[1]Synonyme und ähnliche Begriffe: Computerexperiment | digitale Methode | Modell | Rekonstruktion | VR / AR | Visualisierung
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1.
Begriffsdefinition
[2]Der Begriff ›Simulation‹ beschreibt verschiedene → Methoden der modellhaften und ›experimentellen‹ Nachbildung realweltlicher oder hypothetischer Prozesse bzw. Systeme.
[3]Grundlage jeder Simulation ist ein ausführbares Simulationsmodell. Hierunter ist eine eigene Klasse von → Modellen, die konzeptuell, logisch oder mathematisch ausgedrückt werden können, zu verstehen. Zur Ausführung eines Simulationsmodells muss dieses aber formalisiert, also in computerlesbare Form gebracht werden.[1] Darüber hinaus werden diese iterativ und interaktiv gebildet. Mit den Parametern und Eigenschaften des Modells zu experimentieren, ist ein wichtiger Bestandteil von Simulationsmethoden. Teil einer Simulation kann eine → Visualisierung bzw. ein User Interface sein, das den Ablauf der Simulation für die Benutzenden lesbar oder sogar manipulierbar macht und Ergebnisse der Simulation (simulierte → Daten) darstellt.
[4]In den Geisteswissenschaften werden Simulationen teils als Analysewerkzeug, teils als didaktisches Werkzeug eingesetzt und sie sind selbst Forschungsgegenstand.
2. Begriffs-
und Ideengeschichte
[5]Der Begriff Simulation stammt vom lateinischen ›simulatio‹ – Heuchelei, (Vor-)Täuschung – und beschrieb lange vor allem menschliches Verhalten und keine wissenschaftlichen Methoden.[2] Analoge, simulationsähnliche Methoden, die aber noch nicht als solche benannt wurden, gab es seit mindestens dem 19. Jahrhundert, z. B. in Form der zunächst preußischen, später auch US-amerikanischen Plan- bzw. Kriegsspiele[3] oder auch mechanischer Apparate zur Vorhersage von Tiden.[4] Die Wurzeln der Simulation als Erkenntnismethode reichen weit in die Wissenschaftsgeschichte zurück und sind z. B. eng verwoben mit dem Begriff des → Experiments, sowie der Entwicklung von Mathematik (z. B. Differenzialrechnung) und später der Informatik (z. B. Digitalrechnern).[5] Parallelen bestehen auch zur Methode des Gedankenexperiments.[6]
[6]Als Begriff für eine wissenschaftliche Methode tauchen (Computer-)Simulationen explizit ab den 1940er und 1950er Jahren in Zusammenhang mit der Entwicklung der ersten Atom-, vor allem aber der ersten Wasserstoffbombe auf.[7] Ab den 1960er und insbesondere in den 1970er Jahren breiteten sich Simulationsmethoden auch in den Geisteswissenschaften aus. Frühe Anwendungen finden sich vor allem in der Anthropologie, der Archäologie, den Geschichtswissenschaften, der Pädagogik, der Psychologie und den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.[8] Bekanntheit in der breiten Öffentlichkeit erlangten Simulationen spätestens in den 1970er und 1980er Jahren unter anderem durch das Simulationsmodell World3, das die Grundlage für den Club-of-Rome-Bericht Limits to Growth bildete, sowie weiteren Anwendungen aus den Geo- und Sozialwissenschaften.[9] Seit den 1990er und 2000er Jahren kam eine neue Welle von Simulationsanwendungen auf, insbesondere in Zusammenhang mit sogenanntem Agent-based Modeling, also bestimmten individuenbasierten Modellierungs- und Simulationsmethoden, sowie Konzepten der Komplexitätswissenschaften.[10]
3.
Erläuterung
[7]›Modellhafte Nachbildung‹ bedeutet, dass Simulationen auf → Modellen basieren, das heißt: Nicht der reale Prozess wird untersucht, sondern eine reduzierte Auswahl von als wichtig angenommenen Aspekten des Prozesses bzw. Systems. ›Experimentelle Nachbildung‹ sagt aus, dass die Modellbildung iterativ und durch wiederholtes Anpassen und Austesten der Parameter und des konzeptionellen Modells geschieht. ›Realweltlich‹ bzw. ›hypothetisch‹ bedeutet, dass wissenschaftliche Simulationsmodelle immer darauf abzielen, eine Version der Realität darzustellen. Das kann ein bereits nachgewiesener Prozess oder ein theoretisch angenommener, also hypothetischer, sein. Simulationen stellen immer Prozesse bzw. Systeme im Zeitverlauf dar und zielen nicht darauf ab, nur einen Zustand eines Objekts oder Systems zum Zeitpunkt t zu untersuchen. Erst die zeitliche Dimension und die damit einhergehende Veränderlichkeit geben dem Modell Sinn. Das ist ein zentrales Unterscheidungsmerkmal von Simulationsmethoden gegenüber anderen auf Modellen aufbauenden Methoden.
[8]Konkret wird beim Simulieren also zunächst ein konzeptuelles und daraus ein formales Modell eines Systems erstellt, welches der Gegenstand einer bestimmten Forschungsfrage ist. Die Parameter des Modells werden anhand bestehender Daten oder theoretisch begründeter Annahmen bestimmt. In mehrfachen Ausführungen wird dann mit den Parametern sowie den konzeptionellen Eigenschaften des Modells experimentiert. Teil einer Simulation kann eine → Visualisierung des Simulationsverlaufs sein, z. B. Bewegung von Individuen im Raum. Die Visualisierung dient dabei dazu, das Verhalten des Simulationsmodells in Bewegung nachvollziehen zu können. Für manche Simulationsarten ist die visuelle bzw. allgemein sensorische Erfahrung aber ein integraler Bestandteil der Simulationsziele, gerade in didaktischen Kontexten. Anhand verschiedener Methoden wird das Modell abschließend validiert (z. B. mit empirischen Daten, einer theoretischen Analyse der Zusammenhänge oder mit computationellen Validierungsmethoden).
3.1
Mehrdeutigkeiten
[9]›Simulation‹ kann in den DH folgendes bezeichnen:
- wissenschaftliche Simulationsmethoden: Untersuchung / Verstehen eines Systems, Erklärung eines Prozesses in diesem – meist komplexen – System; auch zur Vorhersage von Systemverhalten
- didaktische Simulationsmethoden: Rollen-, Plan- oder Lernspiel, um bestimmte Perspektiven erfahrbar zu machen; auch, um Handlungsstrategien zu testen oder um Praktiken zu üben
- ein ludologisches Genre: Videospiele, deren Inhalt die wirklichkeitsnahe Modellierung realer Prozesse ist
- virtuelle Rekonstruktionen: sensorische Erfahrbarmachung eines nicht mehr zugänglichen Raumes. Teils auch 3D-Modell / -Simulation oder virtuelle Simulation genannt[11]
- kultur- / medienphilosophische Konzepte: Medial ›simulierte‹ Realität im Gegensatz zur unmittelbar erfahrenen Realität; auch Literatur als Simulation vorstellbarer Realitäten
3.2
Differenzen der Begriffsverwendung
[10]
- Archäologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften
- Erziehungswissenschaften / Didaktik
- Simulation als didaktische Methode, vergleichbar mit Rollenspiel bzw. Ausspielen eines Szenarios oder Simulationen (Genre) als Lernspiele. Beispiel: Erforschung der Wirkung von Simulationen und Serious Games auf Lernstoffvermittlung[14]
- Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaften
- Simulation als kultur- und medienphilosophischer Begriff. Medien als Simulation von Realität und Kultur der Moderne als in zunehmendem Maß durch mediale Simulation von Realitäten im Gegensatz zu unmittelbar erlebter Realität geprägt. Beispiel: Simulationstheorie von Jean Baudrillard für (u. a.) Filmwissenschaften[15]
- Simulation als Analysemethode. Beispiel: Erforschung von Netzwerkdynamiken im Verlagswesen[16]
- Ludologie
- Simulation als Genre. Genre von Spielen, die auf die möglichst realitätsnahe Nachbildung eines Szenarios / einer Tätigkeit abzielen bzw. zur Beschreibung von Subsystemen von Videospielen, die auf realitätsnahe Nachbildung abzielen. Beispiel: Postmoderne Dimensionen simulierter Landschaften und Räume in GTA V [17]
- Philosophie
- Reflexion von Simulation als Erkenntnismethode. Beispiel: Erkenntnistheoretische Grundlagen und Implikationen von Simulationen[18]
4.
Kontroversen und Diskussionen
[11]Simulationen sind in der heutigen Praxis der DH noch eine randständige Methode, die häufig eher theoretisch diskutiert als tatsächlich angewendet wird.[19] Im Anwendungsfall beschränkt sie sich vor allem auf bestimmte Teilbereiche der DH und auf ganz bestimmte Methoden, etwa virtuelle Simulation oder Agent-Based Modeling. Diskussionen und Kontroversen finden deswegen oft noch eher isoliert statt, was ein grundlegendes Problem für die Weiterentwicklung von Simulationen für die DH darstellt.
[12]In den letzten Jahren werden konkrete Simulationsmethoden hinsichtlich ihrer Eignung für geisteswissenschaftliche Forschungsvorhaben diskutiert.[20] Damit hängen Fragen zu den → erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Simulationsmethoden zusammen. Die oft stark algorithmisch-mathematisch geprägte Tradition vieler Simulationsmethoden stößt hierbei auf das hermeneutische Selbstverständnis etlicher Teilbereiche der DH, was laut Michael Gavin teils zu einem »knee-jerk scepticism« – also einem reflexhaften Skeptizismus – führt.[21] Völlig zu Recht stellt sich aber die Frage, wie manche geisteswissenschaftlichen Konzepte und Annahmen von Prozessen formalisiert werden können und sollten. Zentral sind beispielsweise Möglichkeiten und Grenzen der Modellierung und der Formalisierung menschlichen Handelns. Auch der Begriff des Prozesses selbst verdient weitere Ausarbeitung, insbesondere im Gegensatz zu anderen geläufigen Grundlagenbegriffen von Modellierungsmethoden in den DH, wie z. B. ›Ereignis‹ bzw. event.[22]
[13]Für die Geschichtswissenschaften stellt sich außerdem die Frage nach dem Umgang mit sogenannten Simulationsdaten als Quellen, also durch das reine Simulieren erzeugte Informationen.[23] Diese können zwar in realweltlichen Quellen verankert sein, auf die sie auch Bezug nehmen, sie sind aber letztendlich synthetische und somit nicht zweifelsfrei überlieferte Daten.
[14]Ein generelles Problem, das auch in anderen simulierenden Wissenschaften diskutiert wird, ist die Frage, wie komplexe Simulationsmodelle und deren Ergebnisse kommuniziert werden können. Zu diesem Zweck werden Standards wie das ODD-Protokoll für agentenbasierte Simulationsmodelle entwickelt, welche allerdings noch einer Übertragung in bzw. Anpassung an die DH bedürfen.[24]
Fußnoten
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[1]Im Kontext der Digital Humanities werden ›Simulationen‹ meist mit ›Computersimulationen‹ gleichgesetzt, sie sind also Simulationsmodelle, die mit Hilfe eines Computers ausgeführt werden können. Abseits davon gibt es auch Simulationen, die nicht durch Computer ausgeführt werden müssen. Simulationen im ersten Sinne sind der Fokus dieses Glossareintrags, aber einige der hier besprochenen Prinzipien treffen auch auf analoge Simulationen zu.
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[2]Unter anderem früh bei Justus Lipsius, vgl. Papy 2019.
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[3]Vgl. McHugh 1969, S. 88–90.
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[4]Vgl. Rawsthorne 2019.
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[5]Vgl. Gramelsberger 2010.
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[6]Vgl. Zeimbekis 2011.
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[7]Vgl. Goldsman et al. 2009, S. 310–313.
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[8]Ein seinerzeit vielbeachteter Beitrag in der Archäologie bzw. Anthropologie war etwa Levison et al. 1972.
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[9]Vgl. Meadows et al. 1974.
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[10]Vgl. Wurzer et al. 2015.
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[11]Für einen Einstieg in diese Bedeutung eignet sich z. B. Jannidis et al. (Hg.) 2017, S. 315–321.
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[12]
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[13]
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[14]
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[15]
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[16]
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[17]
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[18]
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[19]
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[20]Vgl. z. B. Gavin 2014.
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[21]Gavin 2014, Abs. 1.
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[22]
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[23]Vgl. z. B. Nanetti / Cheong 2018.
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[24]Vgl. z. B. Grimm et al. 2020.
Bibliografische Angaben
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