Mehr als nur Karten. Das Virtuelle Kartenlabor (GlobMapLab) als Zugang zur Sammlung Perthes

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Norman Henniges Autoreninformationen
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DOI: 10.17175/2016_001

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 862979765

Erstveröffentlichung: 08.07.2016

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autoren

Letzte Überprüfung aller Verweise: 23.06.2016

GND-Verschlagwortung: Kartografie | Geoinformationssystem | Archiv |

Empfohlene Zitierweise: Norman Henniges, Susanne Rau, René Smolarski, Heiko Tzschach: Mehr als nur Karten. Das Virtuelle Kartenlabor (GlobMapLab) als Zugang zur Sammlung Perthes. In: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften. 2017. text/html Format. DOI: 10.17175/2016_001


Abstract

Die Sammlung Perthes repräsentiert die Überlieferung eines der wenigen vollständig erhaltenen kartographischen Verlagsarchive. Das Unternehmen trug im 19. und frühen 20. Jahrhundert im erheblichen Maß zur wissenschaftlichen Exploration, Kartierung und Vermessung der Erde bei. Neben den Karten als fertigen Endprodukten enthält die Sammlung auch eng miteinander verflochtene Archivmaterialien, welche in einzigartiger Weise den Kartierungs- und Kartenproduktionsprozess in all seinen Stufen dokumentieren. Der folgende Beitrag wirft einen Blick auf den in der ersten Projektphase neu entwickelten Prototyp eines Virtuellen Kartenlabors, welches die Arbeit mit diesen Materialien in ihren unterschiedlichen Verknüpfungen ermöglichen soll.


The Perthes collection represents the survival of one of the few completely preserved archives of a cartographic publisher. This publishing house significantly contributed to the scientific exploration, mapping, and surveying of the earth in the 19th and early 20th centuries. In addition to the maps as end products, the collection contains unique and closely interconnected archival materials that document the process of mapping and map-making at all stages. The following article presents a new prototype of a virtual map laboratory that was developed in the first project phase, which will allow these materials to be studied within the context of their different connections.



1. Einleitung und Zielstellung

Auf die Frage, wie eine Karte entsteht, antwortete Hermann Haack 1926:

»Was für unklare Vorstellungen bestehen doch darüber in weitesten Kreisen. Wie viele von den zahlreichen Anfragen und Vorschlägen, die der Herausgeber tagaus, tagein unverdrossen und freundlich zu beantworten sich bemüht, beruhen einfach auf völliger Unkenntnis des Wesens der Karte und ihrer Herstellung.«[1]

Was der Chefkartograph des Gothaer Verlages Justus Perthes nicht ganz ohne Ironie bemängelte, war das fehlende Wissen vieler Laien über den komplexen, arbeitsteiligen Produktionsprozess der Kartenherstellung, der den Außenstehenden zumeist verborgen blieb. Dieser Prozess ist im Prinzip bis heute weitgehend unsichtbar geblieben und erschließt sich erst aus der historischen Überlieferung der materiellen Kultur der Kartenverlage.

Als Ende des Jahres 2002 der Freistaat Thüringen mit der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder das historische Erbe der Geographischen Verlagsanstalt Justus Perthes in Gotha erwerben konnte, eröffnete sich für die Forschung ein ebenso reichhaltiger wie einmaliger Fundus. Als eines der wenigen vollständig erhaltenen Firmen- und Familienarchive repräsentiert die Sammlung Perthes die umfassende Überlieferung eines marktwirtschaftlich orientierten Unternehmens, welches im erheblichen Maß zur wissenschaftlichen Exploration, Kartierung und Vermessung der Erde im 19. und frühen 20. Jahrhundert beigetragen hat.[2] Der Verlag selbst war 1785 durch den Rudolstädter Buchhändler Johann Georg Justus Perthes (1749–1816) gegründet und durch dessen Nachfolger zu einer der führenden geographischen Verlagsanstalten ausgebaut worden.[3] Insbesondere durch Mitarbeiter wie Adolf Stieler (1775–1836), Emil von Sydow (1812–1873), August Petermann (1822-1878), Heinrich Berghaus (1797–1884), Carl Vogel (1828–1897) und Hermann Haack (1872–1966) übte der Verlag einen maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der nationalen und internationalen Kartographie und Geographie aus, und dies vor deren eigentlicher akademischer Institutionalisierung. Die zweihundertjährige Verlagsgeschichte wird durch eine Sammlung von 185.000 Karten, eine 120.000 Bände umfassende Verlagsbibliothek sowie ein Verlagsarchiv mit etwa 800 laufenden Metern dokumentiert.[4]

Schon aus dieser Auflistung geht hervor, dass es sich um weit mehr als nur eine historische Kartensammlung handelt, wenngleich diese zweifellos den Kernbestand bildet. Das entscheidende Alleinstellungsmerkmal der Sammlung Perthes ist das mit der Entstehung der Karten verbundene Zusammenhangsmaterial[5], welches sich in einer vergleichsweise kaum noch vorkommenden Fülle und Dichte überliefert ist. Neben den in unterschiedlichen Entwurfsstadien erhaltenen Karten liegt eine große Anzahl verschiedenster Materialien vor, welche den Weg der kartographischen Wissensgenerierung von den ersten Feldbeobachtungen über die Arbeit am Zeichentisch bis hin zur gedruckten Karte dokumentieren, u.a. Feld-, Routen- und Vermessungsaufzeichnungen, Kartenskizzen, Reisetagebücher, Korrespondenzen der Forscher und Entdecker mit dem Verlagshaus, Arbeitstagebücher von Kartographen, Kupferplatten, aber auch Dokumente der einzelnen Werksabteilungen und Rechnungsbücher.[6] Zudem ist eine umfangreiche geographische Spezialbibliothek mit Konvoluten an Literatur und nicht zuletzt Arbeitsinstrumenten und Möbeln erhalten.[7]

Die Frage, in welcher Beziehung einzelne Materialien und Objekte zueinander stehen, aus welchem Grund sie gesammelt und in welchem Zusammenhang sie angewendet wurden, ergibt sich sowohl aus der überlieferten Archivsituation als auch aus der jeweiligen Fragestellung des Forschenden, die mit diesen Beständen arbeiten. Erst aus der Verknüpfung und Rekonstruktion des Zusammenspiels einzelner historischer Akteure und Objekte wird deutlich, wie kartographisches Wissen generiert wurde.

Die Dichte und Vielfalt an Sammlungsbestandteilen sind im internationalen Vergleich beispiellos.[8] Dadurch ist eine einzigartige Ausgangssituation für raumhistorische Untersuchungen im Zeitraum vom späten 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vorhanden, die es ermöglicht, den Prozess der Feldforschung und Kartenentstehung sowie die Verbreitung und Vernetzung geographischen Wissens sowohl in lokalem als auch globalem Maßstab nachzuzeichnen.[9] Nicht zuletzt erlaubt die Sammlung aber auch darüber hinausgehend verschiedenste weitere Fragestellungen für sammlungsbezogene Forschungen.[10]

Um diese reichhaltigen Quellenbestände einer wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, wird seit 2012 im Rahmen des Projektes Globalisierung und lokales Wissen: Sammlungsbezogene Forschungen zur Überlieferung des Verlages Justus Perthes[11] am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt in Zusammenarbeit mit einer studentischen Projektgruppe der TU Ilmenau[12] an der Entwicklung eines Virtuellen Kartenlabors (GlobMapLab) gearbeitet. Das Kartenlabor soll nicht nur einen Zugriff auf die Bestände der Sammlung Perthes erlauben, sondern darüber hinaus auch eine Arbeit mit diesem Material ermöglichen und zur internationalen Profilierung und Wahrnehmung der Sammlung Perthes beitragen. Das GlobMapLab ist somit ein Präsentations- und Arbeitswerkzeug, dass die Verflechtung der Karten und der mit ihnen im Zusammenhang stehenden Materialen thematisiert.

Im folgenden Beitrag möchten wir zunächst umreißen, welche Herausforderungen die Erforschung derartig komplexer Sammlungen im digitalen Medium mit sich bringen, aber auch, welche Möglichkeiten sich dadurch eröffnen. Hierzu werden wir in einem ersten Schritt an zwei Anwendungsbeispielen im Kontext der Sammlung Perthes/FB Gotha zeigen, welche unterschiedlichen Fragestellungen sich aus dem Zusammenhangsmaterial ergeben können. Anschließend wird auf einzelne Aspekte des Prototyps des Virtuellen Kartenlabors detailliert eingegangen.

2. Problemstellung und Forschungstand

Im digitalen Medium bieten sich neue Möglichkeiten für die Erschließung, Nutzung und Erforschung von historischen Sammlungen.[13] Zurzeit werden verschiedene historische Kartensammlungen zu digitalen Bibliotheken weiterentwickelt, die wiederum mit aktuellen Entwicklungen in der Geoinformatik einhergehen. GIS-Technologien ermöglichen Wissenschaftlern, aber auch anderen interessierten Nutzergruppen, die digitalisierten historischen Karten nicht nur zu betrachten, sondern mit ihnen in vielfältigen Anwendungsbereichen zu arbeiten.[14] Dieser Entwicklungsprozess zeigt sich insbesondere an der Entstehung neuer Disziplinen, die sich an den transdisziplinären Schnittfeldern von Geisteswissenschaften und Informatik in den letzten fünfzehn Jahren, zuerst unter den Schlagwörtern der eScience und eHumanities, aktuell unter dem Begriff der Digital Humanities bzw. deren spezifisch raumbezogenen Varianten, den Spatial Humanities und den Historical GIS, entwickelt haben.[15]

Durch die digitale Erschließung werden die Karten aus ihrer statischen Papiergestalt herausgelöst, und damit die Nutzungs- und Anwendungsmöglichkeiten, vor allem auch für historisch arbeitende Geistes- und Kulturwissenschaftler, in einem bisher kaum bekannten Ausmaß erweitert.[16] Digitalisate haben den Vorteil, dass sie überall abrufbar sind, die empfindlichen Originalobjekte nicht beschädigt werden, großformatige Blätter am Bildschirm nebeneinander gelegt und in hoher Auflösung hinein- und herausgezoomt werden können. Durch die Georeferenzierung und Anreicherung mit Metadaten können den historischen Karten zudem raumbezogene Informationen zugewiesen und diese in ein aktuelles geodätisches Referenzsystem integriert werden. Dadurch werden die Karten entzerrt, an aktuelle Geodaten angepasst und können als Feature-Layer über aktuelle GIS-Visualisierungen gelegt werden. Dies erleichtert den Vergleich verschiedener Kartenauflagen und ermöglicht die Darstellung des Landschaftszustands zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Kartenblättern. Mittels einer Reihe von Werkzeugen ist es zudem möglich, durch die Georeferenzierung unter anderem Längen und Entfernungen zu vermessen, Flächeninhalte innerhalb von Vektoren und Polygonen zu bestimmen oder Genauigkeitsanalysen einzelner Karten durchzuführen und diese über mehrere Auflagen und damit verschiedene Zeiten hinweg zu vergleichen.[17]

Neuere Kartenportale wie David Rumsey‘s Historical Map Collection, Old Maps Online, Mapire oder Map Images der National Library of Scotland sowie das Virtuelle Kartenforum 2.0[18] der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden erlauben es dem Nutzer bzw. der Nutzerin, digitalisierte und georeferenzierte historische Karten mittels intuitiver, historisch-raumbezogener Suchen zu recherchieren, zu betrachten und teilweise auch zu bearbeiten. Zudem existiert mit dem Virtuellen Kulturlandschaftslaboratorium (VKLandLab)[19] der Universität Rostock bereits eine funktionstüchtige virtuelle Forschungsumgebung bzw. ein Virtual Research Environment (VRE) zur Erforschung historischer Kulturlandschaften. Allerdings beziehen sich diese Anwendungen fast ausschließlich auf Karten als Endprodukt. Forscher, die sich für die Entstehungsbedingungen der Karten interessieren oder darüber hinausgehend für Objekte, die im Zusammenhang mit der Entstehung der Karten stehen, finden hierzu kaum Anwendungsfelder. Zudem werden aktuelle Forschungsfragen der kritischen Kartographie und der historischen Wissenschaftsforschung, die den Fokus auf die Genese, den Gebrauch und die sozialen Funktionen von Karten setzen, innerhalb der historischen GIS-Forschung bisher kaum berücksichtigt.[20]

Mit ihrer Überlieferungsdichte ermöglicht es die Sammlung Perthes, das Potential einer sammlungsbezogenen und historisch-praxeologischen Forschung in verschiedenste Richtungen auszuloten. Bisher gibt es noch keine digitalen Anwendungen, die es erlauben, historische Karten aus ihren Entstehungs- und Gebrauchszusammenhängen heraus tiefer gehend zu untersuchen und in Beziehung zu jenen überlieferten Materialien zu setzen, die aus dem Verwendungs- und Produktionsprozess stammen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass kaum umfassende Überlieferungen von kartographischen Verlagsarchiven existieren bzw. digital erschlossen sind. Die Sammlung Perthes birgt nicht nur das Potential für eine problemorientierte sammlungsbezogene Forschung, sondern darüber hinaus auch die Möglichkeit verschiedene Forschungsansätze miteinander zu neuen Fragestellungen zu verknüpfen.[21] Die Sammlung bietet aufgrund ihrer einzigartigen Fülle an Materialien die Möglichkeit, die Entstehung und den Gebrauch von Objekten verschiedenster Art innerhalb bestimmter Kontexte, Zusammenhänge und Ordnungen zu rekonstruieren. Neben den Kartographen, Forschungsreisenden und Wissenschaftlern werden dabei auch die verschiedenen weiteren am Kartenproduktionsprozess beteiligten Akteure und deren Praktiken sichtbar, wie unter anderem Verleger, Redakteur, Kupferstecher, Lithograph, Kolorist, Informant, Buchhändler. Ausgehend von der überlieferten materiellen Kultur der Sammlung kann die Kartenproduktion als komplexer soziotechnischer Prozess der Wissensgenerierung in all seinen Stadien und Orten untersucht werden. Nicht zuletzt können auf der Ebene der Akteure Aushandlungs- und Selektionsprozesse, aber auch auf der Ebene der Sammlungsobjekte Praktiken des Umgangs, der Zirkulation und der Herstellung rekonstruiert werden. Das Virtuelle Kartenlabor versucht mit der digitalen Erschließung der Sammlung Perthes einen ersten Schritt in Richtung einer Vernetzung dieser Materialien im digitalen Medium zu gehen.

Die technische Umsetzung einer kombinierten sammlungsbezogenen und praxeologischen Forschung im digitalen Medium ist längst noch nicht vollständig gelöst. Die Ausgangsfrage muss daher nicht nur lauten, von welcher Karte, sondern auch, von welcher Materialgruppe, welchem Akteur und welchem Stadium des Prozesses der Wissensgenerierung der Nutzer ausgehen möchte.

3. Anwendungsbeispiele

Mittels zweier Anwendungsbeispiele soll im Folgenden die Verflechtung der einzelnen Sammlungsbestände wie Karten, Kartenskizzen, Notizen und Korrespondenzen, die im Kartenlabor digital bereitgestellt werden, aufgezeigt und deren Bedeutung für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kartenproduktion des Verlages Justus Perthes im Ansatz verdeutlicht werden.

3.1. Beispiel 1: Reinhold Grundemann

Wenngleich die im Zusammenhang mit der Kartenproduktion stehenden Materialien, Aufzeichnungen und Dokumente einen besonderen Schwerpunkt der Sammlung Perthes ausmachen, auf welche zudem gern der fragende Blick der Forschung gerichtet ist, so stellen diese jedoch nur einen kleinen Ausschnitt des erhaltenen Verlagsarchives dar, ging doch dem eigentlichen Produktionsprozess in der Regel eine mehr oder weniger langwierige Konzeptions- und Planungsphase voraus. Im Verlauf dieser Planungsphase, und darüber hinaus auch die eigentliche Produktion begleitend, entstand ein umfangreiches Schrifttum, welches neben den auf die Karten selbst bezogenen Quellen im Archiv des Perthes Verlags erhalten geblieben ist. Eben dieses Material ermöglicht der Wissenschaft einen Einblick in die Entstehungszusammenhänge der unterschiedlichsten Verlagsprodukte, zu welchen neben anderen auch die verschiedensten Atlanten gehören. Eines dieser Werke, dessen Entstehungsprozess durch die Bestände der Sammlung Perthes besonders detailliert und umfassend dokumentiert ist, ist der , welcher zwischen 1867 und 1871 in insgesamt vier Abteilungen unter Federführung des preußischen Theologen und Predigers Peter Reinhold Grundemann (1836–1924) entstand.

Grundemann, selbst weder Missionar noch Kartograph, hatte sich bereits am 16. August 1862 mit August Petermann (1822–1878), dem damals führenden Kartographen des Verlages Perthes, in Verbindung gesetzt, als er erfuhr, dass dieser die Herausgabe eines solchen Atlanten beabsichtigte und Grundemann dieser geplanten »Arbeit des Meisters [keine] dagegen jedenfalls nur stümperhafte vorauszuschicken«[22] gedachte. Die daraufhin einsetzende Korrespondenz sowohl mit Petermann selbst als auch mit der damaligen Geschäftsführung (Müller / Besser) reicht nicht nur bis zu Grundemanns Anstellung und seiner damit offiziell beginnender Arbeit an der Herausgabe des Atlas am 1. Oktober 1865, sondern weit darüber hinaus.[23] Sie zeigt unter anderem in eindrucksvoller Art und Weise, wie sich die Planung, Konzeption und Bearbeitung eines solch umfangreichen Kartenwerkes vollzog.[24] Sie erlaubt somit einen interessanten Einblick in die Genese eines Atlanten, der zudem hinsichtlich seines umfassenden Inhaltes und seiner überkonfessionellen Ausrichtung nur mit wenigen zu vergleichen ist.

Hauptbestandteil der Überlieferung sind für den Zeitraum der Erarbeitung des Atlas primär die etwa 200 erhaltenen Briefe zwischen Grundemann, dem Verlag und Dritten, welche neben der inhaltlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Konzeption des Werkes vor allem den Prozess der Kartenproduktion beleuchten.[25] Da die einzelnen Karten für die Betrachtung dieser Zusammenhänge in den Hintergrund rücken, kann für die Präsentation des Materials in einem webbasierten Virtuellen Kartenlabor eine allein auf den Zusammenhang zwischen Karte und Archivalie beschränkte, semantische Verknüpfung nicht hilfreich sein, stehen doch viele der für den Entstehungsprozess relevanten Dokumente in keinerlei Beziehung zu einer konkreten Karte oder überhaupt nur zu dem Produktionsprozess einer solchen.

Vielmehr beziehen sich die Briefe in der Regel aufeinander und befassen sich mit weitaus grundlegenderen Fragen über strukturelle Abläufe, personelle Vernetzung oder wirtschaftliche Aspekte. Die hierin enthaltenen Informationen lassen sich jedoch wieder auf den Produktionsprozess der einzelnen Karten zurückprojizieren, geben sie doch zum Beispiel Auskunft über die an der Produktion beteiligten Personen, die den Karten zugrunde liegenden Quellen, die Arbeitsabläufe und deren Dauer. Die während der Erarbeitung des entstandene Korrespondenz ermöglicht somit tiefe Einblicke in das Arbeiten und die Dynamik eines Verlages, der letztlich vor allem durch seine Karten bekannt wurde, aber neben den Kartographen, Lithographen, Druckern und Koloristinnen[26] auch über ein weitreichendes Netzwerk an freien Mitarbeitern und Wissensakkumulatoren wie Reinhold Grundemann verfügte. Deren tatsächlicher Anteil an der Erstellung der verschiedenen Verlagsprodukte kann eben nicht durch die Karten selbst, sondern vielmehr durch das damit verbundene Zusammenhangsmaterial erschlossen werden. Dies zeigt sich beispielsweise an den im Kartenlabor enthaltenen Skizzen aus dem Missionsumfeld, die dem Verlag über Reinhold Grundemann zugingen und welche in Verbindung mit entsprechenden textuellen Erläuterungen die Grundlage sowohl für die Kartenblätter des Missionsatlas als auch dessen Begleittexte darstellen.

3.2. Beispiel 2: Hermann Habenicht

Ein weiteres, sehr eigentümliches Beispiel des vorhandenen Zusammenhangsmaterials stellt der private Nachlass des Gothaer Kartographen Hermann Habenicht (1844–1917) dar, der neben Bruno Hassenstein (1839–1902) zu den Schülern August Petermanns gehörte. Es handelt sich dabei genaugenommen um keinen Arbeits-, sondern um einen Privatnachlass, der Karten, Kartenentwürfe, Skizzen, Korrespondenz, Manuskripte, Druckfahnen mit Korrekturen, Notizen und annotierte Zeitungsartikel enthält.

Bereits als Schüler angeworben, durchlief Habenicht seine gesamte Ausbildung und eine mehr als fünfzig Jahre andauernde berufliche Laufbahn im Verlag Justus Perthes, in deren Verlauf er Schulatlanten und Wandkarten zeichnete und in erheblichem Maß am Premiumprodukt des Verlages, , beteiligt war.[27] Dabei entwickelte er ein besonderes Talent für Reliefzeichnungen, die vor allem von Lehrern und Wissenschaftlern im Inland und Ausland hochgelobt wurden. Mit seinen eigenwilligen Theorien, in denen er Religion und Naturwissenschaft miteinander wollte, rief der tiefgläubige Habenicht jedoch unter den Wissenschaftlern erheblichen Widerspruch hervor und galt als skurriler Außenseiter. Der Nachlass enthält ausschließlich Dokumente, die Habenichts eigenwillige »Schöpfungstheorie« und sein Lavieren zwischen wissenschaftlichem Anspruch und weltanschaulicher Fiktion dokumentieren.[28]

Beispielhaft hierfür ist Habenichts 1878 in publizierte Eiszeitkarte, welche das Eiszeitphänomen in einer bis dahin kaum bekannten Detailfülle auf dem aktuellen Stand der Forschung zu beschreiben versuchte.[29] Das eigentlich Besondere an dieser Karte aber war, dass Habenicht nicht nur versuchte erstmals einen Gesamtüberblick der aktuellsten Theorien und Erkenntnisse zum Eiszeitphänomen wiederzugeben, sondern zugleich auch seine eigenen Spekulationen implizit in die Karte einfließen zu lassen, die seine religiöse Weltsicht als bibeltreuer Christ wiedergaben. Dabei wurden bestimmte Erkenntnisse vermutlich mit Absicht nicht erwähnt und an anderer Stelle fiktive Ansichten gezeigt, die vor allem dort verzeichnet wurden, wo noch keine gesicherten Informationen vorlagen. Die Karte war bereits aus Sicht der Zeitgenossen im höchsten Maße umstritten. Allerdings regten sowohl die Zusammenschau von wissenschaftlich anerkannten Beobachtungen als auch die kritische Auseinandersetzung mit den fiktiven Elementen der Karte Andere zu weiteren Forschungen an, die umstrittenen Regionen vor Ort zu kartieren und neue, verbesserte Eiszeitkarten zu entwerfen. An dem vorhandenen Material kann gezeigt werden, wie diese Karte den Ausgangspunkt in einer ganzen Genealogie weiterer Karten bildete, welche als Teil einer Referenzkette von Folgekarten zugleich den Prozess der Wissenstransformation in verschiedenen Stadien verfolgbar macht. Deutlich wird an diesen Kartenrezeptionen, dass Habenichts Karte nicht nur weiterentwickelt wurde, sondern teilweise auch die Fehler in die Folgekarten übernommen wurden, was erst durch einen Vergleich der Karten ersichtlich wird.

Neben der synchronen und diachronen Vergleichbarkeit der Karten dokumentiert vor allem das überlieferte Zusammenhangsmaterial, wie Habenicht seine Karten ergänzte und überarbeitete. Zugleich zeigt es auch, wie Habenicht sich mit der Zeit immer mehr in seine eigene Gedankenwelt verstrickte und seine Theorie auf Grundlage seiner Karte von 1878 weiter zu radikalisieren begann, um die christliche Morallehre mit seiner Katastrophentheorie zu verbinden. Zahlreiche annotierte Manuskripte und Zeitungsausschnitte machen diesen Prozess nachvollziehbar. Wie die Bearbeitungspuren an der ursprünglichen Eiszeitkarte und die Vielzahl an Notizen zeigen, wurde die Karte achtzehn Jahre später von Habenicht als Grundlage genommen, um seine Theorie der Sintflut weiter zu entwickeln, und in eine neue Karte zu überführen, die allerdings aufgrund ihres problematischen Charakters nicht mehr bei Justus Perthes erschien.[30]

4. Entwicklung des Kartenlabors

Anhand der angeführten Anwendungsbeispiele sollen im Folgenden die für das Virtuelle Kartenlabor entwickelten Anwendungen und Funktionen erläutert werden, welche das Ziel haben, eine Verknüpfung von Karten und Zusammenhangsmaterial zum Zweck der Betrachtung und Untersuchung zu ermöglichen.

4.1. Datenmodell

Dem Kartenlabor liegt ein umfassendes Datenmodell zugrunde, welches neben den Metadaten der Karten und des Zusammenhangsmaterials vor allem die Beziehungen zwischen den einzelnen Objekten der verschiedenen Klassen (Karte, Archivmaterial und Person) abbildet (Abbildung 1).

Abb. 1: Dem Virtuellen
                                        Kartenlabor zugrunde liegendes Datenmodell. (©
                                    GlobMapLab / Autoren 2016)
Abb. 1: Dem Virtuellen Kartenlabor zugrunde liegendes Datenmodell. (© GlobMapLab / Autoren 2016)

Hinsichtlich der Metadaten der Karten orientiert sich das entwickelte Datenmodell an dem bereits existierenden Metadata Encoding & Transmission Standard (METS)[31], welcher an die hier gestellten Anforderungen angepasst wurde. Durch die Nutzung dieses seit einigen Jahren etablierten Standards soll ermöglicht werden, dass in der nächsten Projektphase bereits vorhandene Werkzeuge wie der DFG-Viewer[32] für die Visualisierung des Kartenmaterials verwendet werden können.

Für die Archivalien wurde dieser Standard für die erste prototypische Implementierung ebenfalls übernommen und angepasst. Eine Verwendung von TEI[33] zur Kodierung der vorwiegend textbasierten Dokumente (Korrespondenz, Verträge, Zeitungsausschnitte etc.) erscheint aber im Hinblick auf deren wissenschaftliche Bearbeitung sinnvoll und wird für die Weiterentwicklung des Labors im Rahmen eines Folgeprojektes erwogen.

Um den speziellen Anforderungen an die Erforschung und Darstellung der Zusammenhänge innerhalb der Sammlung Perthes gerecht zu werden, wurde für das Datenmodell nicht nur eine Anpassung, sondern eine Erweiterung und Diversifikation, vor allem der beschreibenden Metadaten, des METS, zwingend notwendig. So wurde unter anderem der objektbezogenen und somit auf Karten und Archivalien zugeschnittenen, vornehmlich bibliographischen Ausrichtung der Daten die personenbezogene Perspektive inklusive einer oftmals vernachlässigten Differenzierung der Rollen hinzugefügt.

Im Zentrum des Virtuellen Kartenlabors stehen zwar auch weiterhin die Karten selbst. Diese werden aber weiterführend sowohl mit anderen Karten als auch dem Archivmaterial und den die verschiedensten Rollen (z.B. Kartenzeichner, Lithograph, Drucker etc.) einnehmenden Personen in Beziehung gesetzt. Gerade diese spezifischen Verbindungen zwischen den verschiedenen Sammlungsobjekten und den daran beteiligten Personen sind es, welche letztlich den Prozess der Wissensgenerierung im Perthes Verlag über die Karten hinaus in besonderem Maße widerspiegeln. So lassen sich beispielsweise anhand der überlieferten Korrespondenz zur Entstehung des durch Reinhold Grundemann nicht nur die eigentliche Kartenproduktion, sondern darüber hinaus auch die Prozesse der Akkumulation, Verarbeitung und Transformation des diesen Karten zugrundeliegenden Wissens anhand des, mit den Karten und Archivalien in der Detailansicht angezeigten, Zusammenhangsmaterials, aufzeigen.

4.2. Suchfunktionen

Von besonderer Bedeutung für die Arbeit mit dem Virtuellen Kartenlabor und insbesondere für das Auffinden der darin enthaltenen Materialien ist ein geeigneter Zugang, welcher auf der einen Seite einfach und intuitiv zu bedienen, auf der anderen Seite dennoch komplex genug für detaillierte Suchanfragen ist. Dies wird umso deutlicher, betrachtet man noch einmal die Zielgruppen der Wissenschaftler einerseits und der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit andererseits. Um diesem Spagat zwischen intuitiver Einfachheit und passgenauer Komplexität Rechnung zu tragen, werden neben dem klassischen Suchschlitz, wie man ihn durch webbasierte Suchmaschinen (Google etc.) gewohnt ist, auch andere Möglichkeiten der Suche im Kartenlabor implementiert. Entscheidend ist es nicht ausschließlich, eine inhaltsorientierte Namenssuche hinsichtlich der Objekte selbst (Karten, Archivalien, Personen) umzusetzen, welche bevorzugt durch die interessierte Öffentlichkeit verwendet werden wird, sondern auch die Möglichkeit zu haben, systematisch strukturelle Attribute (PPN, Erscheinungsjahr etc.) aufzufinden.

Zudem spielt die starke Heterogenität des zu suchenden Materials und die damit verbundene Diversität der möglichen Suchanfragen an das Kartenlabor eine wichtige Rolle. So soll dem Anwender beispielsweise neben der Suche nach konkreten Karten, die dann mit den entsprechend mit ihnen zusammenhängenden Archivmaterialen und Personen verbunden sind, auch eine Suche innerhalb des Archivmaterials und der beteiligten Personen ermöglicht werden. In vielen bisher zur Verfügung stehenden Kartenportalen gehen die angebotenen Suchfunktionalitäten in der Regel davon aus, dass potentielle Anwender üblicherweise auf der Suche nach einer Karte sind, die sich zumeist auf ein ganz bestimmtes geographisches Gebiet bezieht und zudem aus einer festgelegten Zeit stammt. Deshalb verfügen diese Portale häufig über eine Suchfunktion, durch welche die Anwender auf der Grundlage einer Karte (OpenStreetMap (OSM)) die gewünschte Region auswählen und durch eine entsprechende Zeitleiste die Treffermenge einschränken können.[34] Aufgrund des heterogenen Materials, welches über das GlobMapLab bereitgestellt wird, ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Suchanfragen von Anwendern nicht ausschließlich auf einzelne Karten beziehen, sondern dass, wie die Anwendungsbeispiele aus dem Bestand zeigen, vor allem Entstehungszusammenhänge und somit eher die daran beteiligten Personen und Personennetzwerke sowie die mit diesen in Beziehung stehenden überlieferten Archivalien als Treffer für entsprechende Suchanfragen erwartet werden müssen.

Die parallel zur intuitiven, kartenbasierten Suche implementierte Suchfunktion auf Basis der Metadaten geht auf diese Problemstellung ein. Gleichzeitig erübrigt sich auf diese Weise eine Sonderbehandlung der m-n-Beziehungen zwischen Karten, Personen und Archivalien, d.h. dass sich viele Materialien und Personen nicht direkt mit einer konkreten Karte verbinden und somit über die kartenzentrierte Suche auffinden lassen. Ausgehend von den in der Datenbank hinterlegten Informationen, unter anderem zur Entstehungszeit, den beteiligten Personen und dem Kartennamen, lassen sich so konkrete Suchanfragen formulieren, deren Treffermenge nicht allein auf das Kartenmaterial beschränkt ist, sondern ebenfalls die verschiedenen Archivalien berücksichtigt. Nach Auswahl eines Dokuments aus der Trefferliste werden dem Anwender neben der entsprechenden Karte oder Archivalie sowohl die zu dieser hinterlegten Metadaten als auch die mit diesem Objekt in Verbindung stehenden Objekte (Karten oder Archivalien) und Personen (Kartographen, Lithographen etc.) präsentiert (vgl. Abbildung 2).

Abb. 2: Präsentation des
                                    Kartenmaterials inklusive der zu dieser Karte vorhandenen
                                    Metadaten sowie der mit dieser Karte verknüpften Personen und
                                    Archivmaterialien. (© GlobMapLab / Autoren 2016)
Abb. 2: Präsentation des Kartenmaterials inklusive der zu dieser Karte vorhandenen Metadaten sowie der mit dieser Karte verknüpften Personen und Archivmaterialien. (© GlobMapLab / Autoren 2016)

4.3. Werkzeuge

Die mit Hilfe der verschiedenen Suchfunktionen aufgefundenen Materialien, Karten und Archivalien und deren Beziehungen untereinander sollen Anwendern aber nicht nur angezeigt und in entsprechender Form präsentiert werden, sondern im Hinblick auf eine sammlungsbezogene Forschung auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung ermöglichen. Um dies zu gewährleisten, sollen mit dem Virtuellen Kartenlabor auch einige Funktionen und Werkzeuge angeboten werden, mit denen die konkreten Entstehungsprozesse der einzelnen Verlagsprodukte untersucht werden können. Eine entsprechende Visualisierung des Materials ist dafür grundlegend.

4.3.1. Die Visualisierung des Zusammenhangsmaterials

Von wesentlicher Bedeutung ist die Präsentation des Zusammenhangsmaterials. Dieses Material, welches vor allem aus den verschiedenen schriftlichen Überlieferungen des Verlages, aber auch aus Kartenskizzen und mit Anmerkungen versehenen Kartenblättern besteht, stellt den weitaus größten Teil des überlieferten Materials.

Mit Hilfe einer geeigneten Visualisierung sollen die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Objekten sichtbar gemacht werden. Dies betrifft neben den jeweiligen Vorgänger- und Folgekarten einzelner Kartenblätter vor allem jene Dokumente, die über deren Entstehung Auskunft zu geben in der Lage sind. So existieren zum Beispiel zu verschiedenen Kartenblättern des auch Korrespondenzen, die Rückschlüsse auf deren Entstehungsprozess, unter anderem im Hinblick auf Revisionen, beteiligte Akteure oder Kolorierarbeiten ermöglichen. Ebenso sind im Nachlass von Hermann Habenicht neben Skizzen und überarbeiteten Karten zahlreiche Manuskripte, Druckfahnen und Zeitungsausschnitte vorhanden, welche den ständigen Überarbeitungsprozess dokumentieren.

Die Verknüpfung der Materialien selbst soll durch die Benutzer des Kartenlabors vorgenommen werden können und somit vor dem Hintergrund laufender Forschungsarbeiten eine stetige Aktualisierung erlauben.

Dabei gilt es in einem nachfolgenden Schritt geeignete Wege zu finden, um auch jene Dokumente sinnvoll miteinander zu verknüpfen, die sich nicht direkt aufeinander beziehen, jedoch indirekt in einem Zusammenhang stehen. Beispielhaft erwähnt sei hier die Verbindung von Grundemanns Plan zur Erstellung eines Allgemeinen Missionsatlas[35] und einer beigelegten Probeskizze[36] (Abbildung 3). Beide Dokumente stehen zwar inhaltlich nicht miteinander in Beziehung, doch wurden sie in ein und demselben Brief mit dem Ziel an den Perthes-Verlag übersandt, die Durchführbarkeit des Gesamtprojektes durch Reinhold Grundemann nachzuweisen. Es ist daher zu überlegen, ob eine Verknüpfung der Archivalien nicht auf mehreren voneinander unterscheidbaren, sich unter Umständen aber auch überschneidenden Ebenen sinnvoll wäre.

Abb. 3: Präsentation
                                        zusammenhängender Materialien wie Kartenskizzen und
                                        Archivquellen im Side-By-Side-View. (© GlobMapLab / Autoren
                                            2016)
Abb. 3: Präsentation zusammenhängender Materialien wie Kartenskizzen und Archivquellen im Side-By-Side-View. (© GlobMapLab / Autoren 2016)

4.3.2. Side-By-Side-View

Wie sich am zweiten Fallbeispiel zu Hermann Habenichts Eiszeitkarte zeigt, stehen die einzelnen Karten nicht für sich allein, sondern basieren in ihren Inhalten in der Regel auf Vorgängerkarten und wirken zumeist auch in verschiedenen Folgekarten nach, so dass der Vergleich zweier verschiedener Karten des gleichen Gebietes von besonderem Interesse ist. Im konkreten Vergleich der Karten von Hermann Habenicht und James Geikie zeigt das Fallbeispiel (Abbildung 4), dass von anderen Kartographen nicht nur die validierten Daten, sondern auch fiktive Elemente übernommen wurden, wie z.B. die angebliche Vergletscherung des Thüringer Waldes durch Geikie (in der Habenicht'schen Karte als blaue Punkte markiert). Die Benutzung wissenschaftlicher Quellen, das Kopieren, Transformieren, aber auch Plagiieren von Karteninhalten sei, so schreibt der Kartograph Eduard Imhof an einer Stelle, »innerhalb des kartographischen Gewerbes an der Tagesordnung«[37]. Dieser Umstand wird daran deutlich, dass viele Karten nicht auf ihre Quellen verweisen und der Kartenbetrachter gezwungen ist, intuitiv gemeinsame Strukturmerkmale der verschiedenen Kartenversionen herauszulesen. Ähnliches gilt auch für die Kartierung unbekannter Regionen durch Forschungsreisende, Expeditionen oder Missionare im 19. Jahrhundert, bei der mit dem Verschwinden der letzten ›weißen Flecken‹ zugleich die Fülle des gesammelten geographischen Wissens in einer bis dahin kaum gekannten Menge anwuchs. Der synchrone und diachrone Vergleich verschiedener Karten bzw. von Revisionsständen der gleichen Karte, z.B. der Afrikakarten aus Stielers , kann somit, wie Gondring und Rau konstatieren, als eine der essentiellen Funktionalitäten des Virtuellen Kartenlabors angesehen werden.[38]

Für den direkten Vergleich zweier Karten wird mit dem Side-By-Side-View (Abbildung 4) ein Werkzeug zur Verfügung gestellt, durch das sich zwei Karten miteinander vergleichen lassen. Beide Karten werden jeweils in eine eigene OSM-Umgebung geladen. Diese beiden OSM-Instanzen sind insofern miteinander verknüpft, als neben der Navigation auch die Veränderungen des Zoomfaktors auf das jeweils andere Fenster übertragen werden können. Diese Synchronisation lässt sich im Bedarfsfall jedoch auch deaktivieren, um zum Beispiel unterschiedliche Perspektiven auf die gleiche Karte, die man auch in das linke und das rechte Fenster lädt, einnehmen zu können.

Mit dieser Form der Präsentation des Kartenmaterials der Sammlung Perthes wird Anwendern somit ein Werkzeug an die Hand gegeben, welches eine wissenschaftliche Untersuchung sowohl der Entwicklung konkreter kartographischer Produkte in Bezug auf die ihnen zugrundeliegenden Quellen als auch des allgemeinen kartographischen Wissens im Verlauf der über 200-jährigen Verlagsgeschichte zu unterstützen in der Lage ist.

Abb. 4: Die Ausschnitte der
                                        Eiszeitkarten von Hermann Habenicht von 1878 (links) und
                                        James Geikie von 1882 (rechts) zeigen die Übernahme des
                                        eizeitlichen Grenzverlaufs sowie die von Habenicht
                                        gemutmaßte Vergletscherung des Thüringer Waldes in der
                                        Geikie’schen Karte. (© GlobMapLab / Autoren 2016)
Abb. 4: Die Ausschnitte der Eiszeitkarten von Hermann Habenicht von 1878 (links) und James Geikie von 1882 (rechts) zeigen die Übernahme des eizeitlichen Grenzverlaufs sowie die von Habenicht gemutmaßte Vergletscherung des Thüringer Waldes in der Geikie’schen Karte. (© GlobMapLab / Autoren 2016)

4.3.3. Georeferenzierung (Rand-Justierung)

Um jedoch die Funktionalitäten des Side-By-Side-View in vollem Umfang gewährleisten zu können und nicht lediglich zwei Bilddateien nebeneinander zu präsentieren, ist es erforderlich, dass die jeweiligen Karten auch georeferenziert und somit mit realen Koordinaten verknüpft sind. Diese Referenzierung erfolgt mittels der OpenStreetMap Bounding Box.[39] Mit Hilfe dieses Werkzeuges ist es möglich, die in den Metadaten enthaltenen Eckkoordinaten des jeweiligen Kartenblattes den entsprechenden OSM-Koordinaten zuzuweisen. Notwendig wird dies, da beim Laden der Karten in die OSM-Umgebung die durch den Kartenrahmen verschobenen Eckpunkte des Kartenblattes ansonsten als Eckkoordinaten interpretiert werden (Abbildung 5). Da diese manuelle Korrektur mit einem großen Aufwand verbunden ist, wird derzeit erwogen, für die nachfolgende Projektphase eine auf einem Crowdsourcing-Ansatz basierende Referenzierung umzusetzen, bei welcher die Positionierung der Bounding-Box durch eine entsprechende Community erfolgen soll. Die Tragfähigkeit eines solchen Konzeptes ist bereits verschiedentlich belegt worden.[40]

5. Fazit und Ausblick

Mit den bisher im Projekt umgesetzten prototypischen Entwicklungen am Virtuellen Kartenlabor konnten nicht nur erste Grundlagen für eine durch digitale Technologien gestützte, sammlungsbezogene Erforschung und weitreichende Erschließung der Sammlung Perthes gelegt, sondern darüber hinaus auch konkrete Anforderungen an die Weiterentwicklung des Labors gestellt werden.

Dies betrifft neben der Integration geeigneter Analysewerkzeuge für historische Karten, wie dem von Bernhard Jenny (Oregon State University) entwickelten Open-Source-Tool MapAnalyst[41], vor allem den Aspekt der Georeferenzierung durch entsprechende Werkzeuge. Angestrebt ist dabei ein auf Crowdsourcing basierender Ansatz, wie er bereits in anderen Projekten erfolgreich erprobt worden ist,[42] und durch den die Anzahl der georeferenzierten und damit für die Benutzung im Kartenlabor aufbereiteten Karten enorm vergrößert werden kann. Dafür ist es jedoch notwendig, einen geeigneten Workflow zu etablieren, der sowohl eine effiziente Georeferenzierung des durch die Forschungsbibliothek Gotha bereitgestellten Kartenmaterials als auch eine entsprechende Qualitätskontrolle der Resultate ermöglicht. Im Rahmen dieser Einbindung einer interessierten Öffentlichkeit in die Erschließung der Bestände der Sammlung Perthes wird derzeit auch eine Integration passender Transkriptions- und Editionswerkzeuge erwogen, durch die auch das Archivmaterial mit Unterstützung einer geeigneten Crowd transkribiert und annotiert werden kann. Auf diese Weise kann das im Labor bereitgestellte Material nicht nur mit zusätzlichen Daten angereichert, sondern auch untereinander in Verbindung gebracht werden. Die durch diese Bearbeitung entstehenden Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Materialien und Materialgruppen stehen nun, nach einer entsprechend zu entwerfenden Qualitätssicherung, auch anderen Nutzern zur Verfügung und können durch diese wiederum bearbeitet werden. Diese Integration verschiedenster Akteure in die Erschließung des Materialbestandes soll es ermöglichen, auch die Entstehung umfassender kartographischer Verlagsprodukte zu untersuchen, deren Quellengrundlage (Korrespondenz, Revisionskarten, Skizzen, Koloriervorlagen etc.) auf die verschiedensten Bestandsgruppen der Sammlung Perthes verteilt ist und somit nur in langfristigen Forschungsprojekten erschlossen werden kann.

Abb. 5: Randjustierung der Karten mit
                                Hilfe der mittels der OpenStreetMap-Bounding Box. (© GlobMapLab /
                                Autoren 2016; Karte: FBG SPA ARCH MFV 144/1, 26
                                (Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes Archiv).)
Abb. 5: Randjustierung der Karten mit Hilfe der mittels der OpenStreetMap-Bounding Box. (© GlobMapLab / Autoren 2016; Karte: FBG SPA ARCH MFV 144/1, 26 (Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes Archiv).)

Es gilt also die bisher prototypisch implementierten Funktionalitäten hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit für eine sammlungsbezogene Erforschung der Sammlung Perthes zu evaluieren und zu erweitern. Das Virtuelle Kartenlabor soll letztlich in eine derzeit an der Universität Erfurt in Entwicklung befindliche virtuelle Forschungsumgebung integriert werden und das beinhaltete Material Open Access zur Verfügung stellen. Dies würde ferner auch eine Integration von Fremdmaterial und weitergehenden Forschungsdaten ermöglichen.


Fußnoten


Bibliographische Angaben

  • Hartmut Asche: Digitale Karten – eine Herausforderung für die Kartensammlung? In: Die digitale Kartenbibliothek. Eine Momentaufnahme. Hg. von Jürg Bühler / Lothar Zögner. München 2004, S. 15–27. [Nachweis im GVK]

  • Virtuelle Forschungsumgebung für die Kulturlandschaftsforschung auf Basis von Internet-GIS-Technologien. Hg. von Ralf Bill. Berlin 2012. [Nachweis im GVK]

  • Ralf Bill / Kai Walter / Jacob Mendt: Virtuelles Kartenforum 2.0. Verfügbarmachung von Altkarten über eine räumliche Portalanwendung. In: Angewandte Geoinformatik. Hg. von Josef Strobl / Thomas Blaschke / Gerald Griesebner / Bernhard Zagel. Beiträge zum 26. AGIT-Symposium Salzburg. Berlin 2014, S. 684–693. [Nachweis im GVK]

  • David J. Bodenhamer / John Corrigan / Trevor M. Harris: The Spatial Humanities. GIS and the Future of Humanities Scholarship. Bloomington 2010. [Nachweis im GVK]

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  • Ian N. Gregory / Paul S. Ell: Historical GIS: Techniques, methodologies and scholarship. Cambridge 2007. [Nachweis im GVK]

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  • Hermann Habenicht: Grundriss einer exacten Schöpfungsgeschichte. Wien 1896. [Nachweis im GVK]

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  • Eduard Imhof: Thematische Kartographie. Berlin 1972. [Nachweis im GVK]

  • Bernhard Jenny / Helen Jenny / Lorenz Hurni: Alte Karten als historische Quelle – Wie lässt sich die geometrische Genauigkeit des Karteninhalts abschätzen? In: Karten, Kartographie und Geschichte – Von der Visualisierung der Macht zur Macht der Visualisierung. Hg. von Christophe Koller / Patrick Jucker-Kupper. Zürich 2009, S. 127–144. [Nachweis im GVK]

  • Klaus Kempf: Der Sammlungsgedanke im digitalen Zeitalter. Florenz 2013. [Nachweis im GVK]

  • Past Time, Past Place: GIS for history. Hg. von Anne Kelly Knowles. Redlands 2002. [Nachweis im GVK]

  • Placing History: how maps, spatial data, and GIS are changing historical scholarship. Hg. von Anne Kelly Knowles. Redlands 2008. [Nachweis im GVK]

  • Franz Köhler: Gothaer Wege in Geographie und Kartographie. Gotha 1987. [Nachweis im GVK]

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  • David Rumsay / Meredith Williams: Historical Maps in GIS. In: Past Time, Past Place: GIS for History. Hg. von Anne Kelly Knowles. Redlands 2002, S. 1–18. [Nachweis im GVK]

  • Bruno Schelhaas: Das »Wiederkehren des Fragezeichens in der Karte«. Gothaer Kartenproduktion im 19. Jahrhundert. In: Geographische Zeitschrift 97 (2009), H. 4, S. 227–242. [Nachweis im GVK]

  • Bruno Schelhaas / Ute Wardenga: »Die Hauptresultate der Reisen vor die Augen zu bringen« -oder: Wie man Welt mittels Karten sichtbar macht. [Nachweis im GVK] In: Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Hg. von Christian Berndt / Robert Pfütz. Bielefeld 2007, S. 143–166. [Nachweis im GVK]

  • Bruno Schelhaas / Ute Wardenga: »Inzwischen spricht die Karte für sich selbst«. Transformation von Wissen im Prozess der Kartenproduktion. [Nachweis im GVK] In: Die Werkstatt des Kartographen. Materialien und Praktiken visueller Welterzeugung. Hg. von Steffen Siegel / Petra Weigel. München 2011, S. 89–108. [Nachweis im GVK]

  • Petra Weigel: Die Sammlung Perthes Gotha, Forschungsbibliothek Gotha. Berlin 2011. [Nachweis im GVK]

Webseiten

  • David Rumsey Map Collection. [online]

  • DFG-Viewer. 06. Mai 2015. [online]

  • Historische Karten der Habsburger Monarchie: Mapire. [online]

  • Federico Ferretti: Les Reclus et la maison Hachette: la première agence de la géographie française? 2010. [online]

  • National Library of Scotland: Map images. [online]

  • Old Maps Online. [online]

  • Parmi les archives des éditions Hachette. [online]

  • The Bartholomew Archive. [online]

  • The World Wide Web Consortium. [online]

  • Virtuelles Kartenforum 2.0. [online]

  • Virtuelles Kulturlandschaftslaboratorium. 8. September 2011. [online]

Abbildungslegenden und -nachweise

  • Abb. 1: Dem Virtuellen Kartenlabor zugrunde liegendes Datenmodell. (© GlobMapLab / Autoren 2016)
  • Abb. 2: Präsentation des Kartenmaterials inklusive der zu dieser Karte vorhandenen Metadaten sowie der mit dieser Karte verknüpften Personen und Archivmaterialien. (© GlobMapLab / Autoren 2016)
  • Abb. 3: Präsentation zusammenhängender Materialien wie Kartenskizzen und Archivquellen im Side-By-Side-View. (© GlobMapLab / Autoren 2016)
  • Abb. 4: Die Ausschnitte der Eiszeitkarten von Hermann Habenicht von 1878 (links) und James Geikie von 1882 (rechts) zeigen die Übernahme des eizeitlichen Grenzverlaufs sowie die von Habenicht gemutmaßte Vergletscherung des Thüringer Waldes in der Geikie’schen Karte. (© GlobMapLab / Autoren 2016)
  • Abb. 5: Randjustierung der Karten mit Hilfe der mittels der OpenStreetMap-Bounding Box. (© GlobMapLab / Autoren 2016; Karte: FBG SPA ARCH MFV 144/1, 26 (Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes Archiv).)