischen Implementation birgt das Webportal GRaF umfassendes Potential für die Vermittlung der zur Verfügung gestellten Inhalte. Als Beispiele sollen hier einerseits die Langzeitarchiverung nach dem Single Source-Prinzip sowie dem Prinzip der Trennung von Inhalt und Darstellung diskutiert werden. Andererseits spielen die Möglichkeit der Nutzung im Unterricht – sowohl im digitalen als auch analogen Medium – sowie im Sinne eines mixed methods-Ansatzes des blended learning eine Rolle. Dabei handelt es sich um Prinzipien, die mittlerweile zum Standard in den Digital Humanities gehören, die ihren Weg in die jeweiligen Communities jedoch noch nicht so weit gefunden haben, dass ihre Konsequenzen im fachdidaktischen Diskurs adäquat reflektiert würden. Ferner wird die freie Lizenzierung der bereits genannten Open Educational Resources als vorteilhaftes Spezifikum in der technischen Umsetzung des Webportals vorgestellt. Die Interaktivität und die Digitalität des Mediums in konkreten Unterrichtsszenarien werden schließlich als noch zu verwirklichende Potentiale diskutiert.
2. Learning Management Systems und Open Educational Resources – ein Forschungsüberblick
[3]Im Bereich der Mediendidaktik, die sich mit den Herausforderungen der Wissensvermittlung in einer digitalisierten Welt beschäftigt, nehmen LMS und OER mittlerweile einen sehr wichtigen Stellenwert ein.[7] Diesem Teilbereich der Didaktik ist es zu verdanken, dass bereits terminologische Grundlagen für die Beschreibung digitaler Lehr-/Lernressourcen existieren, die auf die entsprechenden Fachdidaktiken und mögliche Digital Humanities-Anwendungen übertragen werden können.[8] In der bisherigen Forschungsliteratur zum Thema wird ersichtlich, dass Forschungsbestrebungen zu digitalen Bildungsmedien und OER sowohl von einem theoretisch-analysierenden[9] als auch von einem einzelfall- bzw. projektbasierten[10] Zugang geprägt sind. Während das Thema im Bereich der Mediendidaktik also schon gut verankert ist, finden sich Parallelen im Bereich der Fachdidaktik der Klassischen Sprachen lediglich in Ansätzen.
[4]Die altsprachlich-fachdidaktische Literatur seit 2000 verzeichnet zwar Veröffentlichungen, die sich dem Thema ›Digitalisierung in der Didaktik der klassischen Sprachen‹ verschreiben.[11] Technische Überlegungen werden dabei jedoch kaum angestellt, oder sie beziehen sich auf Inhalte, die mittlerweile bereits überholt sind.[12] Daneben finden theoretische Überlegungen zu Konzepten wie Digitale Lernplattform/Learning Management System beziehungsweise Open Educational Resources erst langsam Eingang in die entsprechende Literatur, um im Kontext altsprachlicher Fachdidaktik von den verschiedenen Formen digitaler Bildungsmedien zu sprechen.[13]
[5]Analysiert man die fachdidaktische Literatur zu digitalen Lehr-/Lernressourcen, so zeigt sich zum einen, dass ein Großteil als Sammlungen verschiedener Lehr- und Lernmaterialien in Form von Überblicksdarstellungen einzelner Tools, Linklisten oder Ähnlichem angelegt ist, deren praktischer Nutzen in ihrem Charakter als Nachschlagewerk begründet liegt. Sie ersetzt jedoch eine didaktische Herangehensweise, die den Einsatz der entsprechenden Werkzeuge und Materialien an sich reflektiert, freilich nicht. Wenn die Auseinandersetzung mit solchen Ressourcen für die Fachdidaktik zumeist praxisbezogen, die Reflexion wiederum aber nur auf abstrakter Ebene stattfindet, entsteht so auf Dauer eine Kluft zwischen den theoriebezogenen Ansprüchen und dem Verständnis der konkreten Umsetzungsmöglichkeiten, die der digitale Raum anbietet. Dadurch werden einerseits teilweise nur schwer umsetzbare Vorstellungen als Hoffnungen in den digitalen Raum projiziert und andererseits bleiben gewisse Potentiale des Digitalen für die Fachdidaktik verschlossen, da die Intentionen mancher technischen Entscheidungen für die Lehrenden nicht immer nachvollziehbar sind. Hinzu kommt zum anderen der Umstand, dass vage Begriffsverwendungen in der fachdidaktischen Literatur zu uneinheitlichen Terminologien in der Kommunikation über digitale Bildungsressourcen geführt haben – dort ist etwa von »Computerprogramme[n]«[14], »Lern-Apps« bzw. »Vokabeltrainern«[15] oder »Lernsoftwares«[16] die Rede. Hinter diesen Begrifflichkeiten verbergen sich allerdings verschiedenste Ressourcen, die nicht immer mit den gewählten Bezeichnungen übereinstimmen und die in wissenschaftlicher wie didaktischer Qualität stark variieren.[17] Obwohl aus didaktischer Sicht die Unterscheidung der Trägersysteme für die schulische Alltagspraxis sinnvoll sein mag, scheint sie aus Sicht der Digital Humanities wenig praktikabel. Hier tendieren die Überlegungen der Mediendidaktik beispielsweise dazu, den Grad der freien Verfügbarkeit zur Kategorisierung heranzuziehen.
[6]In der dargelegten Zusammenschau zeigt sich also die Kluft, die zwischen den Ansätzen der Mediendidaktik und der Fachdidaktik in diesem Bereich besteht. Doch auch die Perspektive der Digitalen Geisteswissenschaften zeigt, dass bislang jede Disziplin nur einen recht einseitigen Blick auf das Thema wirft: Fachdidaktische Überlegungen können ohne die Einbeziehung technischer Aspekte, respektive der technischen Implementation, die ja einen nicht unbeträchtlichen Anteil ihrer Gesamtkonzeption ausmacht, digitale Lehr-/Lernressourcen nicht adäquat beschreiben und kategorisieren. Typischerweise werden die ›Neuen Medien‹ in bisherigen Betrachtungen der Fachdidaktik als sinnvolle Ergänzungen zum analogen Klassenraum genannt, wodurch sie implizit jedoch in ihrer Digitalität und ihrer Bedeutung für den Unterricht herabgesetzt und einer Detailbetrachtung für nicht wert befunden werden. In Beiträgen mit eher technischem Fokus findet sich allerdings häufig das gegenteilige Problem – die didaktischen Beweggründe hinter der technischen Konzeption werden nicht offengelegt bzw. überhaupt nicht nachvollzogen, was im Endergebnis wiederum zu einer einseitigen Behandlung digitaler Lehr-/Lernressourcen führt. Dies stellt mitunter auch einen Grund dafür dar, dass sich die vorliegende Untersuchung bewusst von beiden Disziplinen aus an das Medium der Lehr-/Lernressourcen annähert. Zunächst werden im Folgenden mögliche technische Spezifika solcher Ressourcen am Beispiel des ›Grazer Repositorium antiker Fabeln‹ umrissen.
3. Technische Chancen
[7]Wie bereits erwähnt, wurde im Rahmen des Projekts GRaF in Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Antike (vormals Institut für Klassische Philologie) und dem Zentrum für Informationsmodellierung (ZIM) der Universität Graz ein Webportal entwickelt, auf dem fachdidaktisch aufbereitete Fabelressourcen zur Verfügung stehen. Das Repositorium wird über die GAMS-Infrastruktur[18] des Zentrums sowohl langfristig archiviert als auch öffentlich zugänglich gemacht. Es stellt Lehr- und Lernmaterialien auf Basis antiker Fabeltexte in lateinischer und griechischer Sprache zur Verfügung, aus denen Nutzende nach ihren Bedürfnissen auswählen können. Die Aufbereitung der einzelnen digitalen Objekte besteht jeweils aus dem Primärtext, zu dem entsprechende Angaben zu Grammatik, Vokabeln, und Sachwissen angezeigt werden können. Diese wurden von beteiligten Schulklassen in Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Fachkräften des Projekts im Sinne der Citizen Science selektiert und ausgearbeitet. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, den Text mit Übersetzung, metrischer Aufschlüsselung und struktureller Gliederung anzuzeigen. In einem weiteren Reiter sind Aufgabenstellungen zur Interpretation der Texte dargestellt. Lösungsvorschläge können per Klick hinzugeschaltet werden. Schließlich haben Nutzende zusätzlich die Möglichkeit, sich jeden bearbeiteten Fabel-Text als Arbeitsblatt im PDF-Format ausgeben zu lassen – hier steht auch eine Version für Lehrende zum Download als PDF bereit, die bereits Lösungsvorschläge beinhaltet.
[8]Zusätzlich zu den Primärtexten, die mit Blick auf die Lernenden aufbereitet wurden, bietet GRaF ein wissenschaftliches Portal zur antiken Fabel mit einer Bibliographie zu Aesop, Phaedrus und der Fabel im Allgemeinen sowie einführenden Artikeln zu Aesop[19], Avian[20], Babrios [21], Phaedrus[22], zur Fabel im Allgemeinen[23], zur Metrik der antiken Fabel[24] und zur Textkritik in der Fabelforschung[25]. Eine Sammlung an Vergleichstexten aus der antiken Literatur in Original und Übersetzung sowie ein Glossar relevanter antiker Autoren werden ebenfalls zu Verfügung gestellt, um eine Interpretation der Texte zu ermöglichen, die auf einer optimalen Wissensgrundlage fußt. Neben relevanten Metainformationen – etwa zur Beantwortung der Frage, welchen Modulen des aktuellen österreichischen Lehrplans ein jeweiliger Text zugeordnet werden kann – sind die Texte thematisch getaggt, sodass die Klassifizierung leicht auf Lehrpläne anderer Länder übertragen werden kann.
[9]Mit dem Ziel, eine möglichst umfassende wissenschaftliche Ressource für Lernende, Lehrende, Studierende und ein wissenschaftlich interessiertes Publikum gleichermaßen bereitzustellen, bietet das Repositorium weitreichende Möglichkeiten zur Beschäftigung mit der antiken Fabel. Durch seine spezifische Konzeption der digitalen Textaufbereitung bringt das Webportal GRaF zahlreiche technische Features, von denen die folgenden hier diskutiert werden:
- Die Langzeitarchiverung nach dem Single Source-Prinzip sowie dem Prinzip der Trennung von Inhalt und Darstellung.
- Die Nutzung im Unterricht sowohl im digitalen als auch analogen Medium im Sinne eines mixed methods-Ansatzes des blended learning.
- Die freie Lizenzierung der bereits genannten Open Educational Resources (OER) als vorteilhaftes Spezifikum in der technischen Umsetzung des Webportals.
3.1 Das Single Source-Prinzip und die Trennung von Inhalt und
Darstellung
[10]Die Texte des Repositoriums werden nach dem Single Source-Prinzip[26] archiviert: In jedem Dokument, das im XML-Standard der Text Encoding Initiative (TEI) kodiert wurde, ist eine Fülle an Zusatz- und Metainformationen zum jeweiligen Text enthalten, die über die Kodierung der konkreten Textgestalt hinausgehen und so den Inhalt der Ressourcen und ihre Darstellung voneinander trennen.[27] Aus dieser Basisdatei können je nach Bedürfnissen der Nutzenden unterschiedliche Repräsentationen für die Webanzeige dynamisch generiert werden. Da die Daten offen und frei zugänglich sind (Open Source-Prinzip), besteht die Möglichkeit, den Quelltext herunterzuladen und ihn so mithilfe der Transformationssprache XSLT zur Generierung neuer Repräsentationen zu nutzen. Dies würde beispielsweise ermöglichen, die Quelldaten nach jedem beliebigen fachdidaktischen Paradigma aufbereitet darzustellen. Durch dieses Prinzip der Trennung von Inhalt und Darstellung wird die Kurzlebigkeit von Lehrplänen und didaktischen Paradigmen überwunden, die ansonsten nicht mit der Forderung nach der Stabilität der Daten, die zur Langzeitarchivierung notwendig ist, in Übereinstimmung zu bringen wäre. Hier können technische Möglichkeiten den didaktischen Bedürfnissen dienlich sein, was aufzeigt, dass eine tiefergehende Kooperation zwischen den Digital Humanities und den Fachdidaktiken zukunftsträchtig sein kann.
[11]Die Umsetzung nach dem Single Source-Prinzip bietet im Fall des GRaF-Webportals eine vorkonfigurierte Web-Repräsentation in HTML, die eine Reihe interaktiver Features beinhaltet, sowie zwei verschiedene Druckversionen im Ausgabeformat PDF, die mithilfe des Textsatzsystems LaTeX vom System dynamisch (›on-the-fly‹) auf Knopfdruck aus den zugrundeliegenden Daten generiert werden, wenn dieses Angebot in Anspruch genommen wird.
3.2 Sowohl digitale als auch analoge Nutzung ist möglich
[12]Mit der Option, Arbeitsblätter für den Ausdruck generieren zu lassen, bietet das Webportal die Möglichkeit, entweder gänzlich digital, gänzlich analog oder aber im Sinne eines mixed methods-Ansatzes (blended learning) verwendet zu werden. In Schulklassen, in denen keine ausreichende technische Infrastruktur zur Verfügung steht, um das Webportal mit der gesamten Klasse gemeinsam im Unterricht zu nutzen, könnten Lernende beispielsweise beauftragt werden, die Webversion zuhause zu verwenden. Der auf dieser Arbeit aufbauende Unterricht könnte anschließend auf Grundlage der bereits erwähnten generierten Arbeitsblätter gestaltet werden. Auch eine Nutzung auf mobilen Geräten, wie etwa den Smartphones der Lernenden oder schuleigenen Tablets, wäre denkbar. Die technische Umsetzung des Webportals mithilfe eines Bootstrap-basierten Templates erlaubt es GRaF, responsive Seiten anzubieten, die auf allen Arten von mobilen und nicht-mobilen Endgeräten gleichermaßen nutzbar sind.[28] Arbeiten im Computerraum ist hier also keinesfalls conditio sine qua non. Dies erleichtert die Anwendbarkeit im Unterrichtsalltag ungemein.
3.3 Freie Lizenzierung
[13]Im Gegensatz zu einem ›klassischen‹ durch einen Vertrag proprietär und entgeltlich vertriebenen, analogen Schulbuch handelt es sich bei GRaF um eine Freie Bildungsressource (OER).[29] Dies ergibt sich durch die Lizenzierung nach einer Creative Commons CC-BY-Lizenz.[30] Der Quelltext sowohl der TEI/XML-Daten als auch der XSLT-Transformationsstylesheets, mit deren Hilfe die Daten in ihre unterschiedlichen Transformationen übersetzt werden, sind als open source zugänglich sowie frei nutz- und nachnutzbar. Der Zugang zum Portal ist unentgeltlich. Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als die Erlaubnis zur Nachnutzung bei vielen anderen didaktischen Materialien aus dem Internet rechtlich nicht einwandfrei geklärt ist.[31] Rhoads, Berdan und Toven-Lindsey bemängeln etwa, dass viele Unterrichtsmaterialien nur in einem read only mode zur Verfügung stehen: Lehrende sind zur kreativen Weiterverarbeitung im Grunde nicht berechtigt.[32] Dies ist Zeugnis dafür, dass Wissen in Buchform nach traditioneller Definition ›proprietär‹ von Verlagen und Urhebern besessen wird. Die Forderung der OER-Bewegung steht in direktem Gegensatz dazu – sie verlangt ausdrücklich nach Offenheit von Wissen und strebt damit eine gewisse ›Demokratisierung des Wissens‹ an.[33] Dass viele klassische Bildungsressourcen von der kreativen Weiterverarbeitung ausgeschlossen sind, ist problematisch, weil damit die Nutzbarkeit im Rahmen eines streng vorgegebenen Lehrplans, auf den die online zur Verfügung gestellten Materialien zur sinnvollen Unterrichtsvorbereitung erst angepasst werden müssten, stark eingeschränkt wird. Die freie Lizenzierung hat zudem den Vorteil, dass weder Schulen noch Lernende bzw. Lehrende finanzielle Mittel aufwenden müssen, um von der digitalen Ressource profitieren zu können.
4. (Noch) zu realisierende technische Potentiale
[14]Neben den großen technischen Vorteilen, die ein digitales Webportal bietet, das eher der üblichen Umsetzung einer Digitalen Edition folgt als jener eines Content Management Systems, stößt dieses Medium natürlich auch an seine Grenzen, die wiederum Potential für Innovation in sich bergen. In diesem Zusammenhang soll im Speziellen auf die Frage der Interaktivität und die potentiell einschränkenden Spezifika von Digitalität im konkreten Unterrichtssetting eingegangen werden.
4.1 Interaktivität
[15]Um in Hinblick auf Fragen der Langzeitarchivierung dem aktuellen wissenschaftlichen Standard zu entsprechen, wurde im Falle des Webportals GRaF bewusst die Entscheidung getroffen, das Repositorium nicht um eine interaktive Lernplattform im eigentlichen Sinne zu erweitern. Basisdaten nach dem Single Source-Prinzip unter Erhaltung aller Funktionalitäten langfristig zu archivieren, stellt bereits eine beträchtliche Herausforderung dar; die Langzeitarchivierung einer solchen interaktiven Plattform würde ferner aber auch die Forderung nach dauerhafter Erhaltung von Funktionalitäten bedeuten. Damit eine solche Ressource aufgrund des rasanten technischen Wandels nicht bereits in naher Zukunft als bloße Ruine an ihre ursprüngliche Funktion und Funktionalität erinnert, würde eine durchgehende Aufwendung von Mitteln für deren Instandhaltung benötigt. Schließlich muss damit gerechnet werden, dass es einige Zeit dauert, bis sich eine derartige Plattform überhaupt in der schulischen Alltagspraxis durchgesetzt hat. Diese Erhaltung ist im Fall von GRaF über die Projektlaufzeit zur Erstellung des Repositoriums und des Webportals hinaus nicht gegeben, weshalb die eigentliche ›Nutzungszeit‹ des Portals erst nach dem Ende des Projekts – und damit auch seiner Finanzierung – beginnen kann. Der Forderung nach durchgehender Betreuung hinsichtlich der Usability wird wohl in den allerwenigsten digitalen Projekten dieser Art auf lange Sicht nachzukommen sein.
[16]Dieses Problem stellt die auffälligste technische Begrenzung der Möglichkeiten digitaler fachdidaktischer Ressourcen dar, woraus sich die Frage ergibt, ob nicht in vielen Fällen gerade aus diesem Grund auf ›Interaktivität‹[34] im eigentlichen Sinne verzichtet werden sollte, es sei denn, das didaktische Konzept setzt diese explizit voraus. Hier zeigt sich auch, dass eine interaktive Plattform deutlich kostenintensiver und damit viel eher gefährdet ist, der Forderung nach interaktiven freien Ressourcen auf Dauer nicht entsprechen zu können. Eine kostspielige dauerhafte Erhaltung könnte womöglich Nutzungsgebühren erfordern, die dem Prinzip der OER zuwiderlaufen würde. Im Sinne der OER, des Open Source- sowie des Open Access-Prinzips wurde die beschriebene Interaktivität daher im Falle von GRaF weder in der Konzeption noch der Umsetzung angestrebt. Für Projekte, die eine derartige oder ähnliche Funktionalitäten andenken, empfiehlt es sich jedoch, entsprechende Fragen bereits in ihrer Konzeptionsphase zu klären und die Konsequenzen zu berücksichtigen.
4.2 Digitalität
[17]GRaF versteht sich als ein digitales Webportal, das als born digital-Ressource auch konzeptuell als genuin digital angedacht wurde. Dieser größte Vorteil des Projekts stellt allerdings auch seine deutlichste Einschränkung dar, wenn die Ressource für den analogen Raum des Klassenzimmers nutzbar gemacht werden soll. Wie bereits erwähnt, ist es möglich, analoge Outputs aus dem Webportal zu generieren, die somit auch in Schulen ohne entsprechende mediale Ausstattung Anwendung finden können.
[18]GRaF ist jedoch eine an den Lernenden orientierte, genuin digitale Edition[35], weil das Portal nicht nur im digitalen Medium existiert, sondern damit auch über Möglichkeiten verfügt, die im Analogen nicht wiedergegeben werden können. Dies stellt auch ein notwendiges Kriterium in der Definition einer Digitalen Edition nach Patrick Sahle dar:
»It can be said that digital editions follow a digital paradigm, just as printed editions have been following a paradigm that was shaped by the technical limitations and cultural practices of typography and book printing. With the mere digitisation of printed material, the implications of a truly digital paradigm cannot be realised. [...] A digital edition cannot be given in print without significant loss of content and functionality.«[36]
[20]So zählt im Fall des Webportals GRaF die Möglichkeit, Inhalte mithilfe einer JavaScript-Funktion selektiv und dynamisch hinzu- oder wegzuschalten, zu den essentiellen Charakteristika des Materialangebots. Diese Funktionalität, die einen der Hauptvorteile des Portals darstellt, geht bei einer analogen Umsetzung verloren – eine uneingeschränkte Nutzung der Inhalte unabhängig vom digitalen Paradigma ist nicht möglich. Die Digitalität von GRaF bedeutet allerdings auch, dass zunächst die ausreichende technische Infrastruktur an Schulen vorhanden sein muss, um das Webportal im Unterricht effektiv zu verwenden – obwohl bei der Wahl des Endgerätes große Freiheiten gegeben werden. Die Möglichkeit, Arbeitsblätter zu generieren, stellt zwar einen ›Brückenschlag ins Analoge‹ dar, führt jedoch teilweise zum Verlust der spezifischen Chancen, die die Digitale Edition bietet.
[21]Als inhaltlich verwandte Thematik zeigt sich hieran zudem ein bereits oben angeführtes Kommunikationsproblem zwischen Digital Humanities und der altsprachlichen Fachdidaktik, das bereits im konzeptuellen Blick auf die Ressourcen entsteht: Während für die Fachdidaktik zumeist die Art der Verfügbarkeit der Inhalte ausschlaggebend in der Frage ist, ob diese als digital oder analog bezeichnet werden, so folgen die Digital Humanities vielmehr der zitierten Forderung Patrick Sahles, für den die Speicherung der Daten sekundär gegenüber deren konzeptuellen Hintergründen ist – man spricht also mitunter über verschiedene Dinge, wenn über Digitalität diskutiert wird.[37]
5. Zusammenfassung
[22]GRaF als Ressource überzeugt in seiner technischen Umsetzung erstens durch eine in der Datenstruktur begründete hohe Qualität des Materials für die Langzeitarchivierung im Gegensatz zu klassischen Print-Schulbüchern; zweitens durch die Möglichkeit der Nutzung im Sinne des blended learning-Ansatzes sowie drittens durch die freie Lizenzierung als Open Educational Resource. Einschränkungen und mögliche (noch) zu realisierende Potentiale des Webportals betreffen auf technischer Seite dessen Interaktivität im Vergleich zu einem vollständigen Learning Management System sowie dessen digitale Natur, die zwar einerseits Funktionalitäten abseits des analogen Paradigmas bietet, jedoch das Vorhandensein einer digitalen Infrastruktur in Lernsettings erfordert und damit die Überführung digitaler Repräsentationen auf eine analoge Nutzung nur eingeschränkt möglich macht.
[23]Es stellt sich schließlich die Frage, inwiefern GRaF den zu Beginn eingeführten Kriterien von Learning Management Systems sowie von Open Educational Resources entspricht. Eine vollständige Antwort auf diese Frage kann erst gegeben werden, wenn man die didaktischen Aspekte mit einbezieht, die im zweiten Teil dieser Untersuchung dargelegt werden. Es sei jedoch bereits darauf hingewiesen, dass sich die Funktionen von GRaF mit den Kriterien dieser beiden digitalen Lehr-/Lernformen in bestimmten Bereichen decken, in anderen wiederum Unterschiede aufweisen. Technische Gemeinsamkeiten zwischen GRaF und Learning Management Systems umfassen etwa die digitale Bereitstellung und Organisation von Bildungsressourcen sowie deren Anreicherung mit didaktischen Metainformationen. Im Fall der Open Educational Resources sind als Gemeinsamkeiten etwa die freie Lizenzierung und die damit verbundene freie Modifizier-, Anwend- und Reproduzierbarkeit zu nennen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine Plattform im Schulunterricht wirklich als ›freie Lernressource‹ gelten kann, wenn sie ein digitalisiertes Klassenzimmer erfordert, solange dieses in der Realität des Schulalltags eine gar nicht unbedingt so frei verfügbare Ressource darstellt. Die Tatsache, dass sich bei der Bewertung von GRaF diese und viele andere Fragen überhaupt stellen, weist darauf hin, dass das Projekt an einem neuralgischen Punkt angesiedelt ist. Sowohl die altsprachliche Didaktik als auch die Digital Humanities werden so vor neue Herausforderungen gestellt, weshalb ein solches Projekt schlussendlich auch als Ausgangspunkt für Innovation in beiden Disziplinen gesehen werden kann.