Abstract
Die vorliegende Studie präsentiert und erprobt eine Methodik, mit der die Paratexte eines mittelgroßen Textkorpus erfasst und analysiert werden. Zunächst wird eine Einführung in die Erzähltheorie gegeben, dann werden die einzelnen methodischen Schritte zur Erfassung der unterschiedlichen paratextuellen und textuellen Signale ausführlich dargelegt. Deren Quantifizierung ermöglicht ein Clustering und damit die Zusammenfassung der untersuchten Texte in Gruppen. An einem Korpus von 103 wissenschaftlichen Ethnografien wird beispielhaft vorgeführt, zu welchen Ergebnissen die Analyse von Paratexten führen kann. Sie zeigt, dass ethnografisches Schreiben im 20. Jahrhundert zwischen einer wissenschaftlichen Darstellung einerseits und einer autobiografischen Erzählform andererseits changiert. Die Analyse nimmt dabei sowohl das Textkorpus als Ganzes in den Blick als auch die Entwicklungen im Zeitverlauf. Hieran lässt sich die Geschichte der Disziplin nachvollziehen, die das Forschersubjekt zunächst passiv als neutralen Beobachter konzipiert hat und erst in jüngerer Zeit als aktiv interagierende Persönlichkeit präsentiert. Der Schlussteil diskutiert Möglichkeiten zur Automatisierung der Datenerhebung sowie den Einsatz von machine learning-Verfahren. Das Potential von Paratextanalysen, Einsichten in die sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vollziehende funktionale Ausdifferenzierung der Darstellungskonventionen zu gewähren, wird so umrissen.
1. Einführung
[1]Wir denken uns einen Leser, der eine Buchhandlung betritt. Er steuert auf ein Regal zu, das beispielsweise mit »Geschichte« annonciert wird, und nimmt aufs Geratewohl einige Bücher heraus. Innerhalb von wenigen Minuten kann er entscheiden, ob er eine Autobiografie, einen historischen Roman oder ein wissenschaftliches Werk vor sich hat – und das, obwohl weniger als ein Viertel aller Bücher über einen Genrehinweis verfügt.[1] Ähnlich verhält es sich bei literarischen Werken. Klappentexte und weitere Hinweise informieren ihn über Form und Inhalt der Bücher. Zweifellos beherrscht unser Leser eine Kulturtechnik, die er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat. Signale im Text, und vor allem an den Texträndern, unterstützen ihn bei seiner Einschätzung.
[2]
Wie funktioniert dieser Prozess genau? Lassen sich die Signale, die der Text
aussendet, kategorisieren, erfassen und systematisch auswerten? Wie könnte ein
Arbeitsablauf dafür aussehen? Zu welchen Erkenntnissen kann eine solche
kurzfristig-oberflächliche Analyse von Texten führen, wenn ein ganzes Textkorpus
erfasst wird? Diesen Fragen ist die folgende Studie[2] gewidmet, die
zunächst in die Theorie einführt, dann eine Methodologie präsentiert und anschließend
an einem Korpus von 103 wissenschaftlichen Ethnografien beispielhaft vorführt, zu
welchen Ergebnissen die Analyse von Paratexten führen kann.
2. Paratexte – die Begleiter der Werke
[3]Das eben eingeführte Beispiel des gedachten Lesers verdeutlicht, dass zunächst zwischen kontextuellen (z. B. Kenntnis der Autor*in oder des Verlags), paratextuellen (Widmungen, Vorworte, Fußnoten, Zitate, Anhänge, Bibliografien, Beiträge der Herausgeber*innen, vom Verlag hinzugefügte Klappentexte) und textuellen Signalen (Erzählinstanz, Personen, Orte, Dialoge, interne Fokalisierung etc.) unterschieden werden muss. Während die paratextuellen Signale – also jene, die den Haupttext selbst begleiten – leicht als Daten erfasst werden können, erfordert beispielsweise die Einschätzung, ob es sich um einen autobiografischen oder einen fiktiven Ich-Erzähler handelt, eine Evaluation durch die Leser*innen. Sie finden z. B. in einem Vorwort Hinweise darauf, ob es sich um Selbsterlebtes oder um eine Fiktion handelt. Kontextuelle Signale wiederum sind Teil des Alltagswissens der Leser*innen; sie variieren je nach ihrer Disposition und Kenntnisstand und werden im Folgenden nicht weiter berücksichtigt, da sie nicht auf eine einfache Weise objektiviert werden können.[3]
[4]
Paratexte sind mit Genette all jene Informationen, die einen Text »umgeben und
verlängern […], um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren; ihn präsent zu machen, und
damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines
Buches zu ermöglichen«.[4] In seiner Studie beschäftigt sich Genette ausschließlich mit
literarischen Werken und richtet sein Interesse auf die Namen der Autor*innen, den
Titel, den Waschzettel (»Klappentext«), Widmungen, Motti, Vorworte, Zwischentitel
und
Anmerkungen.[5] Im Hinblick auf nichtliterarische und vor allem
nichtfiktionale Werke können Illustrationen, Fotografien, Tabellen, Schaubilder,
Karten, Appendizes, Danksagungen usf. ebenfalls als Paratexte verstanden werden.
[5]
Genette unterscheidet darüber hinaus zwischen Paratexten, die von Autor*innen
und/oder Herausgeber*innen im Hinblick auf das Werk hinzugefügt wurden (Peritexte,
z.
B. Widmungen und Danksagungen, aber auch vom Verlag hinzugefügte Informationen wie
Gattungsangaben, Inhaltsverzeichnisse oder Indizes) und werkexternen Paratexten, die
in der Form von Begleitmaterialien dem Text beigefügt werden (Epitexte, hier
insbesondere die verlegerischen Epitexte auf dem Umschlag, aber auch standardisierte
Informationen wie jene Metadaten, die der Deutschen Nationalbibliothek übermittelt
oder als Library of Congress Cataloging-in-Publication Data
erfasst werden). Peritexte und Epitexte teilen sich nach Genette »erschöpfend und
restlos das räumliche Feld des Paratextes«, mit anderen Worten: »Paratext = Peritext + Epitext.«[6] Hier wird vor allem deutlich,
welchen Sinn der Originaltitel des Genette’schen Werkes Seuils hat: Er stellt Paratexte metaphorisch nicht nur als die ›Schwellen‹ vor, die
die Leser*innen zu überschreiten haben, um in den Text zu gelangen, sondern er
markiert die Paratexte auch als ›Schwellenbereich‹, in dem die Gestaltung durch die
Autor*in mit der des Verlages vermittelt wird.[7] An den Paratexten lassen sich daher
Präsentation, Traditionen, gesellschaftliche Konventionen und die Kräfte des Marktes
ablesen und objektivieren.
[6]
Textuelle Signale wie die Erzählposition hingegen sind nicht zu den Paratexten zu
zählen, enthalten aber unverzichtbare Informationen. So finden sich konstitutive
Merkmale faktualer Erzählungen wie die Identität von Autor*in und Erzähler oder die
Unterscheidung von homo- und heterodiegetischer Erzählebene vor allem
textintern.[8]
Auch hier sind die Vorarbeiten von Genette von entscheidender Bedeutung, sind die
Erzählinstanzen doch Träger der generischen Unterscheidung der Texte, denn die Genres
der Fiktion, der Autobiografie und der faktualen Erzählung sind durch einen
charakteristischen Einsatz der Erzählerpositionen gekennzeichnet, insbesondere was
die Beziehung zwischen Erzähler, Autor*in und Figur angeht.[9] So signalisiert die Identität von Autor*in (A),
Erzähler (N) und Person (P) eine Autobiografie, zusammengefasst in der Formel A =
N =
P. In einer Biografie hingegen sind die Autor*innen nicht identisch mit den Personen,
über die sie schreiben, also gilt: A = N; A ≠ P; N ≠ P. Die Analyse der Beziehungen
zwischen Autor*innen, Erzähler und den im Text vorkommenden Personen sowie die
Unterscheidung von homodiegetischer (der Erzähler ist Teil der erzählten Welt) und
heterodiegetischer Ebene (der Erzähler ist nicht Teil der erzählten Welt) erlauben
also Aussagen über den ontologischen Status des Textes.
[7]
Um wie der gedachte Leser aus der obigen Einführung eine Reihe von Texten anhand
ihrer Paratexte sowie textinterner Merkmale wie der Erzählsituation zu evaluieren,
müsste daher die Gesamtheit der Paratexte und der Erzählinstanzen sowie weiterer
textinterner Hinweise wie Dialoge oder Verben der Aktivität oder internen
Fokalisierung erfasst werden. Die Kombination dieser Signale sowie ihre je
unterschiedliche Gewichtung kann dann der Identifikation von Texten dienlich gemacht
werden, die von der Form her analog gestaltet sind. So lassen sich einzelne Gruppen
von Texten voneinander abgrenzen, wiederkehrende Muster identifizieren, typische
Darstellungen ermitteln und konventionelle Präsentationen von unkonventionellen
unterscheiden. Wo das untersuchte Textkorpus groß genug ist und sich auch eine
zeitliche Tiefenstaffelung findet, lassen sich Entwicklungen im Zeitverlauf
nachzeichnen.
[8]
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Erfassung eine große Datenmenge produziert,
die manuell kaum noch ausgewertet werden kann, sobald das Korpus groß wird. Obwohl
in
der vorliegenden Studie mit dem einleitend entworfenen gedachten Leser einer
Herangehensweise gefolgt werden soll, die die Alltagserfahrung aller routinierten
Leser*innen abbildet und verlängert, muss doch auch auf die Eigenheiten verwiesen
werden, die die Bearbeitung größerer Datenmengen, die Umwandlung textueller und
grafischer Informationen in Zahlenwerte und das Clustering der
Werte mit sich bringen. Hier wird der Übergang von einem hermeneutischen Verstehen
zu
den Digital Humanities vollzogen. Die abstrakte Relationierung
von Textsignalen in Form von Mustern lässt sich nicht vollständig mit dem Erleben
von
Texten durch die Rezipient*innen vermitteln. Sie führt zwar dazu, dass typische
Muster wie etwa Genrekonventionen ermittelt werden und diese auch die Leseerfahrung
der Rezipient*innen bestätigen können, aber zum einen können aus den erhobenen Daten
keine Kausalzusammenhänge abgeleitet werden, die erklären, wie und warum es zu einer
spezifischen Konfiguration von Werten kam (dies ist die Aufgabe der
Literaturgeschichte), zum anderen bilden geclusterte Daten Muster, die nie perfekt
sind, weshalb nach Erklärungen für die Übergänge zwischen typischen Merkmalsgruppen
gesucht werden muss (dies ist die Aufgabe der Allgemeinen Literaturwissenschaft).
Hier zeigt sich eine spezifische Herausforderung für die Geisteswissenschaften und
der von ihnen betriebenen hermeneutischen Interpretation: Wo akkumulierte und
relationierte Daten gedeutet und erklärt werden sollen, bedarf es Erkenntnissen und
Einsichten, die aus dem genuinen Bereich der Geisteswissenschaften – hier der
Literaturwissenschaft – stammen, und die mit den Ergebnissen der Datenanalyse
harmonisiert werden müssen, um überzeugende Erklärungen vorlegen zu können.
Kausalattribuierungen sind daher nur im Rahmen der Kontextualisierung der Daten und
ihrer Interpretation möglich. Dies wird im Auswertungsteil der vorliegenden Studie
sehr deutlich werden.
3. Methodologie
[9]Im Folgenden wird beschrieben, wie auf der Grundlage von 103 wissenschaftlichen Ethnografien Daten erhoben und ausgewertet wurden. Die Leitfragen waren dabei folgende:
- Wie lassen sich Darstellungskonventionen in der Ethnologie beschreiben?
- Können Abweichungen von diesen Konventionen identifiziert werden und wie sehen sie aus?
- Wie funktionieren Gattungsprogramme, wie wird ethnologisches Schreiben generisch formatiert?
- Wie formatieren Paratexte und textinterne Signale die Darstellung von Feldforschungen und damit von publiziertem ethnologischem Wissen?
- Wie bedingen sie die Darstellung von Objektivität und Subjektivität in der Ethnologie?
[10]
Die Auswahl der zu untersuchenden Texte stellte eine erste Herausforderung dar. Da
in
der Ethnologie bislang noch kein Katalog der bedeutendsten Werke existiert – etwa
in
Form einer Liste der am häufigsten zitierten Texte[10] – und damit
kein etablierter Kanon vorliegt, hätte ein alternativer Weg darin bestanden, eine
repräsentative Stichprobe aus einer Grundgesamtheit ziehen. Diese Grundgesamtheit
könnte kumulativ aus dem Katalog der Library of
Congress kompiliert werden, indem beispielsweise die Library of Congress Subject Headings Ethnology und Anthropology miteinander kombiniert werden. Eine Recherche ergab, dass allein mit dem Subject Heading Ethnology und seinen Unterkategorien über 23.000 Titel in vielen Sprachen verknüpft
sind. Da davon ausgegangen werden kann, dass ein Großteil dieser Monografien nur in
gedruckter Form vorliegen und nicht elektronisch verfügbar sind, erschien der Aufwand
für die Literaturbeschaffung unangemessen für eine Pilotstudie, denn die
Datenerhebung verlangt eine Autopsie der einzelnen Titel.
[11]
Die Textauswahl erfolgte daher pragmatisch in zwei Schritten. Zunächst wurde auf die
Social-Reading-Plattform Goodreads zugegriffen, auf der die Leser*innengemeinschaft Bücher
nach Genres klassifiziert. Gegenwärtig sind dort 29.260 Titel unter dem Stichwort
Anthropology verzeichnet. Diese Liste wurde in einem ersten
Schritt nach dem Kriterium der Häufigkeit sortiert, in diesem Fall die Häufigkeit
der
Zuweisung des Labels Anthropology zu einem Titel. So kam eine
erste Auswahl von rund 1.750 Werken zustande, die im csv-Format exportiert wurden.
Diese Auswahl erlaubte – bei aller Ungenauigkeit und Willkür, die
Social-Reading-Plattformen mit sich bringen – eine erste Abschätzung des Korpus im
Hinblick auf die Anzahl von Publikationen im Zeitverlauf, auf den Anteil von Frauen
und Männern als Autor*innen der Werke, auf die Publikationsorte[11] sowie auf die am
häufigsten verwendeten Wörter in den Titel.
[12]
In einem zweiten Schritt nahm ein Fachkollege, der Sozial- und Kulturanthropologe
Prof. Dr. Thomas Stodulka (FU Berlin), eine engere Auswahl von 103 Titeln aus dieser
ersten Auswahl vor. Hier wurden ausschließlich Monografien ausgewählt, die als
wissenschaftlich relevant im Sinne ihrer diskursbildenden Geltung angesehen wurden.
Die Anzahl der ausgewählten Werke wurde proportional ins Verhältnis zur ersten
Auswahl von 1.750 Titeln gesetzt (Anzahl Titel pro Jahrzehnt, Anteil Frauen/Männer
als Autor*innen, Publikationsorte).
[13]
Diese Auswahl von 103 Ethnografien deckt den Zeitraum von 1839 (Publikation von
Darwins Voyage of the Beagle) bis 2014 ab und umfasst 26 von weiblichen und 77 von männlichen Autor*innen
publizierte Titel. 32 der Titel wurden in Europa, 71 von ihnen in den USA
publiziert,[12] neun in
französischer Sprache, alle weiteren in englischer. Im Rahmen der darauffolgenden
Datenerhebung wurden die Erstausgaben der Texte begutachtet, um die jeweils
zeitgenössische Darstellung in der Originalsprache erfassen zu können. Erhoben wurden
in einer Tabelle Werte für die Paratexte:
- Titel
- Untertitel
- Verlagsort
- Erscheinungsjahr
- Widmung
- Motto
- Danksagung
- Vorwort
- Einführung
- Zwischentitel
- Anmerkungen
- Nachwort
- Anhänge
- Bibliografie
- Inhaltsverzeichnis
- Index
- Glossar
- Illustrationen
- verlegerische Epitexte
[14]
sowie die textinternen Merkmale
- Erzählposition
- Homo- bzw. Heterodiegese
- hervorgehobene Zitate
[15]
Die Paratexte Vorworte wurden in allographe (von fremder Hand) und auktoriale
differenziert, Anmerkungen in Fuß- und Endnoten unterschieden, Illustrationen nach
Farb- und Schwarzweißbildern sowie Portraits von Autor*innen, Karten, Schaubilder,
Tabellen und Zeichnungen getrennt, verlegerische Epitexte in Einführungen ins Werk,
Autor*innenkurzbiografien, Listen weiterer Werke der Autor*innen und Blurbs differenziert. Im Hinblick auf textinterne Signale
wurden die Erzählpositionen nach ihrem ontologischen Status differenziert, bei den
Zitaten wurden lediglich im Text hervorgehobene Zitate sowie ihre Häufigkeit erfasst.
In einem optionalen Feld wurden Besonderheiten der Textgestalt wie etwa die
Wiedergabe direkter Rede oder von Dialogen verzeichnet.
[16]
Den zweiten Arbeitsschritt nach der Erfassung der Daten bildete ihre Umwandlung in
Zahlenwerte, die die Grundlage der quantifizierenden Auswertung bilden. Insbesondere
dieser Arbeitsschritt zeigt die Schwierigkeiten, Schwächen und Fallstricke auf, denen
sich eine quantifizierende Analyse von Paratexten zu stellen hat. Bei einer ganzen
Reihe von Paratexten (Widmung, Motto, Danksagung, allographe und auktoriale Vorworte,
Motto, Einführung, Zwischentitel, Inhaltsverzeichnis, Nachwort, die Klappentexte
Einführung ins Werk, Autor*innenkurzbiographie, Blurbs, Listen
weiterer Titel der Autor*in sowie Fotografie der Autor*innen) wurde lediglich ihr
Vorhandensein oder Nichtvorhandensein registriert, denn hier erschien eine
Quantifizierung – d. h. die Ermittlung ihres Umfangs im Verhältnis zum Gesamttext
–
nicht sinnvoll. Um ein Beispiel zu nennen: Selbstverständlich lässt sich der Umfang
einer Danksagung ermitteln und ihr proportionaler Anteil am Gesamttext errechnen;
es
stellt sich aber die Frage, welche Aussage auf dieser Grundlage getroffen werden kann
und welchen Stellenwert diese Aussage bei der Interpretation der Ergebnisse haben
könnte. Um Darstellungskonventionen zu ermitteln, genügt jedoch zunächst einmal die
Aufzeichnung ihres Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins. Alternativ soll hier eine
weitere Möglichkeit vorgeschlagen werden, der indes in der vorliegenden Studie nicht
nachgegangen wurde: Die Danksagungen kartieren das persönliche Netzwerk der
Autor*innen und bilden damit eine hervorragende Grundlage für
wissenschaftssoziologische Studien sowie die Vernetzung der Autor*innen
untereinander. Vergleichbar verhält es sich mit den Vorworten. Sie sind im Kontext
der vorliegenden Studie vor allem dann interessant, wenn sie nicht von den
Autor*innnen selbst stammen: Ein allographes Vorwort wird häufig von einer Autorität
im Wissenschaftsfeld verfasst und dient der Konsekration der meist noch nicht mit
hohem Sozialkapital ausgestatteten Autor*innen, oder es stammt von der Herausgeber*in
der Reihe, in der die Monografie publiziert wurde. Da das relative Gewicht in der
Unterscheidung zwischen einem Vorwort, das von einer Wissenschaftsautorität verfasst
wurde, und einem Vorwort, das von Reihenherausgeber*innen in häufig standardisierter
Form geschrieben wurde, nicht adäquat quantifiziert werden kann,[13]
und da sich unter den 103 erfassten Titeln nur 17 allographe Vorworte fanden und für
die Interpretation leicht auf die Rohdaten zurückgegangen werden konnte, wurde auf
die Zuweisung einer Gewichtung zu den Vorworten verzichtet.
[17]
Bei anderen Daten erschien die Quantifizierung jedoch sinnvoll: Die Umfänge von
Appendizes, der Bibliografie, des Index, des Glossars oder der unterschiedlichen
Illustrationen (Anzahl von Bildern, Karten, Schaubildern, Tabellen, Zeichnungen)
sowie ihr proportionaler Anteil am Gesamttext lassen sich leicht ermitteln (Anzahl
Seiten des Paratexts pro Gesamtzahl an Seiten bzw. Anzahl von Illustrationen) und
diese Werte stützen als Aussage die Interpretation. So annonciert z. B. eine sehr
umfangreiche Bibliografie, dass es sich bei der Monografie um eine Metastudie
handelt. Nicht einfach zu ermitteln hingegen sind die Umfänge von Anmerkungen. Hier
stellte sich die Vielfalt der Präsentationsoptionen einer einfachen Quantifizierung
entgegen: In den erfassten Werken wurden Endnoten meist in einem eigenen Abschnitt
am
Ende des Buches zusammengefasst; damit ließe sich ihre Seitenzahl bzw. ihr relativer
Anteil am Haupttext einfach bestimmen. Bei Fußnoten hingegen läge der sinnvollste
quantifizierende Zugang in der Ermittlung ihrer Zeichenzahl, die ins Verhältnis zur
Zeichenzahl des Haupttextes gesetzt werden könnte. Dieser Zugang stellt sich jedoch
einer pragmatischen und effizienten Herangehensweise entgegen: Der Großteil der
untersuchten Ethnografien wurden im 20. Jahrhundert publiziert und liegt
ausschließlich in gedruckter Form vor, so dass die Zeichenzahl der Fußnoten nicht
schnell zu ermitteln ist. Noch komplexer verhält es sich, wenn in einem Text sowohl
Fuß- als auch Endnoten verwendet werden. Auch hier läge es nahe, ihren Anteil am
Haupttext über die Zeichenzahl zu bestimmen, was wiederum erfordern würde, auch die
Zeichenzahl der Endnoten zu ermitteln und nicht die Textfläche, die sie belegen.
Solcherlei quantifizierende Bestimmungen werden einfacher möglich sein, wenn alle
Texte digital vorliegen und daher die Zeichenzahl schnell erfasst werden kann; für
die vorliegende Studie hingegen wurde pragmatisch die Anzahl von Fuß- oder Endnoten
pro Seite bestimmt. Dieses Verfahren ist einfach durchzuführen, indem die absoluten
Zahlen der Fuß- bzw. Endnoten ermittelt werden und mit der Anzahl der Seiten des
Haupttextes relationiert werden. Für die Auswertung wurde daher ein Quotient (Anzahl
Fuß- bzw. Endnote pro Seite) errechnet und der sich daraus ergebende Prozentwert
verwendet.
[18]
Vergleichbare Schwierigkeiten ergaben sich auch bei den textinternen Signalen. Hier
zeigte sich einerseits, dass die in der Literaturtheorie von Genette etablierten
Relationen von Autor*in, Erzähler und Person sowie die Unterscheidung von
homodiegetischer und heterodiegetischer Ebene zwar hilfreich sind, andererseits sind
sie in der Praxis aber nicht einfach operationalisierbar, denn häufig werden in den
hier untersuchten Texten nicht nur eine, sondern mehrere Erzählpositionen verwendet.
In der Einleitung wird etwa oft ein autobiografischer Ich-Erzähler verwendet, während
in anderen Textteilen (z. B. einzelnen Kapiteln) heterodiegetisch erzählt wird, z.
B.
auktorial. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie der relative Anteil einer
Erzählposition im Verhältnis zum Gesamttext ermittelt werden kann, eine
Problemstellung, zu der es in der Literaturtheorie bislang keine Antworten gibt.
[19]
Daher wurde auch hier pragmatisch verfahren, indem die im Untersuchungskorpus
verwendeten Erzählpositionen typisiert und die ontologisch strengsten Positionen dem
Gesamttext zugewiesen wurden. Insgesamt kommen im untersuchten Textkorpus vier
unterschiedliche Typen von Erzählern zum Einsatz: In zwei Texten fanden sich fiktive
Ich-Erzähler;[14]
vier weitere Texte arbeiteten mit einem auktorialen Erzähler, der nicht mit einem
Personalpronomen im Text verortet werden kann. Der größte Teil der Texte (67 Werke)
operiert mit einem autobiografischen Ich-Erzähler, d. h. das Personalpronomen wird
von Tätigkeitsverben (»ich sagte«, »ich ging«, »ich fragte«) begleitet; der Erzähler
wird so in Interaktion mit seiner Umwelt gezeigt. Dies trifft zwar häufig nur für
einen Teil der Textfläche zu, dennoch kann man mit recht argumentieren, dass diese
homodiegetische Erzählinstanz auch als diejenige angesehen kann, die für den
Gesamttext bestimmend ist. Die zweitgrößte Gruppe von Texten (30 Werke) setzt eine
Erzählposition ein, die hier summarisch als pluralis auctoris
bezeichnet wird. Es wird entweder ein »Wir« oder ein »Ich« benutzt, um den Erzähler
zu identifizieren und er leitet die Leser durch den Text, bleibt im Gegensatz zum
homodiegetischen autobiografischen Ich-Erzähler dabei aber nur heterodiegetisch an
der Textoberfläche, d. h. er ist nicht Teil der erzählten Welt (»Wie wir eben gesehen
haben«, »ich folgere daraus«, »ich möchte nun in meiner Argumentation voranschreiten«
usf.). Diese letztere Erzählposition weist eine hohe Variabilität auf: Sie kann die
Ergebnisse der Untersuchung mit den Leser*innen vergemeinschaften (»wir sehen nun,
dass«) oder die Leser*in direkt ansprechen (»ich hoffe, es ist klar geworden«). Wie
aus den untersuchten Texten deutlich wurde, bietet diese Erzählposition den
Autor*innen eine hohe Flexibilität und einen großen Gestaltungsspielraum. So weitet
etwa Bronislaw Malinowski diese Erzählsituation auf ein erlebendes »Wir« aus; wie
in
einer Kamerafahrt führt er die Leser*innen an den Schauplatz des Dargestellten: »We
pass several villages«, »As we stand on the wide central space«, »let us imagine that we
are taking a bird's-eye view of a native village, and are trying to form a compound
moving picture of the life of the community«.[15] Ruth Benedict hingegen dehnt den pluralis
auctoris hin zu einer nationalen Gemeinschaft: »Would our army have to
prepare to fight, when we were winning, Our country was not devastated«.[16] Für die Auswertung
wurde dann jeweils nur noch einer der vier verwendeten Typen von Erzählern notiert
–
entweder fiktiver Ich-Erzähler, autobiografischer Ich-Erzähler, auktorialer Erzähler
oder pluralis auctoris. Mit anderen Worten: Wo also ein
autobiografischer Ich-Erzähler in einer Gemengelage mit einem pluralis auctoris oder aber mit einem auktorialen Erzähler verwendet wird,
wurde dem Text die Erzählposition ›autobiografischer Ich-Erzähler‹ zugewiesen, weist
sie doch streng auf die Identität von Autor*in und Erzähler hin. Hier zeigt sich
einmal mehr die Notwendigkeit, Erkenntnisse der Literaturtheorie in der Praxis
anzuwenden und zu überprüfen, gegebenenfalls zu modifizieren und zu differenzieren
und schließlich einer Operationalisierung wie im vorliegenden Fall zugänglich zu
machen.
[20]
Schließlich die hervorgehobenen Zitate. Dass sie überhaupt erfasst wurden, geht auf
den gedachten Leser der Einführung zurück: Ein Leser, der ein Buch in die Hand nimmt,
identifiziert im Sinne seines Alltagswissens ein wissenschaftliches Buch vor allem
anhand der ihm ins Auge springenden hervorgehobenen Zitate, an den Fuß- und Endnoten
sowie den Anhängen. Daher wurden alle Zitate – obwohl sie als textinterne Signale
und
nicht als Paratexte gelten – erfasst, wenn sie etwa durch Kursivierung, Einrückung,
einen kleineren Schriftsatz und engeren Zeilenabstand vom Haupttext abgehoben wurden.
Ebenso wie bei den Anmerkungen lassen sich hier Überlegungen anstellen, wie diese
Zitate quantifiziert werden sollen: Nach Anzahl der Zeichen, nach belegter Textfläche
oder nach Häufigkeit in Relation zum Haupttext. Wie auch bei den Anmerkungen wurde
die Entscheidung hier pragmatisch vorgenommen: Quantifiziert wurden diese Zitate,
indem ihre absolute Zahl erfasst und ins Verhältnis zum Haupttext gesetzt wurde.
Dabei wurden drei Intensitäten unterschieden:
- Hohe Intensität (hervorgehobenes Zitat jede bis jede zweite Seite)
- Mittlere Intensität (Zitat jede dritte bis vierte Seite)
- Geringe Intensität (Zitate auf jeder fünften Seite oder weniger).
4. Das wissenschaftliche Selbst im Wandel: Eine sehr kurze Geschichte
ethnologischer Objektivität
[21]In der nachfolgenden Interpretation der erhobenen Daten wird nicht nur den Leitfragen nach Darstellungskonventionen, der formativen Wirkung von Gattungsprogrammen und den Rahmenbedingungen für Objektivität und Subjektivität nachgegangen, wie sie oben am Beginn des Abschnitts zur Methodologie formuliert wurden. Bereits während der Erfassung der 103 Ethnografien tauchten darüber hinaus spezifischere Fragen auf:
- Können unterschiedliche Gruppen von Texten anhand der verwendeten Paratexte voneinander abgegrenzt werden?
- Welche Schlüsse können auf der Grundlage des untersuchten Korpus von Ethnografien auf die Entwicklung ethnografischen Schreibens im Zeitverlauf getroffen werden?
- Welche Aussagen sind im Hinblick auf Plausibilisierungsstrategien und die Abweichung von Konventionen möglich?
[22]
Für die Auswertung und Interpretation der erfassten Daten wurden jene Werte
verwendet, deren Umwandlung in numerische Zahlen oben im methodologischen Teil
beschrieben wurde. Diese Daten liegen in Tabellenform vor und bilden die Grundlage
der nachfolgend verwendeten Visualisierungen. In einem ersten Schritt wurden die
erhobenen Werte einem Clustering unterzogen, um festzustellen,
ob sich aus der Kombination der Paratexte typische Muster ergeben und sich auf dieser
Grundlage Gruppen von Texten voneinander abgrenzen lassen. Dieses Clustering wurde mit dem freien Werkzeug Bertifier[17]
vorgenommen, das zwei Funktionen miteinander kombiniert: Zum einen fasst es
Datensätze mit ähnlichen Werten zusammen und gruppiert sie, wobei Datensätze, die
weit außerhalb der für eine Gruppe von Datensätzen typischen Werte liegen, in den
Übergangsbereichen zwischen den Gruppen angeordnet werden. Darüber hinaus ermöglicht
das Werkzeug eine Gewichtung einzelner Datenreihen, um etwa die besondere Bedeutung
von Zitaten und Anmerkungen hervorheben zu können. Zum anderen können mit diesem
Werkzeug numerische Werte in visuelle Zeichen (etwa Punkte und Balken) umgewandelt
werden, um die Auswertung grafisch zu erleichtern und Gruppen klarer voneinander
abzugrenzen.
[23]
In der nachfolgenden Grafik (Abbildung 4), die mit Bertifier erzeugt wurde, werden
die Paratexte in Spalten dargestellt, jeder einzelne Titel bildet eine Zeile. Weiße
Punkte veranschaulichen das Vorhandensein eines Paratexts, schwarze Flächen sein
Nichtvorhandensein. Balken hingegen wurden für die quantifizierten Werte verwendet.
Die Größe eines Balkens veranschaulicht dabei die erhobenen Quantitäten. Insgesamt
verdeutlicht die Grafik das Ergebnis des Clusterings und
erlaubt die Abgrenzung von drei Gruppen von Texten.
[24]
Im oberen Teil der Grafik finden sich jene Werke, bei denen die objektivierenden
Paratexte (insbesondere Zitate und Anmerkungen, aber auch Bibliografien, Glossare
und
Indizes) am umfangreichsten sind; sie treten durch die weißen Flächen deutlich
hervor. Im unteren Teil der Grafik werden jene Texte erkennbar, die über nur wenige
Paratexte verfügen und deren Quantität gering ist. Um die Lesbarkeit der Grafik zu
erhöhen, wurden die Erzählpositionen hinzugefügt und durch einen weißen Rahmen
voneinander abgegrenzt; es sind dies von oben nach unten pluralis
auctoris, auktorialer Erzähler, autobiografischer Ich-Erzähler und fiktiver
Ich-Erzähler.
[25]
Die Grafik separiert drei Gruppen von Texten voneinander:
- Die weitaus größte Gruppe ist durch die Proliferation von Paratexten leicht als wissenschaftliche Monografie erkennbar.
- Ganz unten in der Tabelle findet sich eine Gruppe von Texten, die auf Paratexte weitgehend verzichten: Hier sind die beiden Werke zu finden, in denen der fiktive Ich-Erzähler zum Einsatz kommt und damit eine romanhafte Darstellung gewählt wird, sowie eine Gruppe von Texten, in denen ein autobiografischer Ich-Erzähler verwendet und zugleich weitgehend auf den wissenschaftlichen Verweisapparat verzichtet wird.
- Zwischen diesen beiden Textgruppen findet sich eine dritte Gruppe von Werken, die zwar über die typisch wissenschaftlichen Fuß- oder Endnoten verfügen, in denen objektivierende Paratexte wie hervorgehobene Zitate aber gänzlich fehlen und Bibliografien, Glossare und Indizes selten verwendet werden. An diesen drei Gruppen und an den verzeichneten Sonderfällen wird der fließende Übergang im untersuchten Korpus zwischen der wissenschaftlichen Monografie und der Autobiografie deutlich.
[26]
Während diese Grafik einen ersten Überblick über das gesamte Korpus zulässt, erlaubt
sie keine Aussagen über mögliche Entwicklungen im Zeitverlauf. Um diese in den Blick
zu nehmen, wurde auf der Grundlage der erfassten Werte eine Reihe von Histogrammen
erstellt, wobei das erfasste Textkorpus nach Dekaden zusammengefasst wurde. Drei
einzelne Werke, die bereits im 19. Jahrhundert erschienen, wurden den Histogrammen
ebenfalls hinzugefügt.[18] Die nachfolgenden
beiden Histogramme (Abbildung 5 und Abbildung 6) stellen objektivierende (Anmerkungen,
Bibliografie, Indizes und Glossare) und subjektivierende Paratexte (Widmungen,
Danksagungen, Portraitfotos der Autor*innen, Kurzbiografien) einander im Zeitverlauf
gegenüber.
[27]
Hier können folgende Aussagen getroffen werden: Wissenschaftliche Paratexte wie
Anmerkungen und Indizes sind schon früh in den Texten präsent, Glossare und
Bibliografien kommen hingegen erst ab den 1920er bzw. 1940er Jahren hinzu. Bei den
subjektivierenden Paratexten sind Widmungen schon früh vorhanden, Danksagungen kommen
erst ab den 1920er Jahren hinzu und sie gewinnen im Zeitverlauf relativ an Gewicht,
d. h. sie kommen im Verhältnis in mehr Texten vor. Kurzbiografien der Autor*innen
als
Teil des Klappentextes oder im Buch selbst sind erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts
üblich, Porträtbilder von Autor*innen erst ab den 1970er Jahren.[19] Es ist durchaus bemerkenswert, dass Fotografien,
auf denen auch die Autor*in des Buches abgebildet ist, im Bildteil von nur zehn
Texten vorhanden sind.[20] Vor allem an der
deutlichen Zunahme von Danksagungen (»Acknowledgments«, einer typisch
angelsächsischen Konvention), wird damit insgesamt eine relative Zunahme von
subjektivierenden Paratexten gegenüber den objektivierenden erkennbar.
[28]
Diese Verschiebung wird noch deutlicher, wenn man den Einsatz von Vorworten der
Verwendung von Danksagungen gegenüberstellt. In der folgenden Grafik (Abbildung 7)
werden verwendete Vorworte und Danksagungen zusammengefasst, wobei Vorworte von
fremder Hand, d. h. nicht von der Autor*in selbst (allographe Vorwörter), extra
ausgewiesen werden.
[29]
Hier zeigt sich nicht nur die relative Abnahme von Vorworten und die relative Zunahme
von Danksagungen im Verhältnis zur Gesamtzahl der publizierten Titel, sondern auch
ein Funktionswandel: Die allographen Vorwörter verlieren nämlich im Zeitverlauf sehr
stark an relativem Gewicht. Ihre Aufgabe – die Konsekration neuer Autor*innen durch
eine Autorität im Feld – wird ganz offensichtlich obsolet.[21] Sie wird durch eine andere Funktion abgelöst: Die Beschreibung des
persönlichen Netzwerks der Autor*innen, die in der Danksagung vorgeführt wird.
[30]
Fasst man die beiden eben getroffenen Hauptaussagen ›Übergang zur Autobiografie‹ und
›Verschiebung hin zu subjektivierenden Paratexten‹ zusammen, so deutet sich insgesamt
ein Wandel der Darstellungen hin zu einem anderen Objektivitätsverständnis an, das
in
der Integration individueller Wahrnehmungen und der Mitwirkung der eigenen Person
am
Forschungsprozess greifbar wird.[22] Anhand der in dieser Studie erfassten Merkmale kann dieser
Übergang im Zeitverlauf vor allem an der Entwicklung der von den Autor*innen
verwendeten Erzählpositionen und dem Einfügen von Kurzbiografien und Blurbs durch die Verlage abgelesen werden. Die folgende Grafik (Abbildung
8) fasst die erhobenen Werte zusammen.
[31]
Hier wird zunächst einmal deutlich, dass die als pluralis
auctoris zusammengefasste Erzählposition im Zeitverlauf stark an relativem
Gewicht verliert, während der autobiografische Ich-Erzähler an relativem Gewicht
zunimmt – gemessen an der Gesamtzahl der publizierten Titel pro Dekade. Daraus wird
der Wandel der Darstellung des wissenschaftlichen Subjekts und damit der Wandel des
Objektivitätsverständnisses in der Ethnologie greifbar: Während nämlich ein
auktorialer Erzähler oder eine Erzählposition, die nur an der Textoberfläche agiert,
qua Erzählsituation die Darstellung individueller Wahrnehmungen und die Präsentation
der Interaktion zwischen Forscher und Erforschten minimiert, eröffnet erst ein
autobiografischer Ich-Erzähler diese Optionen. Potentiell eröffnet sich mit einer
solchen Erzählposition die Möglichkeit, eigene Emotionen und Empfindungen zu
thematisieren und von der Präsentation eines passiven Beobachtersubjekts zur
Darstellung einer aktiven, interagierenden Forscherpersönlichkeit zu wechseln, welche
die wissenschaftliche Urteilsfindung als Ergebnis eines interaktiven Prozesses
referiert. Stellt man diese Konjunktur des autobiografischen Ich-Erzählers in den
Kontext der ethnologischen Writing Culture-Debatte,[23] in der die Forderung erhoben wurde, dass
sowohl die Stimmen der beforschten Subjekte als auch die der Forscher*innen zum
Ausdruck kommen sollen, dann wird der Übergang zu einer ›dialogischen‹ oder
›polyphonen‹ Ethnografie insbesondere seit den 1980er Jahren nachvollziehbar.
[32]
Ein wissenschaftlicher Autor, der sich in seinem Text in Interaktion mit seiner
Umgebung zeigt – und insbesondere in Interaktion mit seinem Untersuchungsobjekt, den
Menschen und ihrem Verhalten, das er analysiert –, bedarf ganz offensichtlich aber
auch einer Absicherung durch eine Instanz, die ›von außen‹ kommt und ihn als Erzähler
legitimiert. Dies ist die Funktion der Kurzbiografien und Blurbs, die die Verlage einfügen, und die die Autor*innen als
Anthropolog*innen bzw. Ethnolog*innen ausweisen sowie die wissenschaftliche
Institution nennen, in deren Kontext die Studie entstanden ist. So gesehen wird
nachvollziehbar, warum der relative Anteil von Kurzbiografien und Blurbs im Klappentext oder im Haupttext selbst im Zeitverlauf zunimmt. Die
Verlage übernehmen damit eine zentrale Funktion in der Plausibilisierung des
Dargestellten und für die Abgrenzung gegenüber der Autobiografie.
[33]
Diese These wird erhärtet durch eine Beobachtung, die am Untersuchungsmaterial
gemacht werden konnte, die sich aber einer einfachen Quantifizierung entzieht. Bei
der Erfassung der hervorgehobenen Zitate und ihrer Nachweise trat nämlich hervor,
dass zwar häufig Informant*innen wörtlich zitiert wurden und deren Aussagen nicht
selten auch in direkter Rede oder sogar in Dialogform wiedergegeben wurden. En détail belegt werden diese Zitationen aber zumeist nicht,
und häufig fehlt in den Ethnografien auch ein pauschaler Hinweis auf die »field
notes«, die während der Studie vor Ort niedergeschrieben wurden, oder der Hinweis
auf
Tonbandaufnahmen oder gar Videointerviews.[24] Selbst wo auf
diese Rohdaten verwiesen wird, haben die Leser*in oder die Wissenschaftler*in keinen
Zugriff auf sie. Es wurde nämlich kein einziger Nachweis ausfindig gemacht, in dem
formuliert wurde, dass die »field« notes in einer Bibliothek oder einem Archiv
deponiert wurden, um möglicherweise nachfolgenden Generationen von Forscher*innen
als
Vergleichsmaterial oder Studienobjekt dienen zu können.
[34]
Textpragmatisch gesprochen haben die Leser*innen solcher Studien gar keine andere
Wahl, als der Autor*in zu vertrauen, dass diese ihre Informant*innen wahrhaftig und
aufrichtig zitieren und dass die durch die Autor*innen im Feld gemachten
Beobachtungen glaubwürdig sind. Daher lässt sich hier von einer Analogie zu dem von
Philippe Lejeune formulierten autobiografischen Pakt
sprechen.[25] Lejeune macht in
seinem einschlägigen Werk deutlich, dass bei aller Wahrscheinlichkeit der Referenz
und aller Sicherheit der Authentizität der Autor*in die Faktualität des Genres
Autobiografie nur aus einer Behauptung des Textes abgeleitet
werden kann, nämlich dass Autor*in, Erzähler und Protagonist identisch und die
geschilderten Ereignisse wahr seien. Der autobiografische Pakt beruht auf der
Bereitschaft der Leser*innen, dieser Behauptung Glauben zu schenken und somit dem
Text einen faktualen Status zuzuschreiben. Analog lässt sich hier daher von einem
ethnografischen Pakt sprechen, den Autor*innen und
Leser*innen einer Ethnografie schließen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass
es
eben die Verlage sind, die über ihr symbolisches Kapital als Wissenschaftsverlage
und
über die Objektivierung der Autor*in als Wissenschaftler*innen in einer biografischen
Kurznotiz Glaubwürdigkeit stiften und diese in Blurbs
bekräftigen, die von externen Autoritäten wie Wissenschaftler*innen oder
Journalist*innen verfasst wurden. Es folgt also einer Binnenlogik wissenschaftlichen
Publizierens, wenn Ethnografien, die in Richtung Autobiografie tendieren, durch die
Beglaubigung der Wahrhaftigkeit des Dargestellten vermittels textexterner Instanzen
abgesichert werden. Und so wird auch nachvollziehbar, dass die Funktion der
Glaubwürdigkeitserzeugung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den
Autor*innen allographer Vorworte hin zu den Wissenschaftsverlagen wechselt, die über
Autorenbiografien, Blurbs und Angaben im Impressum
(»nonfiction«) eine Abgrenzung gegenüber Autobiografien und Fiktionen leisten.
[35]
Dass die Entwicklung in Richtung ›autobiografischen‹ Schreibens eine Abkehr von den
tradierten Darstellungskonventionen bedeutete, zeigt eine genauere Betrachtung
einiger weniger ausgewählter Werke aus dem untersuchten Korpus. Als Laura Bohannan
1954 ihr Buch Return to Laughter publizierte, wählte sie für die Veröffentlichung das Pseudonym »Eleonore
Smith Bowen«. In einer vorangestellten und mit dem Pseudonym signierten »Note« führt
sie die Leser*innen über den Status des Textes ein: »All the characters in this book,
except myself, are fictitious in the fullest meaning of that word. [...] When I write
as a social anthropologist and within the canons of that discipline, I write under
another name«. Diese Aussage befremdet, lässt sie doch den ontologischen Status des
Buches im Unklaren – ein Pseudonym stellt bereits eine Fiktionalisierung dar, mithin
muss auch die Erzählerin fiktiv sein und wurde daher auch als »fiktive
Ich-Erzählerin« kategorisiert. Dennoch verdeutlicht die »Note«, worauf es Bohannan
ankommt: »Here I have written simply as a human being, and the truth I have tried to
tell concerns the seachange in one's self that comes from immersion in another and
alien world«.[26] Es geht also um die
Mitteilung einer Wahrheit, die jenseits wissenschaftlicher Wahrheit liegt, mithin
einer Wahrheit der Fiktion. Offensichtlich wählte Bohannan die Form einer fiktiven
Autobiografie, um den zeitgenössischen Konventionen der Ethnografie zu entkommen;
anscheinend sah sie damals keine andere darstellerische Möglichkeit, um der
»Wahrheit«, um die es ihr geht, zum Ausdruck zu verhelfen.
[36]
Colin Turnbull hingegen schien 1961 für die Publikation des Buches The Forest People keinen Anlass für eine Rechtfertigung seiner Darstellungsweise zu sehen. An
diesem Werk tritt zunächst der Verzicht auf fast den gesamten Wissenschaftsapparat
hervor. Das Buch enthält zwar eine Widmung und eine Danksagung, aber lediglich vier
Fußnoten auf 279 Seiten Haupttext. Ein Glossar von fünf Seiten, 3 Karten und 12
Schwarzweißfotos sind vorhanden, Anhänge, Bibliografie, Inhaltsverzeichnis, und Index
fehlen völlig. Ein autobiografischer Ich-Erzähler – textextern abgesichert durch eine
biografische Notiz zum Autor auf den letzten Seiten des Buches – berichtet über seine
Erlebnisse mit den Pygmäen in Ruanda und Burundi, wobei seine Informant*innen
häufiger in direkter Rede wiedergegeben werden.[27] Den Erinnerungen von
Michael Korda, Turnbulls Lektor und Verleger bei dem New Yorker Verlag Simon &
Schuster lässt sich entnehmen, dass Turnbull und Korda zusammen in Oxford studiert
hatten und diese persönliche Verbindung ganz offensichtlich die Grundlage für die
Publikation einer Ethnografie in einem Publikumsverlag darstellte. Die Tatsache, dass
das Buch bis 1999 gedruckt wurde und sich daher einer nachhaltigen Aufmerksamkeit
erfreute, vermerkt Korda nicht ohne Stolz.[28]
[37]
Korda war als Lektor auch dafür verantwortlich, das Simon & Schuster die Rechte
an einer anthropologischen Dissertation erwarb, die in einer Form präsentiert wurde,
die kaum von einer Autobiografie zu unterscheiden ist. Carlos Castanedas 1972
publiziertes Werk Journey to Ixtlan. The Lessons of Don Juan verzichtet nahezu vollständig auf Paratexte. Es finden sich lediglich ein
Inhaltsverzeichnis und eine achtseitige »Introduction«, in der der Autor – wie in
Autobiografien üblich – die Authentizität des Niedergeschriebenen und die
Wahrhaftigkeit der Darstellung beglaubigt.[29] Durch die zahlreichen
Dialoge, die in diesem Buch wiedergegeben werden, nähert es sich formal allerdings
eher dem Roman als einer Autobiografie an; es findet sich kein Hinweis darauf, dass
der Autor ein Aufnahmegerät benutzt hat, um seine Konversationen mit Don Juan zu
dokumentieren. Gelegentlich finden sich im Text authentifizierende Zeitangaben wie
Friday, June 30, 1961[30] oder
Wednesday, December 12, 1962.[31]
Das Vertrauen der Leser*innen in die Wahrhaftigkeit des Wiedergegebenen wird aber
unterminiert, da die jüngste Zeitangabe im Buch zehn Jahre vor der Datumsangabe
liegt, mit der die »Introduction« signiert ist. Dennoch wird es nicht zuletzt diese
behauptete Authentizität gewesen sein, die die Marktförmigkeit des Werkes garantierte
und damit die Grundlage für einen Publikumserfolg bereitstellte: »Our edition of The
Teachings of Don Juan, despite a certain skepticism at S&S [Simon &
Schuster], pole-vaulted onto the best-seller list, and for the next ten years,
Castaneda, in book after book, became a staple in our lives, one of the props on
which the success of the new post-Gottlieb S&S rested«.[32]
[38]
Während Turnbull und Castaneda deutlich die Konventionen wissenschaftlicher
Publikationen ignorieren, bleibt Marjorie Shostaks 1981 publizierte Ethnografie Nisa weitgehend den Traditionen wissenschaftlicher Veröffentlichungen treu. Die
Studie enthält eine »Introduction«, einen »Epilogue« und 70 Endnoten auf 371 Seiten
Haupttext. Im Endnotenanhang werden zu jedem Kapitel kumulativ bibliografische
Hinweise gegeben; ein Glossar und ein Index vervollständigen das Repertoire
objektivierender Paratexte. Anders aber als sämtliche Ethnologien im untersuchten
Korpus zuvor präsentiert Nisa die Aussagen der Informant*innen nicht als kurze, im Text hervorgehobene
Zitate, sondern als Teil des Haupttextes. Der Wechsel von der Stimme der
autobiografischen Ich-Erzählerin zur Ich-Erzählung der Informant*innen erfolgt stets
im Wechsel. Wie Shostak in der »Introduction« angibt, wurden diese Textteile aus 21
Interviews kompiliert, die auf Tonband aufgezeichnet und anschließend transkribiert
und übersetzt wurden.[33] Da diese
Aussagen der Informant*innen etwas mehr als die Hälfte des Haupttextes einnehmen (169
von 332 Seiten oder 51%), kann diese Studie im Rahmen des Untersuchungskorpus als
erste Ethnografie gelten, die eine »dialogische« Ethnologie praktiziert.
5. Diskussion
[39]Ethnografien als wissenschaftliches Genre, das zwischen wissenschaftlichen Monografien mit einem pluralis auctoris und Autobiografien oszilliert – auf diese Formel lässt sich die Auswertung der erhobenen Daten bringen. Dieses Oszillieren lässt sich als Suche nach einer Darstellung verstehen, die adäquat wiedergibt, dass die Ethnologe*in nicht mehr als externe Beobachter*in konzipiert wird, sondern vielmehr als Forschersubjekt, das als mit seiner Umwelt interagierender Akteur und zugleich als wissenschaftlicher Beobachter verstanden wird. Die Tatsache, dass diese Doppelrolle je später im 20. Jahrhundert, desto häufiger gewählt wird, indiziert einen Wandel im Verständnis ethnologischer Objektivität. Der Spagat, der sich aus der Doppelfunktion der Ethnolog*innen als Akteure und Beobachter*innen ergibt, verdeutlicht dabei zum einen das Korsett tradierter wissenschaftlicher Präsentation bzw. der Darstellungskonventionen, zum anderen verweist er auf die Schwierigkeiten der Darstellung, denen sich die Ethnologie vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stellen hatte. So wird nachvollziehbar, warum die Ethnologie eine fachspezifische Debatte zu diesem Thema geführt hat, die unter dem Label Writing Culture ihren Ausdruck fand. Die Inhalte dieser disziplininternen Auseinandersetzung werden anhand der in dieser Studie ausgeführten Erkenntnisse bestätigt und erstmals objektiviert, vor allem anhand des Übergangs zur Autobiografie, der Verschiebung hin zu subjektivierenden Paratexten und der Ablösung von tradierten Darstellungskonventionen.
[40]
Die vorliegende Studie konnte mit 103 Ethnografien nur einen kleinen Teil des
möglichen Textkorpus in den Blick nehmen. Gleichzeitig hat sie die Herausforderungen
aufgezeigt, die sich stellen, wenn ein Korpus untersucht werden soll, das zum großen
Teil im 20. Jahrhundert gedruckt wurde, allen voran die Schwierigkeit der Textauswahl
und der manuellen Datenerhebung auf der Grundlage der gedruckten Werke. Dennoch
konnte diese Pilotstudie auf Basis der getroffenen Textauswahl Hypothesen
formulieren, die relevante Einsichten in die Geschichte der Ethnologie vor allem des
vergangenen Jahrhunderts liefern. Da bereits zwei weitere Paratextstudien auf der
Grundlage anderer Korpora vorliegen, die die Leistungsfähigkeit der Methode unter
Beweis stellen,[34]
sollen im Folgenden Überlegungen angestellt werden, welche Fragestellungen mit einer
Paratextanalyse fruchtbar beantwortet werden können, und Möglichkeiten aufgezeigt
werden, wie sich gegebenenfalls der Prozess der Datenerhebung automatisieren
lässt.
[41]
Wie an den obigen Ausführungen deutlich geworden ist, stellen Paratexte den
Übergangsbereich dar, in dem zum einen die Vermittlung der individuellen
Textgestaltung durch die Autor*in mit den zeitgenössischen, vor allem durch Verlage
geprägten Konventionen vorgenommen wird, zum anderen reflektieren sie die jeweiligen
Genremerkmale und lassen die Übergangsbereiche zwischen unterschiedlichen Genres
erkennbar werden. Während im vorliegenden Fall die Übergänge zwischen
wissenschaftlichen Monografien mit umfangreichem Verweisapparat und autobiografischen
Texten deutlich wurden, lassen sich mit der präsentierten Methodik
literaturgeschichtlich relevante Fragestellungen beantworten, ohne dabei auf die
zeitgenössischen und recht wandelbaren Genrebegriffe zurückgreifen zu müssen.[35] Ertragreich wäre hier beispielsweise eine diachrone Untersuchung der
Entdifferenzierung literarischen und geschichtswissenschaftlichen Erzählens in der
Phase der Etablierung der historischen Wissenschaften, d. h. etwa von der Mitte des
19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine weitere mögliche
Fragestellung fokussiert auf die Unterscheidung fiktionaler und nichtfiktionaler
Texte,[36]
beispielsweise auf die Differenzierung zwischen Fiktion und Biografie seit dem Jahr
1700.[37] Die
beiden genannten Studien von Piper und Underwood basieren hier bislang ausschließlich
auf dem Wortmaterial, das in den Texten verwendet wird. Zu diesen Analysen würde die
Untersuchung von Paratexten eine wichtige literatursoziologische Dimension und eine
hohe Tiefenschärfe hinzufügen, indem sie die zeitgenössischen
Präsentationskonventionen herausarbeitet, ohne sich dabei auf eine Norm stützen zu
müssen, die nur zu einer bestimmten Zeit gültig war. Es leuchtet daher ein, dass sich
eine solche Untersuchung eher im Bereich der Cultural
Analytics befinden würden und weniger im Bereich der
Wissenschaftsgeschichte wie die vorliegende Studie.
[42]
Die Hinwendung zu literaturgeschichtlichen Fragestellungen eröffnet darüber hinaus
die Chance, die Erfassung von Paratexten zu automatisieren und damit die Größe des
Untersuchungskorpus bedeutend zu erweitern. Üblicherweise werden nämlich
retrodigitalisierte Werke nach dem Scannen einer Optical Character
Recognition (OCR) unterzogen und deren Ergebnisse im Standardformat ALTO (Analyzed Layout and Text Object) abgelegt, einem offenen
XML-Schema zur Beschreibung von Layoutinformationen digitalisierter Objekte. Im
ALTO-XML finden sich nicht nur der erkannte Text, sondern auch Informationen zum
Papierformat und zur Position und Größe der erkannten Zeichen. Paratextuelle
Informationen wie Titel, Untertitel, Widmung, Motto, Zwischentitel sowie Fuß- und
Endnoten können an der Größe des Schriftsatzes sowie ihrer Position auf jeder
einzelnen Seite ausgelesen werden.[38]
Vor- und Nachworte, Danksagungen, Einführungen, Bibliografien, Indizes und Glossare
können durch den Abgleich mit den Inhaltsverzeichnissen identifiziert und ihre
Umfänge quantifiziert werden. Die manuell nicht oder nur schätzungsweise zu
erfassende Zeichenzahl von Fuß- und Endnoten kann hier korrekt erfasst werden, ebenso
wie die Häufigkeit und der Umfang hervorgehobener Zitate im Text. Schließlich kann
die Häufigkeit der Personalpronomina »ich« und »wir« sowie ihre Verteilung über den
Text hinweg bestimmt und so eine erste Einschätzung im Hinblick auf die verwendeten
Erzählpositionen erlangt werden.
[43]
Für die Bestimmung der komplexeren textinternen Signale wie Erzählposition und
Unterscheidung von Homo- und Heterodiegese sowie ggf. interne Fokalisierung ist
die Anwendung von machine-learning-Verfahren denkbar. Hierbei
wird ein Teil des Untersuchungskorpus als Ausgangspunkt genommen und wie eben
beschrieben die relevanten Daten aus dem ALTO-XML ausgelesen. Darüber hinaus
bestimmen zwei menschliche Annotator*innen die Erzählpositionen und nehmen die
Unterscheidung von homodiegetischer und heterodiegetischer Ebene vor. Mit den
zusammengeführten Daten wird anschließend eine Maschine trainiert, die die gelernten
Muster auf bislang ungesehene Werke anwendet. So dürfte sich ein verhältnismäßig
kleines Korpus rasch auf mehrere hundert oder tausend Werke erweitern lassen. Da die
Beschäftigung menschlicher Annotator*innen klare Richtlinien erfordert, eröffnet sich
darüber hinaus die Möglichkeit, einen »shared task« für die Annotation der
Genette’schen Konzepte zu entwickeln und so eine automatische Annotation für die
Objektbereiche Erzählposition und Homo-
und Heterodiegese zu erreichen.[39]
[44]
Wo wie eben beschrieben die automatisierte Erfassung größerer Textkorpora
realisierbar zu sein scheint, stellt sich die Frage, ob ein Festhalten an der rein
numerischen Erfassung der Paratexte sinnvoll ist. Das in der vorliegenden Studie
erfasste Korpus von 103 Texten bleibt für denjenigen, der die Werte erhebt, noch
überschaubar, und die Hypothesenbildung erfolgt zeitgleich mit der Datenerhebung.
Größere Textkorpora aber lassen sich auf diese Weise nicht mehr erfassen und
überblicken, und insbesondere die Beobachtung von Übergängen zwischen
unterschiedlichen Gruppen von Texten wird diffizil. Daher erscheint es geboten, die
hier verwendeten, ausschließlich auf numerischen Werten beruhenden Clustering-Verfahren durch Algorithmen zu ergänzen, die in der Lage sind,
inhaltliche ebenso wie numerische features auszuwerten. Eine
solche Herangehensweise ist beispielsweise in der Lage, textuelle Signale wie etwa
charakteristische Authentifizierungsstrategien in Vorworten zu berücksichtigen, und
sie kann auf diese Weise maßgeblich zur Einschätzung beizutragen, ob ein Text als
fiktional oder nicht-fiktional einzuordnen ist. In der Dramenanalyse hat hier bereits
der Einsatz eines Random Forest Classifiers vielversprechende
Ergebnisse gezeigt.[40]
Während also die auf numerischen Werten beruhende Clusteranalyse die Textgruppen und
ihre Übergänge insgesamt in den Blick nimmt, kann der Einsatz eines Random Forest Classifiers dazu beitragen, das Profil einer jeden
Textgruppe schärfer herauszuarbeiten.
[45]
Insgesamt zeichnet sich damit die Möglichkeit ab, komplexe Modelle zu entwickeln,
die
in der Lage sind, jene Kulturtechniken zu objektivieren, deren sich der gedachte
Leser der Einleitung selbstverständlich und wohl auch unreflektiert bediente, in
denen aber das Wissen um wissenschaftlich-objektivierende und
narrativ-subjektivierende Darstellungskonventionen gebunden ist.
Fußnoten
-
[1]Vgl. hier Underwood et al. 2013. Dieser Artikel basiert auf der Auswertung von rund 470.000 Werken in der digitalen Bibliothek HathiTrust.
-
[2]Diese Studie entstand im Rahmen des interdisziplinären Projekts »Die Affekte der Forscher«, gefördert von der VolkswagenStiftung (2013–2017).
-
[3]Potentiell lassen sich Kontextinformationen selbstverständlich als Gesamtheit aller zum Zeitpunkt der Evaluation verfügbaren Informationen beschreiben – etwa über Beiträge in den Medien oder Autorenlexika; der enorme Aufwand, der für ihre Erfassung notwendig wäre, ist offensichtlich.
-
[4]Genette 1989, S. 9. Hervorhebungen im Original.
-
[5]Zu Fußnoten vergleiche hier bereits Grafton 1995, passim.
-
[6]Genette 1989, S. 13.
-
[7]Das lässt sich auch aus der Anspielung auf den Verlag selbst schließen, in dem das Buch publiziert wurde: Das französische Original von Genette 1989 erschien 1987 unter dem Titel Seuils in den Éditions du Seuil.
-
[8]Aber eben nicht nur: Hinweise wie »Nonfiction« oder »Autobiographie« sind gelegentlich Teil der verlegerischen Epitexte.
-
[9]Genette 1992, S. 81–91.
-
[10]Dies wurde anhand der Virtuellen Fachbibliothek Ethnologie / Volkskunde EVIFA überprüft.
-
[11]Eine Visualisierung der Publikationsorte dieser 1.750 Titel im Zeitverlauf wurde im DARIAH-DE GeoBrowser vorgenommen.
-
[12]Eine Visualisierung der Publikationsorte der 103 Ethnografien findet sich im DARIAH-DE GeoBrowser.
-
[13]Das würde voraussetzen, dass sich das symbolische und soziale Kapital eines Autors nicht nur überhaupt bestimmen lassen müsste, sondern es würde auch eine Formel notwendig machen, nach der diese Kapitalsorten in ihrer Verteilung über die verschiedenen sozialen Felder hinweg kumulativ berechnet werden könnten.
-
[14]
-
[15]Malinowski 1932, S. 9, 10, 48f.
-
[16]Benedict / Vogel 1946, S. 3, 22, 313.
-
[17]Vgl. Bertifier. Dank an Jean-Daniel Fekete (INRIA Paris), der dieses Werkzeug mitentwickelt hat und die Autorin und den Autor darauf aufmerksam gemacht hat.
-
[18]Es sind dies Darwin 1839; Tylor 1871; Frazer 1894. Als Grundlage für diese Grafiken diente jeweils nur die An- oder Abwesenheit eines Paratexts, nicht aber sein Umfang.
-
[19]Ihre insgesamt sehr geringe Zahl mag sich auch aus dem Umstand erklären, dass die Klappentexte nicht vollständig erfasst werden konnten. Aus pragmatischen Gründen wurden die erfassten Texte in Bibliotheken untersucht, die häufig darauf verzichten, den Schutzumschlag von Hardcoverwerken zu erhalten, oder aber sie lassen Softcoverausgaben binden, so dass Paratexte wie Einführungen ins Werk, Blurbs, Kurzbiografien auf dem Umschlag oder eben Fotos der Autor*innen verlorengehen.
-
[20]Dies in folgenden Texten: Barley 1986; Barley 1988; Chagnon 2014; Heider 1979; Heyerdahl 1948; Malinowski 1929; Raybeck 1996; Rosaldo 2014; Taussig 1986; Vitebsky 2005. In aller Regel sind dies Frontalaufnahmen der Autoren; kein einziges Foto zeigt eine Dialogsituation, in der der Forscher mit seinen Informant*innen kommuniziert.
-
[21]Die beiden Ausnahmen – das Vorwort von Amartya Sen zu Farmer 2003 sowie das Vorwort der Literaturwissenschaftlerin Jean Franco zur Dissertation von Goffman 2014 – sind in ihrer Funktion wohl interessant, können im Gesamtbild aber vernachlässigt werden.
-
[22]Vgl. zum Wandel des Objektivitätsverständnisses ausführlich Daston / Galison 2007, S. 38–41, 207–209.
-
[23]Diesen Titel trägt der entscheidende Sammelband zu dieser Debatte; vgl. Clifford 1986.
-
[24]Ausnahmen bilden hier beispielsweise Kulick 1998, passim; Hecht 1998, passim, die beide auf Tonbandaufnahmen und angefertigte Transkriptionen verweisen.
-
[25]Lejeune 1975, passim.
-
[26]Alle Zitate Bohannan (Smith Bowen) 1954, S. V. Die zweite Ausgabe dieses Werks trägt den Untertitel An anthropological novel, erschienen Garden City, N.Y.: Doubleday 1964, Bohannan (Smith Bowen) 1964.
-
[27]Turnbull 1961; direkte Rede z. B. auf S. 50, 75, 79, 136, 156, 224.
-
[28]Korda 1999, S. 81.
-
[29]Castaneda 1972, S. 7. Bei dieser Hardcoverausgabe blieb der Schutzumschlag nicht erhalten und konnte daher nicht in die Untersuchung miteinbezogen werden.
-
[30]Castaneda 1972, S. 89.
-
[31]Castaneda 1972, S. 262.
-
[32]Korda 1999, S. 283. Bereits zuvor hatte Korda ein weiteres Erfolgskriterium für Castanedas Buch identifiziert: »In the drug-obsessed culture of the late sixties and early seventies, it was hardly surprising that Castaneda’s doctoral thesis should have broken out of the academic world to become a local best-seller, though it was very possible the first (and last) doctoral thesis to do so«. Korda 1999, S. 277.
-
[33]Shostak 1981, S. 38f.
-
[34]
-
[35]Vgl. zu dieser Problematik ausführlich Underwood 2019, S. 34–67.
-
[36]Dazu schon ausführlich Piper 2018, S. 94–117.
-
[37]Hierzu schon Underwood 2019, S. 1–33.
-
[38]Eine mustergültige Analyse wurde am Beispiel finnischer Zeitungen von Mäkelä et al. 2019 vorgelegt.
-
[39]Vgl. hierzu bereits den »shared task« zu narrativen Ebenen von Reiter et al. 2019.
-
[40]Vgl. hierzu Krautter et al. 2018.
Primärliteratur (Korpus der untersuchten Werke)
- Lila Abu-Lughod: Veiled sentiments: honor and poetry in a Bedouin society. Berkeley, CA u. a. 1986. [Nachweis im GVK]
- Benedict Anderson: Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism. London 1983. [Nachweis im GVK]
- Talal Asad: Formations of the Secular: Christianity, Islam, modernity. Stanford, CA 2003. [Nachweis im GVK]
- Nigel Barley: A plague of caterpillars: a return to the African bush. Harmondsworth u. a. 1986. [Nachweis im GVK]
- Nigel Barley: Not a hazardous sport. London u. a. 1988. [Nachweis im GVK]
- Nigel Barley: The innocent anthropologist: notes from a mud hut. London 1983. [Nachweis im GVK]
- Ethnic groups and boundaries: the social organization of culture difference. Hg. von Fredrik Barth. Bergen 1969. [Nachweis im GVK]
- Gregory Bateson: Naven: a survey of the problems suggested by a composite picture of the culture of a New Guinea tribe drawn from three points of view. Cambridge 1936. [Nachweis im GVK]
- Ruth Behar: The vulnerable observer: anthropology that breaks your heart. Boston, MA 1996. [Nachweis im GVK]
- Ruth Benedict: The chrysanthemum and the sword: patterns of Japanese culture. Boston, MA u. a. 1946. [Nachweis im GVK]
- Ruth Benedict: Patterns of culture. Boston, MA u. a. 1934. [Nachweis im GVK]
- João Biehl: Vita: life in a zone of social abandonment. Berkeley, CA u. a. 2005. [Nachweis im GVK]
- Franz Boas: Anthropology and modern life. New York, NY 1928. [Nachweis im GVK]
- Franz Boas: The mind of primitive man: a course of lectures delivered before the Lowell Inst., Boston, and the Nat. Univ. of Mexico, 1910-1911. New York, NY 1911. [Nachweis im GVK]
- Laura Bohannan (Elenore Smith Bowen): Return to laughter. London 1954. [Nachweis im GVK]
- Laura Bohannan (Elenore Smith Bowen): Return to laughter. An anthropological novel. 2. Auflage. Garden City, NY 1964. [Nachweis im GVK]
- Paul Bohannan / Dirk Van Der Elst: Asking and listening: ethnography as personal adaptation. Prospect Heights, IL 1998. [Nachweis im GVK]
- Philippe Bourgois: In search of respect: selling crack in El Barrio. Cambridge u. a. 1995. [Nachweis im GVK]
- Philippe Bourgois / Jeffrey Schonberg: Righteous dopefiend. Berkeley, CA u. a. 2009. [Nachweis im GVK]
- Jean Louise Briggs: Inuit morality play: the emotional education of a three-year-old. New Haven, CT 1998. [Nachweis im GVK]
- Jean Louise. Briggs: Never in anger: portrait of an Eskimo family. Cambridge, MA u. a. 1970. [Nachweis im GVK]
- Carlos Castaneda: Journey to Ixtlan: the lessons of Don Juan. New York, NY 1972. [Nachweis im GVK]
- Napoleon Alphonseau Chagnon: Noble savages: my life among two dangerous tribes – the Yanomamö and the anthropologists. New York, NY 2014. [Nachweis im GVK]
- Napoleon Alphonseau Chagnon: Yanomamö. The fierce people. New York, NY u. a. 1968. [Nachweis im GVK]
- Pierre Clastres: Archéologie de la violence: la guerre dans les sociétés primitives. La Tour d'Aigles 1999. [Nachweis im GVK]
- James Clifford: Routes. travel and translation in the late twentieth century. Cambridge, MA u. a. 1997. [Nachweis im GVK]
- Jean Comaroff: Body of power, spirit of resistance: the culture and history of a South African people. Chicago u. a. 1985. [Nachweis im GVK]
- Vincent Crapanzano: Tuhami, portrait of a Moroccan. Chicago u. a. 1980. [Nachweis im GVK]
- Charles Darwin: Journal of researches into the geology and natural history of the various countries visited by H. M. S. Beagle, under the command of Captain Fitzroy, R. N., from 1832 to 1836. London 1840. (= Narrative of the surveying voyages of his majesty's ships adventure and beagle, between the years 1826 and 1836, describing their examination of the southern shores of South America, and the Beagle's circumnavigation of the globe; 3) [Nachweis im GVK]
- Mary Douglas: Purity and danger: an analysis of concepts of pollution and taboo. London 1966. [Nachweis im GVK]
- Louis Dumont: Homo hierarchicus: essai sur le système des castes. Paris 1970. [Nachweis im GVK]
- Robert Breckenridge Edgerton: Sick societies: challenging the myth of primitive harmony. New York, NY u. a. 1992. [Nachweis im GVK]
- Edward Evan Evans-Pritchard: The Nuer: a description of the modes of livelihood and political institutions of a Nilotic people. Oxford 1940. [Nachweis im GVK]
- Edward Evan Evans-Pritchard: Witchcraft, oracles and magic among the Azande. Oxford 1937. [Nachweis im GVK]
- Johannes Fabian: Out of our minds: reason and madness in the exploration of Central Africa; the Ad. E. Jensen lectures at the Frobenius Institut, University of Frankfurt. Berkeley, CA u. a. 2000. [Nachweis im GVK]
- Frantz Fanon: Peau noire, masques blancs. Paris 1952. [Nachweis im GVK]
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- Ted Underwood: Distant horizons: digital evidence and literary change. Chicago u. a. 2019. [Nachweis im GVK]
Abbildungslegenden und -nachweise
- Abb. 1: 1750 Ethnografien. Chronologie der Veröffentlichungen. [Kilchör / Lehmann 2020]
- Abb. 2: 1750 Ethnografien. Geschlecht der Autor*innen. [Kilchör / Lehmann 2020]
- Abb. 3: 1750 Ethnografien. Geografie der Publikationsorte. [Kilchör / Lehmann 2020]
- Abb. 4: 103 Ethnografien. Paratexte und Erzählpositionen. [Kilchör / Lehmann 2020]
- Abb. 5: 103 Ethnografien. Objektivierende Paratexte. (chronologisch). [Kilchör / Lehmann 2020]
- Abb. 6: 103 Ethnografien. Subjektivierende Paratexte. (chronologisch). [Kilchör / Lehmann 2020]
- Abb. 7: 103 Ethnografien. Vorworte vs. Danksagungen. (chronologisch). [Kilchör / Lehmann 2020]
- Abb. 8: 103 Ethnografien. Kurzbiografien, Blurbs, Erzählpositionen. [Kilchör / Lehmann 2020]