»A ›community of practice‹ (to borrow Etienne Wenger’s phrase) whereby the learning, construction, and sharing of humanities knowledge is undertaken with the application of digital technologies in a reflexive, theoretically informed, and collaborative manner.« Kathryn E. Piquette, Humboldt-Universität zu Berlin[1]
1.
Die Digital Humanities sind in aller Munde und werden intensiv debattiert.[2] Durch die Gründung von Fachverbänden, eigenen Zeitschriften, turnusmäßig stattfindende Tagungen und weiteren Formen zunehmender Professionalisierung[3] nehmen die Digital Humanities Grundzüge einer Konsolidierung zur nahezu eigenständigen Fachdisziplin an. Überdies haben sich digital transformierte Subdisziplinen geisteswissenschaftlicher Fächer wie die Computational Linguistics, Digital History oder die Computational Archaeology etabliert. Gleichwohl bleibt die Positionierung der Digital Humanities innerhalb des Feldes der Geisteswissenschaften umstritten. Im Erwartungsspektrum zwischen ›szientifischem Heilsbringer‹ und ›feindlicher Übernahme‹[4], finden sich alle Schattierungen von euphorischer Begrüßung bis zu kritischer Ablehnung.
Reflexionen über die Rolle der Digitalität innerhalb der digital orientierten Geisteswissenschaften[5] vollziehen sich vor dem Horizont einer großen ›propagandistischen‹ Erzählung, die von einem Paradigmenwechsel innerhalb der Sciences (Natur-, Lebens-, Ingenieurswissenschaften) ausgeht, welcher verbunden sei mit dem Übergang von einem ›wissensgetriebenen‹ zu einem ›datengetriebenen‹ Wissenschaftsmodell,[6] insofern Theorie durch großvolumige Datenbearbeitung und Kausalität durch Korrelation ersetzbar werde und damit eine neue Form des Empirismus im Entstehen sei.[7] Die Wellen dieser Rhetorik haben innerhalb der Geisteswissenschaften Vorstellungen vom ›Ende der Theorie‹ und der Ersetzung von ›Interpretation durch Datenanalyse‹ aufkommen lassen, verbunden mit dem Anspruch, dass die bisher unsystematisch, ›rhapsodisch‹ verfahrenden Geisteswissenschaften nun erst den Status von objektivierbaren Wissenschaften erringen könnten.
Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Reichweite und Grenzen der Digital Humanities ist daher geboten. Und dies weniger auf dem ›ideologischen Schlachtfeld‹ der mit Fundamentalargumenten aufwartenden Befürworter und Gegner, vielmehr mit Blick auf die Formen konkreter Forschungspraxis und ihren Resultaten, die schon heute unter dem Etikett Digital Humanities die geisteswissenschaftlichen Forschungsszenarien beleben, erweitern und zum Gutteil auch grundlegend verändern.
2.
Setzen wir ein mit einem nüchternen Blick: Die meisten Geisteswissenschaftler arbeiten mit den ihnen traditionell vertrauten Instrumentarien; sie sind – um es im Jargon auszudrücken - ›analog unterwegs‹ und haben kaum eine konkrete Vorstellung davon, was mit ›Digital Humanities‹ bezeichnet wird. Diese Beobachtung ist unabhängig davon, dass selbstverständlich viele Textkorpora digital zugänglich sind und von allen genutzt werden, dass Geisteswissenschaftler viele Stunden schreibend und lesen vor dem Bildschirm verbringen, dass über Email alltäglich kommuniziert und per Filehosting-Dienste kollaboriert und online Lexika, Handbücher etc. zu Rate gezogen werden. Die Kulturtechnik der Digitalisierung,[8] die in alle Lebensbereiche ausgreift, macht also nicht halt vor den Geisteswissenschaften. Und doch sind dies nicht diejenigen Phänomene die charakteristisch sind für das, was ›Digital Humanities‹ bedeutet: Es geht nicht einfach um die digitale Literalität, also um jenen Computergebrauch ohne den wissenschaftliches - und eben auch geisteswissenschaftliches - Arbeiten heute undenkbar ist. Doch um was geht es dann?
3.
Eine umfassende Definition der digitalen Geisteswissenschaften hier zu leisten, ist nicht das Ziel dieser Einführung. Zumal dieser Bereich gegenwärtig in großer Dynamik begriffen[9] und nicht zu vergessen ist, dass in allen Wissenschaften die Neukonturierung wissenschaftlicher Instrumentarien, Methoden und Disziplinen stets langer Zeiträume bedurfte.
Seit den 2000er Jahren, nachdem immer größere Bestände an Texten und Bildern digitalisiert vorliegen, lautet eine an der Praxis orientierte allgemeine Definition, dass die Digital Humanities mit Hilfe digitaler Medien Fragen bearbeiten, die ohne Computer nicht einfach zeitaufwendiger und langsamer, sondern überhaupt nicht zu realisieren wären. Um näher einzugrenzen, was computergestützte Verfahren mit Blick auf die Digital Humanities bedeuten, lassen sich vier Kriterien unterscheiden; sie betreffen die Verdatung der Forschungsgegenstände, den Einsatz computergestützter Verfahren, die maschinelle Darstellbarkeit der Ergebnisse in einer von Menschen rezipierbaren Form, sowie den erwarteten Innovationsgehalt der Erkenntnisse.
(1) ›Verdatung‹: Die Forschungsgegenstände müssen in einer für Maschinen lesbaren Form codiert sein – und dazu genügt es nicht, dass Texte, Bilder und Objekte einfach ›digitalisiert‹, sozusagen: gescannt werden. Denn wenn aus geisteswissenschaftlichen Objekten maschinenlesbare Daten werden sollen, so müssen diese Daten – über ihre prinzipielle Darstellbarkeit im Binäralphabet hinaus - gemäß bestimmten Modellen und Formaten ›zugerichtet‹ und operationalisiert sein. Und das wiederum geht nicht ohne Selektion und interpretatorische Eingriffe. Kurzum: es gibt kein ›rohes Datum‹. Hinzu kommt, dass viele dieser Gegenstände, die in Datenstrukturen transformiert werden müssen, nicht mehr hervorgehen aus der Digitalisierung ›analoger‹ Bestände, sondern von Anbeginn ›digital geboren‹ sind, also gar nicht mehr anders vorliegen, denn in digitaler Gestalt.
(2) ›Rechnerabhängige Verfahren‹: Die Werkzeuge, Instrumentarien und Methoden der Analyse, der Interpretation und der – zumeist visualisierenden - Darstellung müssen an die Rechenkraft von Computer so gebunden sein, dass diese Prozesse ›händisch‹, also durch aufwendige (und zumeist stupende) Arbeit der Gelehrten, kaum zu realisieren sind.
(3) ›Visualisierung‹: Die Ergebnisse ›datengetriebener Wissenschaften‹, bei denen es immer auch um den Einsatz stochastischer und statistischer Methoden geht, sind von Menschenaugen nicht mehr als bedeutungsvolle Aussagen les- und interpretierbar. Daher sind Verfahren der diagrammatischen Visualisierung eine unabdingbare Dimension der digitalen Geisteswissenschaften.
(4) ›Innovativität‹: Obwohl ›alte‹ Forschungsfragen mit neuen Erkenntnisinstrumenten zu bearbeiten, erhellend sein kann, stehen die Digital Humanities unter einem Innovativitätsdruck: nicht nur ihre Verfahren und Methoden, sondern die damit zu gewinnenden Erkenntnisse, sollen neuartig, relevant, vielleicht gar überraschend sein. In idealer Weise wäre das erfüllt, wenn in der Analyse großer Datenkorpora Muster, Zusammenhänge und Forschungsfragen zutage treten und zu entdecken sind, die vorher niemand sehen oder vermuten konnte. Zugleich gilt zu bedenken: die Entwicklung neuer Instrumente, Werkzeuge und Medien in den Wissenschaften bildet immer schon sowohl Meilenstein wie Grundlage für den wissenschaftlichen Fortschritt; allerdings: so etwas braucht Zeit.[10]
4.
Wenn mit diesen vier Kriterien das Feld umrissen ist, auf welchem angesiedelt sein muss, was als ›Digital Humanities‹ zu charakterisieren ist, bleibt eine weitere Frage: Konsolidiert sich gegenwärtig eine zunehmend professioneller und eigenständiger werdende akademische Disziplin sui generis, hervorgegangen aus der Verbindung von Informatik und den Geisteswissenschaften, doch auf keine der beiden Seiten reduzierbar? Dies zumindest könnte der Begriff ›Digital Humanities‹ nahelegen, der auf eine Differenz zu Geisteswissenschaften ohne den Zusatz ›Digital‹ abhebt. Oder geht es doch ›nur‹ um die Weiterentwicklung des geisteswissenschaftlichen Instrumentariums innerhalb der einzelnen Fächer, indem die traditionellen – und von Fach zu Fach sehr unterschiedlichen – fachwissenschaftlichen Forschungspraxen um einen neuen Werkzeugkasten ergänzt werden? Letzteres mit der Folge selbstverständlich, dass eine Fachwissenschaft, deren Erkenntnismittel sich ändern, zweifellos auch andere, durch diese Mittel konturierte und imprägnierte Resultate erbringen und dabei auch das wissenschaftliche Selbstverständnis und Selbstbild verändern wird. Die hier skizzierten zwei Deutungsweisen der Digital Humanities sind jedoch keineswegs unvereinbar: Der Entstehung einer neuen Wissenschaft geht zumeist ein ›Evolutionsprozess‹ innerhalb einer Disziplin voraus, bis das Neue sich vom Mutterboden der Fachdisziplin trennt und – erwachsen geworden – sich zu eigenständiger Disziplin bzw. einem »Denkkollektiv«[11] konsolidiert, welches überkommene Denkstile[12] verändert und einen neuen zu erzeugen vermag.
Wenn Wissenschaften kulturell und historisch spezifiziert sind,[13] so sind die realen Praktiken, mit und in denen sich deren konkretes Forschungshandeln vollzieht, konstitutiv für das, was diese Wissenschaften leisten und wie sie zu verstehen sind. Eine praxeologische Sichtweise auf das, was Wissenschaften sind und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen tun, ist geboten[14] - und konturiert übrigens auch die Komposition dieses Bandes. Für die Geisteswissenschaften kommt noch etwas hinzu: Indem diese sich mit historisch überlieferten Texten, Bilder und Artefakten auseinandersetzen, machen sie diese zu Elementen des kulturellen Gedächtnisses. Sie sichern damit ein Erbe, welches nur überlebt, indem es beständig in die kulturellen Praktiken re-integriert und durch diese wiederbelebt werden kann. Dass gerade Institutionen des kulturellen Erbes wie Archive, Bibliotheken und Museen in besonderem Maße durch die Digitalisierung geprägt sind, ist augenfällig.
Vor diesem praxeologischen Horizont ist zu sagen: Mit der Digitalisierung sind eine Fülle grundsätzlich neuer Werkzeuge und Verfahren entstanden, die zum Teil zu folgenreichen Veränderungen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen führen und zugleich die Potenziale des kulturellen Gedächtnisses erweitern, an dem zu arbeiten eine genuine Aufgabe geisteswissenschaftlicher Forschung ist. Daher ist klar: die digitalen Geisteswissenschaften werden immer auch an traditionelle geisteswissenschaftliche Methoden und Verfahren anknüpfen und sind nicht einfach als Bruch, Überwindung oder gar Ersetzung herkömmlicher Methoden zu verstehen. Viel eher geht es um deren Ergänzung, Erweiterung, Um- und Fortbildung. Dabei entstehen originelle neue Fragestellungen und Materialbasen, die ohne digitale Methoden weder zu haben noch zu bearbeiten sind.
5.
Die Beiträger und Beiträgerinnen dieses Bandes sind Teil dieser Entwicklungen, denn sie erproben innerhalb ihrer Fachwissenschaft computergestützte Methoden, um zu neuartigen Forschungsergebnissen zu gelangen, die ohne Rechnerpotenzial unerreichbar wären. Oder sie ziehen eine Bilanz dessen, was durch Digitalisierung im Sinne einer ›good practice‹ erreichbar ist, wo sich Problemlagen auftun und neue Risiken und Gefährdungen lauern.
Alle Beiträge zeugen auch für das Potential der Herausforderung, die sich für die einzelnen Disziplinen aus der Digitalisierung ergibt. Eine leitende Frage ist daher: Wie verändern digitale Methoden nicht nur die Gegenstände und Verfahren, sondern auch die Episteme und das Selbstverständnis von Disziplinen? In diesem Band zeigt sich, dass diese Frage für verschiedene Fächer ganz unterschiedlich zu beantworten ist. Doch zweifellos wird dabei schon jetzt sichtbar: Die digitalen Methoden erzwingen Prozesse der Selbstreflexion und Debatten zum Stellenwert datengestützten Verfahren und Gegenstände in nahezu allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen.
Die Beiträge dieses Bandes lassen sich – allerdings nur unscharf – in drei Themenbereiche gruppieren: ›Fachwissenschaftliche Analysen‹, ›Fallbeispiele‹ im Sinne guter Praxis und ›Metareflexionen‹. Obwohl sich diese triadische Anordnung nicht im kachelorientierten Layout dieser Zeitschrift wiederfinden kann, ist uns deren Systematik als ein Anordnungsprinzip wichtig.
Anouk Hoffmeister, Séverine Marguin und Cornelia Schendzielorz diskutieren in ihrem Beitrag Feldnotizen 2.0. Über Digitalität in der ethnografischen Beobachtungspraxis wie sich die bislang stark analoge ethnografische Forschungspraxis (Feldtagebuch) durch Digitalität verändert. Eine besondere Herausforderung für die ethnographische Forschungspraxis liegt dabei in der kontinuierlichen Durchdringung von Analogem und Digitalem. Am Beispiel der speziellen Software ›empiric.assemblage‹ zeigen sich neue Chancen einer computergestützten ethnografischen Praxis, zugleich diskutiert der Beitrag kritisch mögliche Störungen der Beobachtungssituation und Einflüsse der digitalen Werkzeuge auf die Wissensproduktion und ethnografische Erkenntnis.
Maria Männig fragt in Kunstgeschichte der digitalen Bilder was es bedeutet, mit digitalen Bildern Kunstgeschichte zu betreiben. Sie zeigt, wie die digitale Bildkultur das kunsthistorische Bildmaterial reorganisiert, den Kanon modifiziert und ihn in Frage stellt. Durch die datenbankorientierte Forschung entstehen neue Medienbrüche und andere Herausforderungen für eine maschinenlesbare Interpretationsleistung. Männig plädiert für methodische Grundsatzdebatten in der Kunstgeschichte über die Konzepte Wissen – Werk – Kunst und Kanon, die mit Blick auf den Einsatz digitaler Instrumentarien und der Interaktion menschlicher und computerbasierter Handlungen zu führen wären.
Peer Trilcke und Frank Fischer entwickeln in ihrem Beitrag Literaturwissenschaft als Hackathon. Zur Praxeologie der Digital Literary Studies und ihren epistemischen Dingen neue Forschungsmöglichkeiten, zeigen aber auch die Irritationen, die ein Strukturdatenkorpus als Forschungsgegenstand für die literaturwissenschaftliche Dramenforschung bedeutet. Computergestützte Plotanalysen verbunden mit einer Netzwerkanalyse zur strukturellen Evolution der Dramentexte fordern die Literaturwissenschaft in ihrer Episteme heraus, da der Gegenstand der Analyse nicht mehr aus ganzen Werken besteht, sondern aus spezifisch formatierten Strukturdaten, die aus 465 Werken zwischen 1730 und 1930 gewonnen wurden. Brauchen wir eine neue »digitale Literaturwissenschaft« oder ist die Literaturwissenschaft nicht bereits eine digitale Wissenschaft, da fast alle ihre Gegenstände digitalisiert vorliegen und digital genutzt werden?
Stefan Heßbrüggen-Walter fragt nach der Rolle der Digitalisierung innerhalb der Philosophie. Traditionell steht diese mit ihrem Verständnis als ›reine Buchwissenschaft‹ den Verfahren der Digital Humanities überaus reserviert gegenüber. Und doch ist es gerade die Philosophie – und das wird in diesem Beitrag erstmals ausgewiesen - die mit ihrer elektronischen Erstellung eines Kantindexes einen Meilenstein für die Genese digitaler Geisteswissenschaften bedeutete; und dies noch bevor der in diesem historiographischen Zusammenhang zumeist erwähnte Index der Werke Thomas von Aquins von Robert Bursa 1974 erschienen ist, dem in den 60er und 70er Jahren noch ein Platon Index folgte. Auf dem Hintergrund dieser Pionierleistungen werden in fünf Themenbereichen (Edition, Prosographie, Text Mining, Semantic Web, Methodenreflexion) konkrete Projekte des Einsatzes digitaler Werkzeuge in der Philosophie benannt und als Beispiele fruchtbarer philosophischer Forschung kommentiert
Ana Marija Grbanovic diskutiert in ihrem Beitrag Islamic Stuccos made Digital. Digitality and Studies of Islamic Art and Architecture digital unterstütze Forschungsmethoden in der Islamischen Kunstgeschichte und Architektur. Am Beispiel von Stukkoverkleidungen und Stukkoinschriften an iranischer Monumentalarchitektur aus dem 13. und 14. Jahrhundert zeichnen sich bei der Verwendung von digitalen Methoden neue Chancen ab für eine Sicherung der Objekte und für neue interdisziplinäre Zusammenarbeit – etwa mit Historikern. Zugleich provoziert der Einsatz von Objektdatenbanken, digitaler Fotografie und Fotobearbeitungssoftware, die etwa Vielfarbigkeit computergestützt hochrechnet, methodische Grundfragen nach den Forschungsobjekten der Disziplin zwischen persönlicher Autopsie im Feld und digitalen Visualisierungen.
Eva Gredel entwickelt Digitale Methoden und Werkzeug für Diskursanalysen am Beispiel der Wikipedia und zeigt wie die linguistische Diskursanalyse das Internet als Resonanzraum sozialer Realitäten erforscht. Für die Diskurslinguistik entstehen mit den nur digital vorliegenden Texten aus Facebook, Twitter und Wikipedia als Forschungsgenstand neue methodische Herausforderungen wie Nichtlinearität, Multimodalität, Interaktivität und Multilingualität. Der Beitrag stellt spezifische Analysekategorien für Diskurse in digitalen Medien vor und unterscheidet bei den Verfahren zwischen »digitalisierten Methoden«, also Ansätzen, die aus nicht-digitalen Medien in digitale Medien übertragen werden (wie etwa bei Fragebogen-Techniken) und originären digitalen Methoden und Werkzeugen, die für eine computergestützte diskurslinguistische Erforschung der Wikipedia erforderlich sind.
Jens Schröter rekonstruiert in seinem Beitrag »Virtualisierung von Skulptur«. Ein kurzer Erfahrungsbericht die Etappen eines kulturwissenschaftlichen Forschungsprojektes zur dreidimensionalen interaktiven Visualisierung einer Skulpturengruppe in der Villa Borghese/Italien. Dieser 2002 einsetzende Erfahrungsbericht aus einer Frühphase der Verwendung digitaler Werkzeuge, in welcher der Begriff ›Digital Humanities‹ noch unbekannt war, kommuniziert eine wichtige Botschaft: Obwohl die ursprünglich anvisierten Ziele des Projektes nicht vollständig realisiert werden konnten, zeigte sich: Der Einsatz digitaler Methoden ist da besonders gewinnbringend, wo die Instrumente und Methoden nicht nur als Mittel eingesetzt, sondern selbst zum Studienobjekt wissenschaftlicher Forschung und Reflexion werden und zu einer ›Epistemologie der Methoden‹ führt, die neue Einsichten für die eigene Disziplin bereit hält.
Madleen Podewski zeigt in dem Beitrag ›Kleine Archive‹ in den Digital Humanities – Überlegungen zum Forschungsobjekt ›Zeitschrift‹ wie der engere Bereich der kultur- und literaturwissenschaftlichen Zeitschriftenforschung von den Digital Humanities profitiert. Erst computergenerierte Verfahren wie text-mining und top-modelling machen es möglich, dass bebilderte Zeitschriften, die multimodale Text-Bild Verfahren der Kommunikation nutzen, in ihrer Mehrdimensionalität und ihren komplexen Mustern der Produktion und Kommunikation von Wissen überhaupt erst zum auch quantitativ aussagereichen Forschungsobjekt werden können.
Charlotte Schubert analysiert in Quellen zur Antike im Zeitalter der Digitalität: Kookkurrenzen, Graphen und Netzwerke die neuen Erkenntnispotentiale, welche für die Altertumswissenschaften aufgrund des exponentiellen Wachstums digitaler Versionen ihrer Forschungsgegenstände (Textkorpora, Inschriften, archäologische Objekte etc.) durch datengetriebene Verfahren entstehen. Im Kern geht es um die Erschließung einer induktiven Analyseperspektive, welche Zusammenhänge aufzudecken vermag, die durch herkömmliche Quellenvergleiche gerade unbekannt und verdeckt bleiben. Dies wird beispielhaft anhand althistorisch-philologischer Problemstellungen aufgewiesen: Einerseits eine Kookkurrenzanalyse, die neue Einsichten in die politischen Auseinandersetzungen in Athen im 5. Jh. v. Chr. zutage fördert; andererseits einer Netzwerkvisualisierung, die sich auf die Werke Plutarchs bezieht. Beide Beispiele zeigen, dass die ›induktiven‹, ›automatischen‹, digitalen Verfahren Beziehungen zwischen Texten aufspüren, die unabhängig sind von den traditionellen, immer auch persönlichen Kontextualisierungen durch Editoren und Interpreten.
Friederike Schruhl blickt mit dem Ansatz einer praxeologischen Wissenschaftsforschung auf Objektumgangsnormen in der Literaturwissenschaft und untersucht, wie sich die Arbeitsweisen der Literaturwissenschaft durch die Disgitalisierung verändert haben. Dabei zeigt sich, dass die im Umfeld der Digital Humanities formulierten Formen des close, micro, deep, distant oder macro reading, ebenso wie das scalable reading keineswegs als konkrete Methoden gelten können. Sie sind eher als am Materialumfang und dem spezifischen Erkenntnisinteresse orientierte Umschreibungen verschiedener Objektumgangsnormen zu verstehen, die sich in jeweils besonderen Praktiken äußern.
Arianna Borelli analysiert in Wissenschaftsgeschichte zwischen Digitalität und Digitalisierungdas Fallbeispiel der Veröffentlichungsplattform ›arXiv‹ und untersucht dessen Rolle für die digitale Transformation wissenschaftlicher Praktiken. Im Horizont der Unterscheidung zwischen ›digitalisierten Textquellen‹, welche zuvor schon in nicht digitaler Form vorlagen und ›digitalen Textquellen‹, die nur noch mit genuin digitalen Methoden zu bearbeiten sind, zeigt sie, dass die Wissenschaftsgeschichte hinsichtlich ihrer eigenen Forschungsmethoden digitale Formen anzunehmen hat, um weiterhin kritisch ihre Gegenstände untersuchen und reflektieren zu können. Auf diese Weise kann beispielsweise anhand ›arXiv‹ dokumentiert werden, dass der mit ›open source‹ gewöhnlich verbundene progressive Aspekt der Transparenz einher geht mit sich neu bildenden Intransparenzen.
Klaus Deck entfaltet in Digital Humanities – Eine Herausforderung an die Informatik und an die Geisteswissenschaften die These, dass die für die Digital Humanities erforderliche Zusammenarbeit von Informatik und Geisteswissenschaft ein Beitrag sein kann, die Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaften durchlässig zu machen. Die digitale Operationalisierung quantifizierender, empirischer Verfahren bildet eine Chance und zugleich Herausforderung für die Geisteswissenschaften. Doch gilt auch das Umgekehrte: Die Teamarbeit zwischen Informatik und Geisteswissenschaften kann für die Informatik selbst zur Impulsgebung werden, ihre Verfahren nicht nur fort zu bilden, sondern auch zu reflektieren. Und es ist gerade die – gewöhnlich für Geisteswissenschaften typische – kritische Reflexion der eigenen Instrumente und Verfahren, welche die Möglichkeit eröffnet, diese Transformationen durch wissenschaftshistorische und wissenschaftsphilosophische Studien zeitnah zu begleiten.
Arndt Niebisch entwickelt in Agilität, Versionierung und Open Source. Softwareentwicklung und Praktiken der Geisteswissenschaften dass das Potenzial geisteswissenschaftlicher Digitalisierung weniger im Computergebrauch per se, vielmehr im Experimentieren und im Konstruieren der für eine datengetriebene Form von Wissenschaft erforderlichen Werkzeuge liegt. Solche Prozesse, dies zeigt er anhand einschlägiger Softwareentwicklungen, sind nur als kollaborative Praktiken realisierbar. Damit zeichnet sich eine grundlegende Revision geisteswissenschaftlicher Forschungspraxis ab: Die in den traditionellen Geisteswissenschaften immer noch favorisierte Figur des individuellen Gelehrten wird zurückgedrängt und im Gegenzug nimmt die Bedeutung von Arbeitsweisen, die auf ›Teamwork‹ beruhen, zu.
6.
Die Beiträge dieses Bandes basieren auf Arbeitspapieren zum Workshop »Wie Digitalität die Geisteswissenschaften verändert. Neue Forschungsgegenstände und Methoden«, der im März 2017 an der Universität Bayreuth als Teilprojekt der DFG-geförderten Symposienreihe: »Digitalität in den Geisteswissenschaften« stattfand. In der Breite der beteiligten Disziplinen - von der Ethnologie über die Literaturwissenschaft bis zur Archäologie – ist bei diesem Workshop Einfluss und Prägekraft der digitalen Gegenstände und Methoden innerhalb der einzelnen Disziplinen deutlich geworden. Zugleich hat sich gezeigt, wie unterschiedlich die digitalen geisteswissenschaftlichen Praktiken in den jeweiligen communities verfasst sind und in welch‘ unterschiedlichem Maße die epistemischen Grundlagen der einzelnen Disziplinen davon betroffen sind und verändert werden. Festzuhalten bleibt, dass ein epistemischer Wandel der geisteswissenschaftlichen Fächer durch die Digital Humanities in Gang gekommen ist, der fachspezifische und geisteswissenschaftliche Grundbegriffe verändert, neue Gegenstände und Forschungsfragen sowie methodische Verfahren hervorbringt und deren fachspezifische wie methodisch generalisierbare Reichweite gründlicher als das hier geschehen kann, zu untersuchen sein wird.
Zu diesen weiter zu verfolgenden Fragestellungen und Problemfeldern gehören die Veränderungen der tradierten geisteswissenschaftlichen Formen des Sammelns, Ordnens und Bereitstellens, des Umgangs mit Quellen, des Zugangs zum disziplinären Wissen, der Verfahren gelehrter Kommunikation sowie der Publikationsumgebungen.[15] Wie verändern sich die digitalen Forschungskulturen – denken wir nur an die notwendige und immer auch schwierige Zusammenarbeit von Informatik und Geisteswissenschaft in den Einzelprojekten der Digital Humanities? Wie sollten die Infrastrukturen und vor allem das Forschungsdatenmanagement in den Geisteswissenschaften weiterentwickelt werden?[16] Wie verändern sich mit den digitalen Infrastrukturen die Selbstverständnisse der Geisteswissenschaften?[17] Welche Rolle spielt die ›Kritik‹ (›literary criticism‹), die eine genuine Dimension geisteswissenschaftlicher Arbeit bildet?[18] Gibt es eine ›Kritik der digitalen Vernunft‹? Bergen die digitalen Forschungstechnologien eine ›tacit epistemology‹[19] und wie ist diese charakterisierbar?
Wie verändern sich die Vorstellungen von spezifisch geisteswissenschaftlicher Forschung und Forschungsbewertung durch digitale Methoden?[20] Was bedeutet das Arbeiten mit digitalen Methoden für die Reputations- und Anerkennungsmechanismen in der jeweiligen Disziplin – vor allem für den wissenschaftlichen Nachwuchs? Wie lassen sich Qualifizierungs- und (Aus-)Bildungswege weiterentwickeln, um die Lücke zwischen innovativer Forschung mit Methoden der Digital Humanities und den Curricula der Studiengänge in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu schließen?
Schließlich wird die Digitalität auch Binnenkonflikte in den Disziplinen erzeugt. Einerseits haben viele Forscherinnen und Forscher den Weg in die digitalen Geisteswissenschaften gefunden. Andererseits arbeiten eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen weiter mit ausschließlich nicht-digitalen Methoden.
Und dies alles sind nur einige der Fragen, die die geisteswissenschaftlichen Disziplinen in den nächsten Jahren werden beantworten müssen. Wie immer auch die Antworten ausfallen, sie werden die Geisteswissenschaften substantiell verändern.
Dank
Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für lebhafte Debatten über alle Disziplingrenzen hinweg während des Workshops »Wie Digitalität die Geisteswissenschaften verändert. Neue Forschungsgegenstände und Methoden«, ebenso wie für die Bereitschaft, ihre Arbeitspapiere zu grundlegenden Beiträgen auszuarbeiten. Julia Menzel danken wir für die gelungene Planung und Organisation des Workshops und für die sorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Beiträge dieses Sonderheftes.
Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gilt unser besonderer Dank. Ohne die Förderung der Symposienreihe: »Digitalität in den Geisteswissenschaften« wäre es uns nicht möglich, die fundamentalen Veränderungsprozesse, die die Geisteswissenschaften durch die Digitalität erfahren, kontinuierlich und nachhaltig zu erforschen.
Fußnoten
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[1]Zit. N. Gold 2012, Blog Posts: Day of DH: Defining the Digital Humanities, 1–4.
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[2]Vgl. Baum / Stäcker 2015.
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[3]Vgl. Sahle 2015.
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[4]Vgl. das Thema der Konferenz 2014 in Passau: »Digital Humanities – methodischer Brückenschlag oder ›feindliche Übernahme‹?«
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[5]Vgl. Gold 2012, passim; Berry 2012, passim; Arthur / Bode 2014, passim; Jannidis et al. 2017, passim; Svensson / Goldberg 2015, passim.
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[6]Steinbrecher / Schumann 2015, passim.
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[7]Geiselberger / Moorstedt 2013, passim; Boyd / Crawford 2013, passim.
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[8]Krämer 2017, passim.
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[9]Schreibman 2012, passim.
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[10]»…maybe we need time to articulate our digital apparatus, to produce new phenomena that we can neither anticipate nor explain immediately.« Scheinfeldt 2012.
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[11]Vgl. Fleck 2015.
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[12]Scharloth et al. 2013 zeigen eine solche Denkstilveränderung in Form des neuartigen induktiven Vorgehens in der digitalisierten Diskursanalyse.
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[13]Reckwitz 2003, passim.
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[14]Diese praxeologische Betrachtung zeichnet sich für viele Fächer ab. Das gilt nicht nur für die naturwissenschaftlichen Wissenskulturen (Knorr Cetina 2002, passim), für die Mathematik (Mancosu 2011, passim), sondern auch für die Geisteswissenschaften; einschlägig für die Literaturwissenschaft: Martus 2016, passim.
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[15]
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[16]
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[17]
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[18]
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[19]
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[20]
Bibliographische Angaben
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