Annotation

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Jan Horstmann Autor*inneninformationen
Melanie E.-H. Seltmann Autor*inneninformationen

DOI: 10.17175/wp_2023_002_v2

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 183976709X

Erstveröffentlichung: 25.05.2023

Version 2.0: 14.03.2024

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autor*innen

Letzte Überprüfung aller Verweise: 24.01.2024

GND-Verschlagwortung: Annotation | Auszeichnungssprache | Datenmodellierung | Terminologie | 

Empfohlene Zitierweise: Jan Horstmann / Melanie E.-H. Seltmann: Annotation. In: AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. (Hg.): Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). Wolfenbüttel 2023. 25.05.2023. Version 2.0 vom 14.03.2024. HTML / XML / PDF. DOI: 10.17175/wp_2023_002_v2


Version 2.0 (14.03.2024)

Umformulierungen und andere Verbesserungen gemäß Open Public Peer Review. Bibliografie an aktuelle Zitierregeln angepasst. Affiliation und Kontakt von Melanie Seltmann aktualisiert.


[1]Synonyme und ähnliche Begriffe: Anmerkung | Anreicherung | Markup | Kommentar | Kategorisierung | Kodierung | Metadaten | Tagging
Pendants in kontrollierten Vokabularen: Wikidata: Q857525 | TaDiRAH: annotating

1. Begriffsdefinition

[2]Annotation bezeichnet eine (semantische) Anreicherung von Untersuchungsgegenständen. Der Prozess des Annotierens kann manuell oder automatisiert stattfinden und resultiert in Annotationen. Manuelle und automatisierte Annotation können in variierenden Anteilen kombiniert werden (semi-automatische Annotation). Im Folgenden werden vier unterschiedlich weit gefasste Annotationsbegriffe unterschieden: ein engster, enger, weiter und weitester Annotationsbegriff. Während engster und enger Annotationsbegriff solche Annotationen bezeichnen, die als Teil des annotierten Untersuchungsgegenstands gemeinsam mit diesem präsentiert werden, beschreiben weiter und weitester Annotationsbegriff eigenständige Artefakte, die sich untereinander durch die Deutlichkeit des Bezugs zum Untersuchungsgegenstand unterscheiden. Im engsten Sinne explizieren Annotationen einzelne Aspekte von Untersuchungsgegenständen durch zeichenhafte Kodierung (Ergänzung). Im engen Sinne beziehen sich Annotationen auf einen Untersuchungsgegenstand als Ganzen und sind direkt mit diesem verknüpft (Metainformation). Im weiten Sinne sind Annotationen alle Formen von zeichenhaften Äußerungen, die als eigenständige Artefakte veröffentlicht und rezipiert werden können (Analyse). Im weitesten Sinne können alle Formen von direkten oder indirekten materiellen Referenzierungen als Annotationen aufgefasst werden (Bezugnahme).

2. Begriffs- / Ideengeschichte

2.1 Ideengeschichte

[3]Bevor der Begriff ›Annotation‹ verwendet wurde, existierte bereits die Idee der Annotation in ihren verschiedenen Dimensionen. So haben die Annotationen im engen Begriffsgebrauch eine sehr lange Tradition, können hierunter doch alle Formen der zeichenhaften Klassifikation von Untersuchungsgegenständen als Ganzes fallen. Einen → Text als argumentierend, deskriptiv, narrativ etc. zu klassifizieren oder auch Texte, Musikstücke, Kunstobjekte etc. als einem bestimmten Genre oder einer Gattung zugehörig auszuzeichnen, lässt sich als Annotation in diesem engen Sinne (oder auch als ›Metadaten‹) begreifen. Eine solche Art der Annotation knüpft an präschriftliche menschliche Grundbestrebungen des Klassifizierens und Ordnens an.[1] Die Entwicklung von Schrift- und Zahlensystemen seit dem vierten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien ermöglichte die schriftliche Klassifizierung von Untersuchungsgegenständen und damit die zeichenbasierte Ordnung von Wissen.[2]

[4]Zeugnisse des Annotierens als kulturelle Praxis finden sich bereits in früheren Jahrhunderten. Bereits im 5. Jahrhundert vor Christus lassen sich Glossen in Homer-Texten nachweisen, d. h. interlineare Anmerkungen in Form von Worterklärungen oder -übersetzungen oberhalb des Textes, die als historische Beispiele für Annotationen im engsten Sinne gelten können. Bis zum Mittelalter finden Glossen ebenso in biblischen und juristischen Codices Anwendung.[3] Die Glossierung fand dabei zumeist in älteren Werken durch andere Hände als diejenigen des*der Autor*in statt.[4] Dass Glossen gegenwärtig als journalistische Kurztexte in Zeitungen unabhängig vom primären Untersuchungsgegenstand veröffentlicht werden – und damit heute nur noch im weiten Sinne Annotationen sind –, verdeutlicht die historische Dynamik der einzelnen Ebenen des Annotationsbegriffs. Der Talmud oder Auslegungen zu Gesetzestexten können als historische Beispiele für Vorkommnisse von Annotationen im weiten Begriffsverständnis gelten.[5]

[5]Mit (a) der Institutionalisierung der Wissenschaften in der Islamischen Welt des 9. Jahrhunderts, (b) dem Entstehen von Universitäten in Europa ab dem 12. Jahrhundert, (c) der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts, sowie (d) der gesteigerten Ausdifferenzierung akademischer Disziplinen seit dem 19. Jahrhundert erfuhr der Gebrauch von Annotationen im engen Sinne für die systematisierte Ordnung und Vermittlung von Wissen jeweils enormen Aufschwung.[6]

[6]Mit Erfindung des Buchdrucks kamen auch die sogenannten Korrekturzeichen auf, die seitdem in diversen Kontexten normiert wurden und als typografisches Auszeichnen ebenfalls als Annotationen im engsten Sinne aufgefasst werden können.[7]

[7]Im späten 16. und 17. Jahrhundert fanden sich in Europa frühe Formen von Fußnoten, die (auf der Seite des referenzierten Textabschnittes selbst oder als Endnoten am Ende eines Textes) konkrete Textpassagen ergänzen und eine andere Form von Annotation sind.[8] Sie erfüllen eine ähnliche Funktion wie die bereits früher nachweisbaren Marginalien und können als ihre Weiterentwicklung betrachtet werden.[9] Digitale Publikationsformen bilden häufig keine klassische Seitenstruktur ab, sodass Fußnoten in einigen Publikationsorganen heute wieder als Marginalien realisiert werden.[10]

2.2 Begriffsgeschichte

[8]Der Begriffsfokus liegt auf der schriftlichen Arbeit mit Untersuchungsgegenständen, die auf weit zurückreichende Traditionslinien schaut.[11] ›Annotation‹ bezeichnet in unterschiedlichen Kontexten sowohl die Tätigkeit des Annotierens als (wissenschaftliche) → Methode als auch den Gegenstand als Resultat dieser Tätigkeit.[12] Der Begriff leitet sich vom lateinischen ›annotatio‹ ab, welches sich wiederum vom Verb ›annotare‹ (›anmerken‹) – aus ›ad-‹ (›zu‹) und ›nota‹ (›Markierung‹) – ableitet. Die Herkunft von ›nota‹ ist unklar.[13] Im Englischen kommt der Begriff ›annotation‹ in der Mitte des 15. Jahrhunderts erstmals in der Bedeutung eines geschriebenen Kommentars vor.[14] Im Französischen findet sich der Begriff Ende des 14. Jahrhunderts im Sinne einer Bemerkung zu einem Buch.[15] Ein erster Nachweis im Deutschen findet sich 1650.[16] Hier nutzt Johann Rudolf Glauber den Begriff ›Annotation‹ im weiten Sinne, da es ein eigenständiges Artefakt ist, das als Sekundärtext zum ›Appendicem‹ seiner eigenen philosophischen Schrift verfasst wurde.[17]

3. Erläuterung

3.1 Mehrdeutigkeiten

[9]Annotationen ergänzen vorhandene Untersuchungsgegenstände durch zusätzliche – erklärende oder einordnende – Inhalte.[18] Dies kann auf den genannten vier Ebenen geschehen (vgl. Abbildung 1).

Abb. 1: Vier Ebenen der Annotation. [Grafik: Jan Horstmann / Melanie E.-H. Seltmann 2023]
Abb. 1: Vier Ebenen der Annotation. [Grafik: Jan Horstmann / Melanie E.-H. Seltmann 2023]

3.1.1 Annotation im engsten Sinne: Ergänzung einzelner Aspekte des Untersuchungsgegenstands

[10]Bei der Annotation im engsten Sinne handelt es sich um eine direkte semantische Anreicherung einzelner Aspekte des Untersuchungsgegenstands. Dabei repräsentiert die Annotation eine spezifische Perspektive auf diesen Aspekt (z. B. die Identifikation einer mythologischen Figur auf einer Vase).[19] Zweck dieser Form von Annotation ist die Hervorhebung, die Kommentierung oder die »Abstrahierung von Einzelvorkommen und deren Ordnung und Zusammenfassung in übergreifende Klassen«.[20] Durch eine Kategorisierung wird es erst möglich, geisteswissenschaftliche Fragestellungen mit digitalen Methoden zu beantworten.[21] Die Annotation wird durch Tags[22] (bzw. Labels), die einzelnen Teilen des Untersuchungsgegenstands zugeordnet werden, vorgenommen. Die Modellierung des Tagsets[23] (bzw. des Kategoriensystems / der Typologie) erfolgt in einem iterativen Verfahren auf Basis theoretischer Konzepte aus der entsprechenden (Geistes-)Wissenschaft.[24]

[11]Auch strukturelles Markup (z. B. Kapitel oder Seiten eines Buches) ist Annotation im engsten Sinne. Das Markup gibt Informationen darüber, wie Objekte organisiert sind.[25]

3.1.2 Annotation im engen Sinne: Metainformationen zum Untersuchungsgegenstand

[12]Metainformationen zu Untersuchungsgegenständen als Ganzes bilden Annotationen im engen Sinne (z. B. Informationsschild zu einer Vase). Hier dient die Annotation der Anreicherung des gesamten Untersuchungsgegenstands. Es entsteht jedoch kein eigenes Artefakt.[26] Jeffrey Pomerantz (2015) bezeichnet Metadaten als eine Art Karte[27], da sie die Komplexität eines Objekts reduzieren.[28] Konkret können Metadaten viele verschiedene Dinge beschreiben und für verschiedene Zwecke erstellt und gespeichert werden. Wenn sie den Zweck der Beschreibung von Objekten verfolgen, so handelt es sich um deskriptive Metadaten. Beschreiben sie die Herkunft und geben Informationen zur Qualitätskontrolle des beschriebenen Objekts, spricht man von administrativen Metadaten. Manchmal werden Herkunftsmetadaten auch als eigene Kategorie gesehen. Anleitungen zur Erhaltung eines Objekts, etwa wenn ein Programm emuliert werden muss, um mit einer digitalen Datei zu arbeiten, sind Erhaltungsmetadaten. Informationen, wie ein Objekt verwendet wurde, etwa wenn Downloadzahlen eines Objekts gespeichert werden, bezeichnet man als Nutzungsmetadaten.[29] Schließlich gehören auch die im Zuge der Inhaltserschließung (z. B. Vergabe inhaltlicher Schlagworte) und Formalerschließung (z. B. Angabe von Titel, Urheber*in, Verlag)[30] entstehenden Metadaten in diese Kategorie.

3.1.3 Annotation im weiten Sinne: Analyse des Untersuchungsgegenstands

[13]Annotationen im weiten Sinne sind ein eigenständiges Artefakt (z. B. filmische Dokumentationen oder Fachartikel zu einer Vase).[31] So können beispielsweise Exzerpte oder Forschungsbeiträge als Annotationen im weiten Sinne gesehen werden. Sie setzen sich mit einem Forschungsgegenstand bzw. einer Quelle auseinander, beschreiben und analysieren sie, d. h. sie nehmen auf einen Untersuchungsgegenstand Bezug. Sie werden in der Regel jedoch unabhängig vom primären Untersuchungsgegenstand veröffentlicht. Auch außerhalb wissenschaftlicher Artefakte finden sich Annotationen im weiten Sinne, etwa in Feuilletons von Zeitungen, die Kommentare und Reflexionen zu kulturellen Ereignissen und Untersuchungsgegenständen enthalten. Eine Literaturkritik beispielsweise beschäftigt sich mit einem literarischen Werk und annotiert es dadurch im weiten Sinne. Sie referenziert den Inhalt des Untersuchungsgegenstands, setzt ihn in Beziehung zu anderen Objekten und ist selbst wiederum ein eigenständiges Artefakt. Dabei muss die Kommentierung eines Untersuchungsgegenstands selbst nicht zwangsläufig in schriftlicher Form erfolgen. Auch ein Kommentar in Videoform, als Karikatur oder als Meme kann als Annotation im weiten Sinne verstanden werden. Bei all diesen Formen handelt es sich um eigenständige Artefakte, die ein anderes Objekt → interpretieren, kommentieren, spezifizieren etc. und es damit semantisch anreichern.[32]

3.1.4 Annotation im weitesten Sinne: Bezugnahme auf den Untersuchungsgegenstand

[14]Annotationen im weitesten Sinne sind Bezugnahmen auf einen Untersuchungsgegenstand innerhalb eines anderen Artefakts, das sich jedoch nicht gänzlich diesem Untersuchungsgegenstand widmet (z. B. verweisen alle Vasen potenziell auf vorangegangene Vasen). Darunter fallen zum Beispiel Adaptionen von Artefakten in der gleichen oder einer anderen Medienform. Insbesondere poststrukturalistische Konzeptionen eines sehr weit gefassten Textbegriffs als »Mosaik von Zitaten«[33] illustrieren beispielhaft die Möglichkeit einer generellen Bezogenheit kultureller Objekte.[34]

3.2 Differenzen der Begriffsverwendung

[15]Viele Disziplinen verwenden den Begriff Annotation und meinen damit meistens Annotation im engsten oder engen Sinne. In den letzten Jahren lässt sich beispielsweise in den Literaturwissenschaften im Vergleich zu synonym verwendeten Begriffen eine stärkere Fokussierung auf den Begriff ›Annotation‹ beobachten.[35] Wird in den Sozialwissenschaften annotiert – was in qualitativen und quantitativen Ansätzen in unterschiedlicher Ausprägung geschieht –, spricht man stattdessen von Coding / Kodierung; ein Begriff, der für den Prozess des Annotierens im Zusammenhang mit der Grounded Theory[36] etabliert wurde. Die Annotationen selbst werden hier häufig als ›Memos‹ bezeichnet. Im Kontext der Editionswissenschaft ist neben ›Annotation‹[37] auch ›(Text-)Kodierung‹[38] / ›Encoding‹[39] oder der aus dem computerlinguistischen Feld stammende Terminus ›Tagging‹[40] (etwa beim Part-of-Speech-Tagging) der Standardbegriff; in den Medien- und Sozialwissenschaften wird zusätzlich vom ›(Social) Tagging‹ (d. h. kollaborative Verschlagwortung) gesprochen.[41] Während ›Annotieren‹ alles von streng taxonomiebasierten bis hin zu gänzlich unsystematischen Vorgängen bezeichnen kann, bezieht sich ›Social Tagging‹ auf nicht-taxonomiebasierte, oft kollaborativ organisierte Vorgänge der semantischen Anreicherung von (Web-)Ressourcen. Der Begriff wird weitgehend synonym zum dort selten genutzten Annotationsbegriff und in unserem engsten und engen Sinne verwendet.[42] Der Begriff ›Label‹ wiederum ist u. a. in Ontologie- / Taxonomie-basierten Kontexten gängig. Die Bild- und Objektwissenschaften sowie die Filmwissenschaft nutzen ebenfalls den Annotationsbegriff und auch hier lassen sich alle vier Ebenen unterscheiden. Lediglich sind die Bezugsgegenstände nicht Texte, sondern Bild- / 3-D- bzw. audiovisuelle Objekte.[43]

4. Kontroversen und Diskussionen

[16]Interessant zu betrachten ist, inwiefern ein Annotat, also eine zugeschriebene Kategorie oder ein Tag, durch eine Metaannotation selbst zum Annotandum, also zum annotierten Untersuchungsgegenstand, werden kann und damit ggf. eine dritte, eigenständige Kategorie bildet. Hinweise auf eine solche Konversion tun sich in verschiedenen Forschungskontexten auf. Ein Beispiel hierfür ist die digitale Netzwerkanalyse bei Peer Trilcke und Frank Fischer (2018), in der vom prozessierten Zwischenformat als Untersuchungsgegenstand gesprochen wird.[44] Hierbei wird nicht der Dramentext selbst, sondern eine Netzwerkrepräsentation des Textes als Annotat bzw. ihr Bezug zum Annotandum analysiert. Rabea Kleymann (2022) spricht von der Phänomenhaftigkeit des Untersuchungsgegenstands in den DH, wenn man dem Entangled-Methods-Ansatz folgt. Dabei stellten »Untersuchungsgegenstände [...] keine Entitäten mehr dar. Vielmehr verwiesen sie auf die materiell-diskursiven Phänomene, die durch iterative Intraaktionen überhaupt erst prozessual hervorgebracht wurden«.[45] Statt eine dritte Form zwischen Annotat und Annotandum anzunehmen, scheinen die beiden jedoch auch im Bereich der Metaannotationen je nach Perspektive weiterhin gut analytisch voneinander trennbar zu sein, ohne die begriffliche Dichotomie aufgeben zu müssen.


Fußnoten


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Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Vier Ebenen der Annotation. [Grafik: Jan Horstmann / Melanie E.-H. Seltmann 2023]