Abstract
In diesem Beitrag werden Chancen und Herausforderungen der digitalen Bildung im Kontext der Lehrerbildung diskutiert. Im Fokus stehen digitalisierte Quellen, durch deren gezielten Einsatz Lehrerinnen und Lehrer im Geschichtsunterricht bei Schülerinnen und Schülern historisches Denken und Lernen fördern können. Die Verwendung von digitalen Reproduktionen historischer Quellen zieht einen ganzheitlichen und authentischen Umgang mit Quellen nach sich, da diese gleichermaßen als Sachquelle, Bildquelle und Textquelle in ihrer ursprünglichen Überlieferungsform bearbeitet werden können. Den Methoden der Historischen Grundwissenschaften als Teilgebiet der Geschichtswissenschaft kommen bei der schulischen Arbeit mit digitalisierten Quellen daher eine zentrale Rolle zu. Ziel ist es aufzuzeigen, welche Rolle die Historischen Grundwissenschaften bei der Arbeit mit digitalisierten Quellen im Hinblick auf den Prozess historischen Lernens haben und welche Notwendigkeit sich daraus für die Geschichtslehrerausbildung ergibt.
Historical teaching and learning with digitized sources, dealing with databases in the context of the digitization strategy – this paper discusses opportunities and challenges of digital education in the context of teacher training. The focus is on digital databases that teachers can use to assist their students in dealing with historical sources through targeted use in history lessons. The use of digital reproductions of historical sources allows a holistic and authentic approach to sources, since they can be treated equally as objects, pictures and texts. The methods of auxiliary sciences, as a branch of history science, therefore play a central role in history didactics. The aim is not only to show what added value digital databases have in the process of historical thinking and learning.
Version 2.0 (26.08.2021)
Es wurden folgende Änderungen vorgenommen: Inhaltliche Anpassungen, wie sie von den Gutachten angemerkt worden sind. Aktualisierung und Ergänzung der bibliographischen Angaben. Formale Korrekturen.
- 1. Digitalisierungsstrategie als Politikum
- 2. Historisches Lehren mit Schulbuchquellen
- 3. Historisches Lehren mit Digitalisaten
- 3.1 Historische Grundwissenschaften als Zugang zu digitalisierten Quellen
- 3.2 Historische Grundwissenschaften als intradisziplinäre Brücke
- 3.3 Der virtuelle Gang ins Archiv: Beispiel Benediktregel
- 4. Hochschuldidaktische Umsetzung in einem kohärenten Lehr-Lernkonzept
- 5. Zugangsmöglichkeiten: Datenbanken
- 6. Fazit und Ausblick
- Bibliographische Angaben
- Abbildungslegenden und -nachweise
1. Digitalisierungsstrategie als Politikum
[1]Sowohl an den Schulen als auch an den Hochschulen wird der Umgang mit digitalen Medien derzeit wieder verstärkt diskutiert und digital gestütztes Lernen als (neuer) Zugang zu Bildungswegen bildungspolitisch proklamiert.[1] Mit der von der Kultusministerkonferenz initiierten Strategie »Bildung in der digitalen Welt« liegt ein Handlungskonzept für die zukünftige Entwicklung der Bildung in Deutschland vor. Die Bundesländer haben sich hierin verpflichtet, dass Schülerinnen und Schüler in digitalen Lernumgebungen lernen und bis zum Ende ihrer Pflichtschulzeit einen Katalog digitaler Kompetenzen erworben haben sollen.[2] Wenn der Einsatz digitaler Medien zum (zukünftigen) Aufgabenbereich von Geschichtslehrkräften gehören soll, dann ist es nur folgerichtig, dass die Kultusministerkonferenz auch die Bedeutung der Lehrerausbildung in ihrer Digitalisierungsstrategie betont:
[2]»Die Förderung der Kompetenzbildung bei Lehrkräften, die ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag in einer ›digitalen Welt‹ verantwortungsvoll erfüllen, muss daher als integrale Aufgabe der Ausbildung in den Unterrichtsfächern sowie den Bildungswissenschaften verstanden und über alle Phasen der Lehrerbildung hinweg aufgebaut und stetig aktualisiert werden.«[3]
[3]Unklar bleibt jedoch, wie diese Ziele konkret erreicht werden sollen, welche Kompetenzen hierfür nötig sind und vor allem, was die fachübergreifende Strategie für die einzelnen Unterrichtsfächer bedeutet. Auf eine fehlende fachspezifische Anwendung der Strategie wiesen für den Fachbereich Geschichte sowohl der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) als auch die Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD) hin. Die Verbände schlugen für die erste hochschulische Ausbildungsphase von Geschichtslehrkräften folgende Ergänzung vor:
[4]»[Studierende] sind in der Lage, vorhandene digitale Repositorien, Austauschplattformen und Lehr-Lern-Medien für das historische Lernen sowohl technisch-inhaltlich als auch didaktisch und politisch zu beurteilen. […] Sie können auf dieser Grundlage digitale Informations- und Bildungsangebote zielgerichtet für die Verbesserung ihres Geschichtsunterrichts einsetzen und sich aktiv an der qualitativen Weiterentwicklung dieser Medien beteiligen.«[4]
[5]Mit diesem Vorschlag machen die Verbände die Digitalisierungsstrategie der Kultusministerkonferenz nicht nur zum intradisziplinären Anliegen der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik, sondern geben auch erste Hinweise für eine konkrete Umsetzung der Digitalisierungsstrategie, an die dieser Beitrag anknüpft. Ziel ist es aufzuzeigen, welche Rolle und welchen Mehrwert die Historischen Grundwissenschaften bei der Arbeit mit digitalisierten Quellen im Hinblick auf den Prozess historischen Lernens haben und welche Notwendigkeit sich daraus für die Geschichtslehrerausbildung ergibt.
[6] Der hochschulische Ausbildungskontext von Lehrkräften bleibt im Diskurs über die Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen gegenüber unterrichtsbezogenen Überlegungen und Forschungen noch immer ein Desiderat.[5] Für den Fachbereich Geschichte kommt hinzu, dass die Historischen Grundwissenschaften im Kontext der Digital Humanities in der eher geschichtswissenschaftlich orientierten Community bereits verstärkt diskutiert werden. Die Berücksichtigung dieser Ansätze im geschichtsdidaktischen Diskurs sind durchaus lohnenswert. Die Verwendung von digitalisierten Quellen ist eine Möglichkeit, historisches Denken und Lernen in digitalen Lehr-Lernprozessen zu unterstützen. Mittlerweile haben viele Archive und Bibliotheken Teile ihres Bestandes digitalisiert und im Internet zur Verfügung gestellt, sodass ein kostenloser sowie orts- und zeitunabhängiger Zugang auf digitale Reproduktionen von analogen historischen Quellen möglich ist. Noch nie zuvor waren historische Quellen so einfach zugänglich wie heute. Der Einsatz digitalisierter Quellen macht es möglich, den Geschichtsunterricht nicht nur virtuell zu öffnen und digitales Unterrichtsmaterial zu einer Selbstverständlichkeit im Schulalltag werden zu lassen, sondern auch Quellen in ihrer unveränderten Überlieferung begegnen zu können. Der didaktische Vorteil liegt vor allem in der Faszination, historischen Quellen in ihrer Ganzheitlichkeit und Ursprünglichkeit zu begegnen, sie beschreiben und verstehen zu können. Auf diese Weise sammeln die Lernenden Erfahrungen im Umgang mit (Original-)Quellen und erkennen grundlegende Bezüge zwischen Form und Inhalt. Zudem ist es möglich, die im Schulbuch aus anderen didaktischen Gründen veränderten Quellen in ihrer digitalen Aufbereitung miteinander zu vergleichen.
[7] In der eher geschichtsdidaktisch orientierten Community ist bisweilen von einer digitalen Geschichtsdidaktik die Rede bzw. vom historischen Lernen im digitalen Wandel.[6] Eine Zusammenschau geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Diskurse über Digitalisierung und Digitalität könnte nicht nur zu einer weiteren begrifflichen Annäherung führen, sondern im besten Fall auch zu einem aktiven Austausch der Disziplinen.
2. Historisches Lehren mit Schulbuchquellen
[8] Der Umgang mit historischen Quellen gehört zu den Kernaufgaben des Geschichtsunterrichts. Quellen begegnen den Lernenden zumeist hinsichtlich Form und Inhalt als didaktisch aufbereitete Schulbuchquellen. Diese Zugangserleichterung scheint aufgrund der Komplexität von Quellen in ihrer authentisch-originalen Überlieferung unumgänglich zu sein. Dennoch ergeben sich daraus zwei zentrale Probleme im Prozess historischen Denkens und Lernens. Erstens: Eine solche formale und inhaltliche Reduktion von Quellen ist nicht ganz unbedenklich, da hierdurch Informationen über den Entstehungs- und Benutzungskontext fehlen, die für eine sinnbildende Quellenkritik und Narration von Geschichte wichtig sind.[7] Bei einer quellenkritischen Analyse ist die Klärung der materiellen und medialen Eigenarten der Quelle eine wichtige Voraussetzung für ihr inhaltliches Verständnis: Die Bewertung einer Textquelle kann unter Umständen ohne Berücksichtigung des sachlichen und bildlichen Kontexts nur unzureichend bzw. unvollständig gelingen. Zweitens: Durch die didaktische Aufbereitung und thematische Auswahl einzelner Quellen seitens der Schulbuchautoren und -autorinnen werden die Lernenden auf eine bereits vorgegebene Fragestellung eingestimmt. Geschichtsdidaktiker kritisieren, »dass viele in den Schulbüchern abgedruckte Quellenausschnitte nur noch das bestätigen, was in den Darstellungen bereits festgestellt wurde«[8] oder dass die »Heuristik und Kritik und teilweise auch die historische Frage […] im Geschichtsunterricht durch die Institution Unterricht schon vorentschieden [sind]. Quellen werden nicht mehr zur Fragestellung gesucht, die Kritik ist ihnen schon abgenommen und die Fragestellung durch das jeweilige Stundenziel schon entschieden.«[9] Die selbständige Erarbeitung von weiterführenden Erkenntnissen und kritischen Fragestellungen seitens der Lernenden ist nur eingeschränkt möglich.
3. Historisches Lehren mit Digitalisaten
[9]Mit Digitalisaten sind in diesem Zusammenhang digitalisierte analoge Quellen gemeint.[10] Zuweilen ist auch von einem »digitalen Aggregationszustand«[11] analoger Quellen die Rede. Es geht also weniger um digitale Medien im Allgemeinen, sondern im Zusammenhang mit dem Fachbereich Geschichte um digitalisierte Medien im Sinne von historischen Quellen. Gemäß dem Versuch der Kategorisierung digitaler Medien von Bernsen und Spahn handelt es sich um Lernobjekte erster Ordnung, an denen Lernen stattfindet.[12] Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass Digitalisate die Realität (Digitalität) nicht vollends abbilden können: Ein Digitalisat unterscheidet sich von seinem analogen Pedant nicht nur durch die fehlende haptische Zuwendung zur Quelle, sondern vor allem auch durch seine zweidimensionale Darstellung.
[10] Potenzielles digitales Unterrichtsmaterial wird bereits von Bibliotheken und Archiven zur Verfügung gestellt. Das Landesarchiv Baden-Württemberg beispielsweise veröffentlicht in seinen Archivnachrichten halbjährlich und kostenlos digitalisiertes Quellenmaterial für den Unterricht, welches vor allem themenorientiert im historischen Kontext aufbereitet wurde.[13] Dieses Informationsangebots zieht jedoch, ähnlich der Aufbereitung von Schulbuchquellen, andere didaktische Lernziele nach sich als der Einsatz von narrationsfreien (Original-)Quellen, die eine wichtige Voraussetzung für einen unmittelbaren und selbstreflektierten Zugang zur Vergangenheit sind.
[11]Die Arbeit mit digitalisierten Quellen stellt gegenüber didaktisch aufbereiteten Quellen – neben der technischen Ausstattung der Schule – besondere Herausforderungen an Geschichtslehrkräfte. Für den schulischen Einsatz von digitalisierten Quellen sind nicht nur geschichtsdidaktische, sondern auch und insbesondere (digitale) geschichtswissenschaftliche Kompetenzen seitens der Geschichtslehrkräfte erforderlich. Der didaktisch-methodische sinnvolle Einsatz von digitalisierten Quellen setzt einen fachgerechten Umgang mit ihnen voraus.
3.1 Historische Grundwissenschaften als Zugang zu digitalisierten
Quellen
[12]Für den fachgerechten Einsatz von digitalisierten Quellen im Geschichtsunterricht sind die Historischen Grundwissenschaften als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft hilfreich, wenn nicht sogar zwingend Voraussetzung. Als Grundlage der Materialitätsforschung zeichnen sich die Grundwissenschaften durch ihren direkten Objektbezug aus, so dass die materielle Form gegenüber dem inhaltlichen Aussagewert in den Vordergrund rückt.[14] Die Information und der Informationsträger bleiben in der digitalen Darstellung miteinander verbunden. Die Grundwissenschaften leisten daher einen notwendigen Beitrag zum Verständnis von Quellen in ihrer textlichen, bildlichen und sachlichen Überlieferung.[15]
[13] Der methodisch regulierte Umgang mit historischen Quellen orientiert sich auch im schulischen Kontext an dem Dreischritt Heuristik, Quellenkritik und Interpretation sowie Narration.[16] Digitalisierte Quellen, die mit Hilfe der Historischen Grundwissenschaften erklärt und verstanden werden, machen nicht nur eine umfassende, sondern auch weiterführende (äußere) Quellenkritik möglich, da die Analyse von physischen Quellenmerkmalen ein wichtiger Schritt für die Interpretation des Inhaltes ist. Zur Quellenkritik gehören nicht nur Fragen zu Autor oder Autorin, Entstehungszeitpunkt und -ort, sondern vor allem auch Fragen zur physischen Gestalt, d. h. zum Herstellungsprozess, Erhaltungszustand und Verwendungszusammenhang der Quelle. Auf diese Weise unterscheiden die Lernenden zwischen Textgegenstand und -gestaltung. Die Textquellen werden realitätsnah erarbeitet, wodurch eigene Fragestellungen sowohl an die Textgestalt als auch an den Inhalt des Textes angeregt werden. Darauf aufbauend können selbständig Narrationen verfasst werden, die zugleich das Verständnis von Geschichte als (Re-)Konstruktion von Vergangenheit schulen.
[14] Im Geschichtsunterricht begegnen uns die Grundwissenschaften, wie z. B. die Urkundenlehre, Münzkunde, Inschriftenkunde oder Handschriftenkunde, in der Regel selten. Auch wenn zuweilen Münzumschriften mit Münze, Texte mit Handschrift, Inschriften mit Epitaph abgebildet werden, werden Informationsträger selten explizit zum Gegenstand historischen Lernens gemacht. Dieser Umstand mag bedauerlich sein, kann doch diese erweiterte Perspektive auf Quellen zweckdienlich und gewinnbringend für den Prozess historischen Denkens und Lernens sein.
3.2 Historische Grundwissenschaften als intradisziplinäre Brücke
[15]Die Historischen Grundwissenschaften tragen zu einem ganzheitlichen Verständnis von historischen Quellen bei und können für historisches Denken und Lernen nutzbar gemacht werden.[17] Die Kodikologie, beispielsweise, beschäftigt sich mit Fragen zur Beschaffenheit und zum Entstehungsprozess einer mittelalterlichen Handschrift. Mithilfe der im Internet zugänglichen Digitalisate und den zusätzlichen Informationen lassen sich mittelalterliche Handschriften durch die Handschriftenkunde beschreiben und erklären.[18] Auf Basis der Reproduktionen ist eine vollständige Beschreibung der Handschriften, mit Ausnahme der Wasserzeichen und Lagen, auch innerhalb der Institution Schule, d. h. ohne den Gang in das Archiv oder in die Bibliothek, durchführbar. Signatur, Beschreibstoff, Blattzahl, Format, Entstehungsort und -zeit, Schriftraum, Spaltenzahl, Zeilenzahl, Überschriften, Initialen und Miniaturen, Einband und Fragmente sind Informationen, die für das Verstehen und Erklären von Textquellen in ihrem jeweiligen Entstehungs-, Benutzungs- und Überlieferungskontext hilfreich sein können. Deutlich werden diese Vorteile insbesondere auch dann, wenn eine bestimmte Information durch unterschiedliche Informationsträger überliefert wird.
[16]Die Digitalisierung von mittelalterlichen Handschriften und die damit einhergehende Erweiterung des wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Kreises von Nutzenden machen einen intradisziplinären Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Geschichtsdidaktik und der Geschichtswissenschaft notwendig: »Allzu lange hat man die Schule und ihre Inhalte gänzlich den Fachdidaktikern überlassen. Insgesamt interessiert man sich wenig dafür, was und vor allem wie die Schülerinnen und Schüler eigentlich das bisschen Mittelalter lernen, das sie dann hinterher an die Universitäten mitbringen.«[19] Dieses Urteil mag nicht gänzlich überzeugend sein, zeigt aber die starke Diskrepanz zwischen Schulbildung und Universitätsbildung.
3.3 Der virtuelle Gang ins Archiv: Beispiel Benediktregel
[17] Inwiefern die Arbeit mit digitalisierten Quellen zu einer kritischen Quellenarbeit und sinnbildenden Narration seitens der Lernenden beitragen kann und welche Chancen sich daraus für den Geschichtsunterricht ergeben, soll am Beispiel der im Unterrichtsalltag oft thematisierten Benediktsregel angedeutet werden. Der Textabdruck erfolgt üblicherweise in der folgenden Art und Weise:
[18]»Aus der Klosterregel des Benedikt:
Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens,
nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn, damit du durch
die Mühe des Gehorsams zu dem zurückkehrst, den du durch die Trägheit des Ungehorsams
verlassen hast.«[20]
[19]Eine kontextbezogene Beurteilung des Textinhalts kann auf der Grundlage dieser didaktischen Reduktion kaum gelingen, da (1) mediale und materielle (2) sowie intentionale und rezeptionsbezogene Aspekte unberücksichtigt bleiben (müssen). Die für das monastische Mittelalter konstituierende Textquelle ist im Folgenden in einer repräsentativ aufwendig gestalteten Handschrift aus dem 13. Jahrhundert aus dem norddeutschen Zisterzienserinnenkloster Wöltingerode überliefert (Abbildung 1) und lässt sich über das Internetportal der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel[21] per Mausklick am Bildschirm durchblättern.
[20]Quellenarbeit sollte »Eureka-Erlebnisse«[22] für die Lernenden bereithalten. Diese aufwendig ausgestaltete und großformatige Handschrift macht deutlich, dass dieser hier überlieferte Text vermutlich weniger im privaten, sondern eher im gemeinschaftlichen Gebrauch war. Dies wird insbesondere durch einen kodikologischen Vergleich mit weiteren digitalisierten Handschriften deutlich.[23] Daraus können sich weitere Erkenntnisse ergeben, z. B. dass die Bücher im Kloster distributiv und zweckorientiert aufbewahrt worden sind. Diese Erkenntnisse geben Anlass zu weiterführenden Fragen und Recherchen, beispielsweise zu den wichtigsten Aufbewahrungs- und Lektüreorten in den Gebäuden eines Klosters. »Einzelquellen werden so sorgfältig eingebettet, erklärt und kontextualisiert.«[24] Durch eine wissenschaftlich angelehnte Interaktion mit dem Original sind die Lernenden nicht mehr von vornherein einer subjektiven Narration von Geschichte ausgesetzt. Die Kodikologie und die Paläographie bieten den Lernenden die Gelegenheit, den Textquellen in ihrem originalen Zustand unter Einbezug ihrer materiellen Überlieferung zu begegnen, mit hoher Motivation zu bearbeiten, zu verstehen und letztlich im historischen Kontext einzuordnen.
4. Hochschuldidaktische Umsetzung in einem kohärenten
Lehr-Lernkonzept
[21] Die Möglichkeit jederzeit und kostenlos auf digitalisierte Quellen zurückgreifen zu können, macht es lohnenswert, die Historischen Grundwissenschaften im geschichtsdidaktischen Diskurs stärker zu berücksichtigen und für die Förderung historischen Lernens nutzbar zu machen. In Bezug auf die Historischen Grundwissenschaften wäre eine stärker geschichtswissenschaftlich orientierte Ausbildung für zukünftige Geschichtslehrkräfte wegweisend. Dass die Historischen Grundwissenschaften an den Hochschulen institutionell vornehmlich der geschichtswissenschaftlichen Mediävistik zugeordnet werden, erschwert jedoch einen solchen intradisziplinären Austausch.
[22]Die Veranstaltung »Geschichtswissenschaft im Auftrag der Geschichtsdidaktik. Historisches Lehren und Lernen mit Datenbanken und digitalisierten Quellen« wurde im Sommersemester 2018 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit zehn Studierenden im Rahmen ihrer geschichtsdidaktischen Ausbildung durchgeführt. Der Schwerpunkt lag auf der Nutzbarmachung digitalisierter Quellen für den Geschichtsunterricht unter Zuhilfenahme der Historischen Grundwissenschaften. Die Veranstaltung war als kohärentes Lehr-Lernkonzept angelegt und wurde im Rahmen des bundesweiten BMBF-Projektes »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« im Teilprojekt »Lehrkohärenz in der Lehre« durchgeführt.[25] Da Lehrkräfte Kompetenzen aus unterschiedlichen Handlungsfeldern (d. h. aus Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften) benötigen,[26] wurde eine systematische und sinnbildende Vernetzung der verschiedenen Teildisziplinen (Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik) als eine Möglichkeit gesehen, das Lehramtsstudiums zu professionalisieren.[27]
[23] Die Veranstaltung war grundsätzlich von drei Zielen geleitet:
- Studierende können die Historischen Grundwissenschaften in ihren Grundzügen bei der Arbeit mit digitalisierten Quellen anwenden.
- Studierende können Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Arbeit mit abgedruckten Schulbuchquellen und digitalisierten Quellen erläutern.
- Studierende können Unterrichtszenarien auf der Grundlage digitalisierter Quellen konzipieren.
[24] Zunächst bestand die Herausforderung darin, eine abwägende Gegenüberstellung von Schulbuchquellen und digitalisierten Quellen anzuleiten. Daran anschließend wurden die Historischen Grundwissenschaften (Kodikologie, Numismatik, Sphragistik, Epigraphik) als notwendige Kompetenz beim Umgang mit digitalisierten Quellen in einen Sinnzusammenhang mit den in der Geschichtsdidaktik diskutierten Quellenarten gebracht (Textquelle, Bildquelle, Sachquelle). Letztendlich wurde die Arbeit mit digitalisierten Quellen vor dem Hintergrund geschichtsdidaktischer Prinzipien begründet. Die zeitliche und kognitiv-emotionale Aufhebung von Vergangenheit und Gegenwart leistet z. B. einen Beitrag zum Fremdverstehen im Prozess historischen Denkens und Lernens.[28] Durch einen Vergleich lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen der mittelalterlichen handschriftlichen und gegenwärtigen – sowohl gedruckten als auch digitalen – Buchkultur feststellen, wie Klein- und Großschreibung, Überschriften, Absätze, Kopftitelzeilen und die Gestaltung der Seitenränder. Auch die Buchdeckel und deren individuelle Gestaltung sowie die Schutzumschläge und Vorsatzblätter (mit persönlichen Hinweisen) oder Titel sind zu nennen. »Ziel dieses Verfahrens ist es, geschichtliche Wirklichkeiten im Vergleich mit der Gegenwart deutlich zu machen. Indem der Historiker über ähnliche Denkweisen, Erfahrungen, Gefühle und Verhaltensweisen verfügt […], kann er Parallelen und Unterschiede aufzeigen, die ihm als Analogieschluss Ereignisse und Handlungen der Geschichte verständlich erscheinen lassen.«[29] Zudem regen digitalisierte Quellen zum handlungsorientierten Geschichtsunterricht an. Durch die bewusste Interaktion mit den Quellen in Anlehnung an die Historischen Grundwissenschaften erfolgt eine Imitation der Arbeitsweise von Historikerinnen und Historikern. Die Lernenden können ein Verständnis dafür entwickeln, was die Geschichtswissenschaft als Disziplin ausmacht. »Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Handlungen, ähnlich denen einer Historikerin / eines Historikers dann das Historische Lernen fördern, wenn sie geeignet sind, ein kritisches Bewusstsein dafür zu wecken, wie Geschichte entsteht und welche Rolle den in Archiven aufbewahrten Quellen oder auch Zeitzeugenaussagen zukommt.«[30] Es ist sogar denkbar, dass die Lernenden selbst eine Quelle didaktisch aufbereiten und sich so nicht nur in die Rolle eines/r Historikers/-in, sondern auch in die eines/r Geschichtsdidaktikers/-in versetzen. Abschließend wurden am Beispiel der digitalisierten Benediktsregel Unterrichtszenarien konzipiert.
[25]Begleitet wurde die Veranstaltung von einer explorativ angelegten Umfrage, mit der lediglich das Potenzial und die Herausforderungen kohärenter Lehr-Lernkonzepte aus der Perspektive der zukünftigen Geschichtslehrkräften erhoben wurden (siehe Tabelle 1 und 2).
Skala: 1: stimme nicht zu; 2: stimme eher nicht zu; 3: teils, teils; 4: stimme eher zu; 5: stimme zu.
Tab. 1: Befragung zu »Vernetzung von Methoden der Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik«
Das erste Beispielitem macht deutlich, dass die Thematisierung von geschichtswissenschaftlichen Methoden im geschichtsdidaktischen Kontext einen Beitrag zum Verständnis einer professionsorientierten Geschichtswissenschaft, d. h. einer auf den Lehrberuf bezogenen Disziplin, leisten kann (siehe Tabelle 1). Auch die qualitativen Rückmeldungen zeigen, dass der professionsorientierte Praxisbezug der Geschichtswissenschaft durch den Einbezug der Geschichtsdidaktik positiv bewertet wurde. Das zweite Item zeigt demgegenüber, dass die Herausforderung für die Studierenden, die anwendungsbezogene inhaltliche Verknüpfung beider Disziplinen, nicht unterschätzt werden sollte.
[27]Tabelle 2 zeigt, dass die Studierenden nach dem Besuch des Seminars insgesamt mehr Vor- als Nachteile in der schulischen Nutzung digitalisierter Quellen sahen. Deutlich wird aber auch, dass die von den Studierenden wahrgenommen Nachteile im Lernprozess nicht außer Acht gelassen werden dürfen, da diese für den eigenen Lernprozess hinderlich sein können. Insbesondere die Aufbereitung und Übersichtlichkeit der Datenbanken, die bereitgestellten Informationen zu den Digitalisaten bzw. über die Digitalisate sowie die Aktualität und Vollständigkeit der Datenbanken wurden von den Studierenden als problematisch und lernhinderlich empfunden. Die Fähigkeit, mit diesen durchaus fachübergreifenden Besonderheiten digitaler Medien professions- und lösungsorientiert umgehen zu können, ist Teil einer fachspezifischen Historischen Medienkompetenz, die es in der Geschichtslehrerbildung zu fördern gilt.
<Skala: 1: stimme nicht zu; 2: stimme eher nicht zu; 3: teils, teils; 4: stimme eher zu; 5: stimme zu.
Tab. 2: Befragung zu »Umgang mit digitalen Angeboten im schulischen Kontext«.
5. Zugangsmöglichkeiten: Datenbanken
[28]Datenbanken bieten Geschichtslehrkräften die Möglichkeit, Quellen im Allgemeinen oder auch konkrete Schulbuchquellen in ihrer digitalen Darstellung für ihren Unterricht zu recherchieren. Eine gut nutzbare Datenbank zeichnet sich vor allem durch die Übersichtlichkeit der Suchfunktionen und die Verständlichkeit der zur Verfügung gestellten Informationen aus. Bei der Auswahl von Datenbanken für den schulischen Gebrauch sind vor allem folgende drei Punkte zu beachten: Zum einen ist der regionale Sammlungsschwerpunkt der Datenbanken[31] für den jeweiligen Schulstandort und zum zweiten der zeitliche Sammlungsschwerpunkt der Datenbanken[32] bei der Stoffverteilung der Epochengeschichte in den jeweiligen Klassenstufen zu beachten. Insgesamt kann zwischen Datenbanken unterschieden werden, die an einen wissenschaftlichen und / oder nicht-wissenschaftlichen Kreis von Nutzenden adressiert sind. Im Folgenden soll eine Auswahl an Datenbanken genannt werden, die für den schulischen Gebrauch explizit ausgewiesen sind bzw. für diesen Zweck geeignet erscheinen.
[29]Das Onlineportal Leo-BW[33] (Landeskunde online entdecken – Baden-Württemberg) ist ein landeskundliches und interdisziplinäres Informationssystem unter Federführung des Landesarchivs Baden-Württemberg und versteht sich als Beitrag zur kulturellen Bildung und Informationsgesellschaft. Das Portal verweist explizit auf die Nutzung im Schulunterricht und möchte damit die Medienkompetenz stärken. Hilfreich sind vor allem die Suchfelder ›Highlights‹ und ›Themen‹, die für Geschichtslehrkräfte eine erste Orientierung oder Anregung für den Unterricht bieten können. Verstärkt interaktiv angelegt ist hingegen das Schweizer Portal Ad fontes,[34] eine Einführung in den Umgang mit Quellen im Archiv, die in Kooperation mit dem Stiftsarchiv Einsiedeln, den Staatsarchiven Aargau und Zürich und dem Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St. Gallen entstand. Dieses Portal richtet sich ausdrücklich sowohl an Laiinnen und Laien als auch an Expertinnen und Experten. Über die Registerkarte ›Training‹ lassen sich Transkriptionsübungen u. a. zu deutschen und lateinischen Texten durchführen. Das Ergebnis wird, ganz im Sinne eines Selbstlernprogramms, sogleich angezeigt bzw. korrigiert. Empfehlenswert ist ebenso die Plattform eStudies[35] des Historischen Seminars der Universität zu Köln, die sich vor allem an Studierende jeden Semesters richtet. Die ›eTutorials‹ listen nicht nur epochenspezifische Datenbanken auf, sondern zielen durch die Bereitstellung von zusätzlicher Literatur auch auf die Vermittlung von methodischem Grundwissen bei gleichzeitigem Aufbau von Onlinekompetenzen bzw. fachbezogener digitaler Kompetenzen. Der Vorteil liegt auch darin, dass die Initiatorinnen und Initiatoren zur selbstständigen Erweiterung der Plattform aufrufen, wohingegen der Nachteil sicherlich in der Überprüfbarkeit der extern bereitgestellten Daten liegt, die nur bedingt von Geschichtslehrkräften zu leisten ist.
[30] Neben Datenbanken, die explizit für den Bildungsbereich ausgewiesen werden, gibt es zahlreiche Datenbanken, die von Geschichtslehrkräften für schulische Zwecke erst (mühsam) erschlossen werden müssen. Wünschenswert sind vonseiten der Bibliotheken und Archive zuweilen benutzungsfreundliche Tools und eine verbesserte Schlagwortsuche, die sich auch an den Begrifflichkeiten der Lehrpläne orientieren könnte. Entwicklungspotenzial besteht jedoch vor allem darin, die in den Schulbüchern zuweilen kanonisch tradierten Quellen mit einem Klick zugänglich zu machen, sodass die Möglichkeit besteht, Schulbuchquellen unkompliziert für die Unterrichtsvorbereitung zu recherchieren oder im Unterricht als Vergleich zur abgedruckten Quelle heranzuziehen.
6. Fazit und Ausblick
[31]Durch die Digitalisierung von historischen Quellen können neben Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftlern insbesondere Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer zum Kreis der von Digitalisaten Adressierten und diese Nutzenden gezählt werden. Die digitale Entgrenzung des Zugangs zu historischen Quellen solle nach Schlotheuber und Bösch zugleich mit einer wachsenden Kompetenz der heutigen und zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer einhergehen.[36] So wird der fachgerechte Umgang mit digitalisierten Quellen Teil einer zentralen fachspezifischen historischen Medienkompetenz, die in der hochschulischen Lehrkraftbildung ebenso fundamental ist wie in der Ausbildung zukünftiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der gezielte Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik ist daher auch für eine polyvalente Hochschullehre notwendig.
[32]Die Digitalisierung von historischen Quellen ist eine Chance, sich im schulischen Kontext auf Quellen in ihrer unveränderten Überlieferung zurückzubesinnen. Die Bearbeitung von Handschriften und den darin enthaltenen Textquellen ist eine anregende Möglichkeit, den Text nicht nur inhaltlich, sondern auch historisch-kulturell als Ganzes zu betrachten. Daraus ergeben sich sowohl Vorteile für die Lehrenden als auch für die Lernenden (Abbildung 2). Für ein solches ganzheitliches Verständnis von Quellen ist eine punktuelle Umsetzung der Historischen Grundwissenschaften als Schlüssel für einen kompetenzorientierten (interdisziplinären)[37] Unterricht notwendig. Auch gilt es, Unterrichtsmaterial für Lehrkräfte zu erstellen, die diese Möglichkeit der Nutzung digitalisierter Quellen im Unterrichtsalltag umsetzbar machen.
[33] Nichtsdestotrotz bleibt anzumerken, dass digitalisierte Quellen nicht den haptischen Umgang mit Quellen und damit die sinnliche Erfahrung mit Vergangenheit ersetzen, so dass der außerschulische Besuch eines Archivs oder einer Bibliothek durch das Internet nicht redundant wird. Auch muss betont werden, dass digitalisierte Quellen nicht gegen abgedruckte (Schulbuch)quellen ausgespielt werden dürfen. Eine unterschiedliche Darstellung von Quellen zieht eine unterschiedliche didaktische Zielsetzung nach sich. Digitalisierte Quellen, wie sie derzeit Archive und Bibliotheken bereitstellen, sind vielmehr als ein erweitertes Angebot für historisches Lernens anzusehen bzw. als digitaler Zugang zur Vergangenheit.
[34]Der schulische Einsatz digitalisierter Quellen hält noch viele zukünftige Forschungs- und Handlungsfelder bereit. Als Handlungsfeld der KMK-Digitalisierungsstrategie wird neben der Verbesserung der digitalen Infrastruktur in den Schulen die Fortbildung von etablierten Lehrkräften genannt. Die hochschulische Ausbildung zukünftiger Geschichtslehrkräfte kann hier hilfreich sein, indem produktorientierte Ergebnisse aus dem hochschulischen Umgang mit digitalen Datenbanken in Fortbildungen vermittelt werden können: Als hochschuldidaktisches Ziel der Geschichtslehrerausbildung ergibt sich die Notwendigkeit, adaptive Lernsysteme und aktivierende Lehrmethoden im Umgang mit digitalen Medien zu entwickeln. Damit geht nicht nur zwingend die Verbesserung der technischen Ausstattung in den Schulen, sondern auch in den Hochschulen einher. Nicht zuletzt bleibt zu betonen, dass mangelnde Medienkompetenz zukünftiger Lehrkräfte nicht selten das Resultat mangelnder Kompetenz von Hochschullehrenden ist, sodass sich hieraus ebenso ein Handlungsbedarf ergibt.