Auf der Suche nach dem »goldnen Baum« – Digitale Annotation des Metaphernbegriffs in Poetiken: Erkenntnisprozess, diskursive Praktik und ›tertium comparationis‹

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Michael Bender Autoreninformationen

DOI: 10.17175/2016_004

Nachweis im OPAC der Herzog August Bibliothek: 863828299

Erstveröffentlichung: 02.09.2016

Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons Lizenzvertrag

Medienlizenzen: Medienrechte liegen bei den Autoren

Letzte Überprüfung aller Verweise: 30.08.2016

GND-Verschlagwortung: Annotation | Diskurs | Taxonomie |

Empfohlene Zitierweise: Stefan Alscher, Michael Bender: Auf der Suche nach dem »goldnen Baum« –Digitale Annotation des Metaphernbegriffs in Poetiken: Erkenntnisprozess, diskursive Praktik und ›tertium comparationis‹. In: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften. 2017. text/html Format. DOI: 10.17175/2016_004


Abstract

Der Begriff der Metapher wird in Poetiken auf der theoretischen Ebene und anhand von literarischen Beispielen kritisch verhandelt. Im Zuge der Entwicklung eines Annotationsschemas differenziert das Projekt ePoetics die wesentlichen Komponenten der Explikation des Metaphernbegriffs aus und erschließt darüber hinaus die damit verbundenen Diskurs- und Referenzstrukturen. Dabei wird deutlich, welche Erkenntnismöglichkeiten und ‑grenzen sich im kollaborativ-diskursiven Auszeichnungsprozess schon vor der informationstechnischen Auswertung bieten – mit dem digitalen, algorithmischen Paradigma als Folie – und wie Hermeneutik und Algorithmen in Wechselwirkung treten können – im Sinne des ›Algorithmic Criticism‹ nach Stephen Ramsay.


The concept of the metaphor is handled critically in poetics on a theoretical level and by means of literary examples. In the process of developing an annotation schema, the ePoetics project differentiates between the significant components of the explication of the metaphor concept, and, in addition, reveals the discourse and reference structures linked to them. Thus, it becomes clear which recognition possibilities and boundaries appear in the collaborative-discursive markup process before the data evaluation – with the digital algorithmic paradigm as foil – and how hermeneutics and algorithms interact – in the tradition of Stephen Ramsay’s ›algorithmic criticism‹.



1. Einführung

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, [/] Und grün des Lebens goldner Baum.«[1] An diesem Ausspruch des Mephistopheles im ersten Teil von Johann Wolfgang Goethes Faust lässt sich beispielhaft zeigen, welche Schwierigkeiten es bei der Bestimmung des Metaphernbegriffs und seiner Abgrenzung zum Vergleich gibt. Was sind die wesentlichen Komponenten dieser Konzepte? Unterscheiden sie sich in ihrer sprachlichen Gestaltung oder auch in ihrer Funktion und Wirkung? Inwiefern ist der Begriff des ›tertium comparationis‹ (das Dritte des Vergleichs, der gemeinsame Nenner, die Schnittmenge) dabei problematisch? Wie entwickeln sich solche Überlegungen zur Metapher und zu anderen sprach- und literaturtheoretischen Begriffen in poetologischen Texten im Laufe der Zeit? Und wie lassen sich ihre wesentlichen Aspekte so operationalisieren, dass sie durch digitale Annotation explizit bzw. transparent gemacht und ausgewertet werden können? Das sind – unter anderem – wichtige Forschungsfragen des Projekts ePoetics – Korpuserschließung und Visualisierung deutschsprachiger Poetiken (1770–1960) für den ›Algorithmic Criticism‹,[2] in dem Theorien und Explikationen zum Begriff der Metapher und anderen Konzepten der Sprach- und Literaturtheorie untersucht und annotiert werden, die in Poetiken zu finden sind. Es geht in dem Projekt also nicht direkt um die Untersuchung von Metaphern in literarischen Texten. Literarische Beispiele wie das Faust-Zitat werden in Poetiken allerdings im Zusammenhang mit theoretischen Begriffen wie dem der Metapher kritisch diskutiert. So wird die Goethe-Textstelle in Conrad Beyers Deutsche [r] Poetik[3] behandelt. Der entsprechende Auszug daraus, der das Faust-Zitat sowie den damit verbundenen theoretischen Diskurs umfasst, dient in diesem Beitrag als Beispiel, an dem die Problematik der Untersuchung und digitalen Erschließung von Poetiken gezeigt werden soll.

Die Poetik befasst sich als »Lehre von der Dichtkunst«[4] mit der Struktur, den Effekten und den Erscheinungsweisen literarischer Texte sowie ihren Elementen, Darstellungsmitteln und -prinzipien – kurz: mit sprach- und literaturwissenschaftlicher Theorie. Dabei überschneidet sie sich – historisch bedingt – inhaltlich mehr oder weniger mit den Bereichen der Ästhetik, Rhetorik und Stilistik sowie der Literaturgeschichte und -kritik.[5]

Für das Projekt ePoetics wurde ein Textkorpus von zwanzig Poetiken aus dem Zeitraum von 1770 bis 1960 ausgewählt. Diese Festlegung des Untersuchungszeitraums hat folgende Hintergründe: Der Startpunkt liegt nach der abgeschlossenen Abkehr von der Normen- und Regelpoetik (präskriptive Poetik), nach der sich Poetiken im 18. Jahrhundert zu wissenschaftlich beschreibenden Werken (deskriptive Poetik) entwickeln, die teilweise auf die einsetzende philosophische Ästhetik reagieren und sich mit dieser auseinandersetzen. Den Endpunkt – nicht nur des Untersuchungszeitraums, sondern der Textgattung selbst – stellt der Übergang zur Methodologie und Literaturtheorie im 20. Jahrhundert dar. Die Folge war das schleichende Ende der wissenschaftlichen Poetik ungefähr in den 1950er Jahren.[6]

Ausgehend von der hermeneutischen Studie A History of Poetics,[7] die neben der umfassenden Darstellung der Geschichte der wissenschaftlichen Poetik eine annähernd vollständige Bibliographie dieser Textgattung bietet, umfasst die Auswahl des Untersuchungskorpus zwanzig – historisch und systematisch betrachtet – repräsentative Werke.[8] Maßstäbe für die Repräsentativität der Texte sind die Häufigkeit, mit der sie zitiert werden, und die Bedeutung, die ihnen zugesprochen wird (als ›epochale‹ oder jedenfalls prägende wissenschaftliche Werke).

Bei den zwanzig Poetiken handelt es sich um sehr eigenständige Texte, die sich auf den ersten Blick deutlich voneinander unterscheiden. Allein im Umfang liegt die Spanne zwischen ca. 50 und ca. 1.600 Seiten, woraus sich zwangsläufig auch inhaltliche Unterschiede ergeben. So verschieben sich die disziplinären Bezugsbereiche (von der Rhetorik hin zur Sprachphilosophie usf.) und so unterscheidet sich das darin reflektierte Begriffsinventar zum einen hinsichtlich des bloßen Vorkommens, zum anderen aber auch im Begriffsverständnis, da sich der Gebrauch einzelner Termini über den Untersuchungszeitraum von knapp 200 Jahren wandelt. Diese Termini und Theorien werden unter Bezugnahme auf andere theoretische Texte innerhalb und außerhalb des Untersuchungskorpus sowie auf Primärliteratur diskutiert.

Die digitale Annotation solcher sprach- und literaturwissenschaftlichen Begriffe, ihrer Explikationen und Abgrenzungen von anderen Begriffen, aber auch der Referenzstrukturen ihrer diskursiven Aushandlung, stellt das zentrale Aufgabengebiet des Projekts ePoetics dar, das von der Technischen Universität Darmstadt sowie der Universität Stuttgart durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Die hierfür ausgewählten Texte wurden zunächst per Scan als Image-Digitalisate erfasst, im Double Keying-Verfahren transkribiert und in XML kodiert – den Standards der Text Encoding Initiative (TEI) entsprechend. Die anschließende semantische Auszeichnung zielt vor allem auf Begriffe mit grundlegendem Charakter für Sprache und Literatur. Einer davon ist der der Metapher.

Die Untersuchung des Metaphernbegriffs als aktueller Schwerpunkt des Projekts steht auch im Folgenden im Fokus – verdeutlicht am Beispiel des Auszugs aus Beyers Poetik. Das Beispiel zeigt zugleich, welche Problemstellungen die digitale Erfassung und Auszeichnung theoretischer Begriffe in wissenschaftlichen Texten mit sich bringt und welche Erkenntnismöglichkeiten sie bietet – und zwar im Zuge der Erstellung von Annotationsschemata, der Operationalisierung bzw. Modellierung für computergestützte Analysen, Visualisierungen und Verfahren des Maschinenlernens. Im Mittelpunkt stehen also Erkenntnisprozesse, die vor der automatisierten Auswertung ablaufen, aber durch das Paradigma der anvisierten digitalen Erschließung und algorithmischen Weiterverarbeitung angeregt werden. Sie führen vor allem zur Ausdifferenzierung und Schärfung von sprach- und literaturtheoretischen Kategorien – zum Beispiel der Abgrenzung zwischen Metapher und Vergleich.

2. Problemstellungen der Poetiken-Annotation anhand eines Beispiels

In Conrad Beyers Deutsche [r] Poetik wird das eingangs aufgeführte Zitat wie folgt verwendet: »›Der goldne Baum des Lebens‹ (Goethe) ist Metapher; ›Das Leben ist wie der goldne Baum‹ oder ›Das Leben gleicht einem goldenen Baum‹ ist Vergleichung.«[9]

Beyer knüpft an dieses Zitat verschiedene Überlegungen zur Metapher. Bevor diese Textstelle der Poetik vor dem Hintergrund der historischen und gegenwärtigen Metapherntheorie betrachtet wird, soll in den Blick genommen werden, in welchem Kontext Beyer das Goethe-Zitat einsetzt und welche Problemstellungen seine Ausführungen für eine systematische Erschließung durch Annotationen mit sich bringen. Beyer stellt der Goethe-Textstelle eine Umformulierung derselben gegenüber, um auf den entscheidenden Unterschied zwischen Metapher und Vergleich hinzuweisen: die fehlende Vergleichspartikel. Das Ausgangsmaterial, das als solches kenntlich gemacht wird, stammt von Goethe, der umformulierte Text von Beyer selbst.

Wenn man sich zunächst auf die Suche nach der konkreten Quelle des Goethe-Zitats macht, stellt man schnell fest, dass Beyer keinen vollständigen Nachweis geführt hat – allerdings nur nach heutigen wissenschaftlichen Standards, die damals noch nicht üblich waren. Es findet sich die Angabe des Autors, nicht jedoch die Referenzierung auf das Werk. Zwar steht das Zitat nicht für sich, sondern erfüllt eine exemplifizierende Funktion, für die die vollständige Angabe seiner Herkunft möglicherweise verzichtbar ist. Nicht verzichtbar ist sie jedoch für das Forschungsvorhaben des Projekts ePoetics. Denn die Stelle soll eindeutig auf ihren Ursprung zurückgeführt und entsprechend vollständig ausgezeichnet werden. Da die Rede vom »goldnen Baum des Lebens« aus einer bekannten Quelle stammt, ist es vergleichsweise einfach, diese zu identifizieren. Es handelt sich um eine – schon beinahe geflügeltes Wort gewordene – Aussage von Mephistopheles im Faust. Sucht man jedoch nach dem genauen Wortlaut, der in Beyers Poetik steht, wird man bei Goethe nicht fündig.

Denn bereits das Ausgangsmaterial für Beyers Umformulierung ist im Wortlaut verändert. Auch das ist keine Seltenheit in Poetiken. Dort wird teils recht eigenwillig mit Zitaten aus der Primärliteratur umgegangen, was sich mit der Funktion der Zitate im jeweiligen Kontext erklären lässt: der Veranschaulichung theoretischer Sachverhalte. Entscheidend ist somit nicht das Zitat selbst und dessen Korrektheit, sondern der Gegenstand, der damit beispielhaft dargestellt werden soll. Um diesen deutlicher hervorzuheben, werden daher auch Primärzitate gelegentlich umformuliert, man könnte auch sagen: auf den entscheidenden Aspekt hin pointiert.

ePoetics zielt allerdings auch auf die vollständige Erfassung der Referenzstrukturen, die mit den theoretischen Begriffen und den entsprechenden Primärliteratur-Beispielen in Beziehung stehen, sowie auf deren digitale Vernetzung und Auswertung. Das bedeutet, dass die Textstellen mit Wissen angereichert werden müssen, das nicht explizit im Text steckt. Implizite Informationen müssen korrekt erkannt und vollständig ergänzt werden.

Beyer beschreibt die Metapher auf Seite 157 seiner Poetik (vgl. Abbildung 1), wo sich unter anderem auch das Faust-Zitat befindet, einerseits als Form der Vergleichung: »Die Metapher […] ist eine abgekürzte, vereinfachte Vergleichung, […].«[10] Andererseits grenzt er sie von ihr ab: »Da die Metapher eine verkürzte Vergleichung ist, so braucht man zu ihr nur ›ist gleichsam‹ oder ›ist wie‹ zu setzen, und man hat die Metapher zur Vergleichung umgewandelt.«[11]

Abb.1: Auszug zur Metapher aus Beyers Poetik, S.
                        157 (eigene Darstellung, 2015).
Abb.1: Auszug zur Metapher aus Beyers Poetik, S. 157 (eigene Darstellung, 2015).

Den Unterschied sieht er also zunächst in der fehlenden Vergleichspartikel. Was noch nicht klar daraus hervorgeht, ist jedoch, wie sich die Metapher zur Vergleichung hierarchisch verhält, ob sie über-, unter- oder beigeordnet wird.

Das ›tertium comparationis‹ als gemeinsamer Nenner zwischen Bildspender und -empfänger nennt Beyer zwar nur im Zusammenhang mit der Vergleichung, implizit ist es nach diesem Begriffsverständnis aber auch in der Metapher vorhanden. Auch dieser Punkt muss bei der Untersuchung im Hinblick auf eine differenzierte Erschließung in einem Annotationsschema im Nachfolgenden genauer beleuchtet werden.

Als weitere Abgrenzung der Metapher führt Beyer aus, dass

»sie sich dadurch [von der Vergleichung] unterscheidet, daß ein Begriff nicht bloß mit einem anderen verglichen, sondern geradezu nach einem andern benannt und so durch ihn vertreten wird; so zwar, daß die Vergleichung anstatt des Verglichenen, oder das Objekt der Vergleichung sogleich an Stelle des Vergleichungsgegenstandes gesetzt wird.«[12]

Die Metapher wird hier also zusätzlich als Ersetzung beschrieben. Es liegen somit zwei Explikationskomponenten vor, die sich zu widersprechen scheinen: ›Metapher als verkürzte Vergleichung‹ und ›Metapher als Ersetzung‹. Um diesen Widerspruch zu verstehen und (möglicherweise) aufzulösen, muss im nächsten Abschnitt ein Blick auf die historische und aktuelle Metapherntheorie geworfen werden. Eine weitere Herausforderung stellt die Zuordnung des Beyer’schen Begriffsverständnisses zu bestimmten theoretischen Linien bzw. Denkschulen dar. So sind deutliche Parallelen zu Beyers Ausführungen im Werk des antiken Rhetorikers Quintilian zu finden. Auch dort werden verkürzte Vergleichung und Ersetzung aufgeführt. Beyer verweist außerdem auf andere Poetiken-Autoren, die ebenfalls Quintilians Metaphernverständnis aufgreifen und deren Werke im ePoetics-Korpus enthalten sind (Wackernagel, Gottschall und Vischer). Im übernächsten Abschnitt 4 wird auf solche Referenzstrukturen auf der Ebene der theoretischen Texte ebenso eingegangen wie auf die schon beschriebenen Verweisungen auf der Ebene der Primärliteratur.

3. Ausdifferenzierung des Metaphernbegriffs in einem Annotationsschema

Um die am Beispiel gezeigten Problemstellungen bei der Ausdifferenzierung des Metaphernbegriffs in einem Annotationsschema für Poetiken zu bewältigen, müssen relevante historische und aktuelle Metapherntheorien hinzugezogen werden – mit dem Ziel, möglichst trennscharfe Kategorisierungen vornehmen zu können. Denn die algorithmische Weiterverarbeitung der Annotationen setzt eindeutige Kategorien bzw. Variablen voraus. Die theoretischen Hintergründe werden im Folgenden weiterhin auf das Beyer-Beispiel bezogen.

Wie erläutert, stellt die widersprüchlich wirkende Beschreibung der Metapher als verkürzte Vergleichung einerseits und Ersetzung andererseits bei Beyer eine Parallele zu Quintilian dar, der in seiner Institutio Oratoria ausführt:

»Im ganzen [sic] aber ist die Metapher ein kürzeres Gleichnis und unterscheidet sich dadurch, daß das Gleichnis einen Vergleich mit dem Sachverhalt bietet, den wir darstellen wollen, während die Metapher für die Sache selbst steht.«[13]

Explizit verwiesen wird jedoch an dieser Stelle wohlgemerkt nicht auf den römischen Rhetor. Erst später erwähnt Beyer Quintilian und auch Aristoteles als Bezugspersonen.

In der Geschichte der Metapherntheorie konkurrieren (unter anderen) drei besonders wirkmächtige Modelle, die nicht nur die Funktionsweise der Metapher jeweils unterschiedlich erklären, sondern auch jeweils auf andere antike Autoritäten zurückgeführt werden. In der aktuellen Forschungsliteratur ist jedoch weder die Systematik der Modelle noch deren Zuweisung zu einzelnen Autoritäten immer eindeutig: Die Definition der Metapher als um die Partikel verkürzten Vergleich stellt den Kern der so genannten Vergleichstheorie dar. Gemeinhin gilt Quintilian als Urvater dieses Ansatzes,[14] Eckard Rolf beschreibt hingegen Cicero als ausschlaggebend auf diesem Gebiet.[15] Quintilian wird von Rolf vor allem als Vertreter der Substitutionstheorie dargestellt,[16] der zufolge die Ersetzung eines Wortes durch ein anderes für die Metapher wesentlich ist. Dieser Widerspruch erklärt sich daraus, dass die Vergleichstheorie mitunter als Sonderform der Substitutionstheorie verstanden wird.[17] Als drittes Modell ist die Analogietheorie zu nennen, die den beiden anderen vorausgeht, als Grundlegung der Metapherntheorie gilt und Aristoteles zugeschrieben wird.[18] Sie beschreibt die Metapher als Übertragung zwischen zwei analogen Ausdrücken.[19] Aristoteles stellt bei der metaphorischen Übertragung durch Analogie allerdings die Gleichheit von Verhältnissen in den Mittelpunkt, nicht nur die Ähnlichkeit in einem bestimmten Aspekt.[20]

Trotz einiger Überschneidungsmöglichkeiten und unterschiedlicher Zuordnungen in der Fachliteratur erscheint es im Hinblick auf einen differenzierenden Analyseversuch sinnvoll, diese drei Hauptformen der funktionalen Bestimmung des Begriffs Metapher im beschriebenen Poetiken-Korpus abzugrenzen: Metapher als verkürzter Vergleich, als Ersetzung oder als Übertragung. Sie werden daher im Annotationsschema als zentrale Explikationskomponenten geführt, die beinhalten, was jeweils unter einer Metapher verstanden wird. Hinzu kommen Unterkategorien, die der Metapher in verschiedenen Poetiken zugeordnet werden. Neben der Vergleichung können dies die Katachrese, Metonymie, Personifikation und Synekdoche sein. In einigen Poetiken wird die Vergleichung jedoch auch als Oberkategorie angesehen oder als Parallelkategorie von der Metapher abgegrenzt, auch Metonymie, Personifikation und Synekdoche werden als Parallelkategorien aufgeführt. Aus diesen Konstellationen ergibt sich das folgende Annotationsschema mit entsprechenden Auszeichnungsoptionen (vgl. Abbildung 2).

Abb. 2: Annotationsschema zum Metaphernbegriff
                        (eigene Darstellung, 2015).
Abb. 2: Annotationsschema zum Metaphernbegriff (eigene Darstellung, 2015).

Die Einordnung von Beyers Ausführungen zur Metapher in dieses Schema ist jedoch insofern problematisch, als Beyer mit seiner Explikation zwischen Vergleichs- und Ersetzungstheorie anzusiedeln ist. Zwar folgt er – wie gezeigt – implizit Quintilians Erläuterung in der Institutio Oratoria. Doch während nach Rolfs aktueller Darlegung für Quintilian die Tatsache, dass die Metapher den eigentlichen Begriff ersetzt, entscheidend ist,[21] verweist Beyer in seiner historischen Poetik auf die fehlende Vergleichspartikel als entscheidendes Merkmal und grenzt die Funktionsweise der Metapher sonst nicht vom Vergleich ab. Hier ist die Entscheidung erforderlich, ob eine Zwischenkategorie gebildet werden müsste oder ob Beyers Verständnis dem Modell der Metapher als verkürzter Vergleichung zuzuordnen ist. In dem Fall wurde Letzteres angewendet und in den Annotationsrichtlinien mit der Begründung dokumentiert, dass Beyer nur die fehlende Partikel als entscheidenden Unterschied ansieht, die Metapher also prinzipiell als Vergleichung betrachtet und insofern Quintilians Einordnung als Substitutionstheoretiker durch Rolf heute nicht zustimmen würde.

Insofern spielt in seinen Ausführungen das ›tertium comparationis‹, das er nur im Zusammenhang mit der Vergleichung beschreibt, implizit auch für die Metapher eine entscheidende Rolle. Er definiert es wie folgt:

»Der Vergleichungspunkt (tertium comparationis) ist der Punkt, in welchem die beiden Glieder einer Vergleichung, Bild und Gegenstand, Ähnlichkeit haben, also mit anderen Worten: der notwendige Mittelpunkt einer jeden Vergleichung, wie auch eines jeden Gleichnisses.«[22]

Es handelt sich somit um einen gemeinsamen Nenner, der sich aus der Schnittmenge zweier Gegenstands- und Bildbereiche ergibt. Doch die beiden Bereiche bleiben darüber hinaus für sich bestehen und berühren sich allein im Dritten. Somit sieht Beyer drei Bestandteile der Vergleichung: »1. den Gegenstand, der verglichen wird, 2. das Bild, womit verglichen wird, 3. das den Beiden gemeinsame Dritte (tertium comparationis).«[23] Auf die Metapher übertragen heißt das, dass aus der Überlagerung zweier Bildbereiche eine Schnittmenge hervorgeht, die das Bindeglied dieser beiden darstellt.

Bei der Analyse des Faust-Zitats wird jedoch schnell klar, dass diese Erklärung zu kurz greift, da hier die beiden Bildbereiche nicht einfach – wie beim Vergleich – nebeneinander stehen und nebeneinander bestehen bleiben, sondern eine Verschmelzung stattfindet, aus der ein Drittes hervorgeht, das mehr ist, als bloße Schnittmenge, mehr als die Summe seiner Teile.

In der Faust-Kommentierung wird auf den Baum des Lebens im alttestamentarischen Paradies-Bericht verwiesen (1. Mose 2,9),[24] der ewiges Leben bedeutet. Das genaue Zitat bei Goethe heißt eigentlich: »Und grün des Lebens goldner Baum.«[25] Beyer hebt mit seiner Umformulierung die fehlende Vergleichspartikel hervor, unterschlägt dabei aber die Farbe Grün. Gottfried Keller interpretierte das Bild als »von der Sonne durchstrahlten, vergoldeten Baum«,[26] wobei er das Zusammenwirken der Sonne mit dem Grün der Blätter beschreibt. Hier könnte man das lebendige Wachsen und Werden als Gemeinsamkeit bzw. Vergleichspunkt ansehen. Doch es wird deutlich, dass das ›tertium comparationis‹ bei einer solchen Metapher nicht ohne Weiteres eindeutig bestimmbar ist und auch vom Kontext abhängig sein kann. Ein Bild aus komplexer zusammenwirkenden Komponenten entsteht.

Dieter Burdorf führt diesbezüglich aus, weshalb das ›tertium comparationis‹ bei aktuellen Metapherntheorien keine Rolle mehr spielt:

»Da bei der Metapher zwei Bildbereiche nicht verglichen, sondern in eins gesetzt werden, gibt es bei ihr genaugenommen kein ›tertium comparationis‹, sondern die unterschiedlichen Eigenschaften der beiden Bestandteile wirken innerhalb der Metapher mit- und gegeneinander [...]; zusammengenommen entfaltet die Metapher eine neue Vorstellung, die mehr ist als die Summe ihrer Teile.«[27]

Dieses Verständnis steht der antiken Begriffsbestimmung nach Aristoteles näher, der die Metapher als Übertragung eines Wortes und dessen Verwendung in uneigentlicher Bedeutung beschreibt,[28] wodurch es als Bildspender in Wechselwirkung mit dem Bildempfänger treten kann. Als Weiterentwicklung dieses Verständnisses können modernere Metapherntheorien gesehen werden, die ›Mapping‹ bzw. Projektion, Vermischung oder Interaktion als entscheidenden metaphorischen Prozess beschreiben.[29]

Dem auf Lakoff[30] und Johnson[31] zurückgehenden Konzept des ›Mapping‹ bzw. der Projektion zufolge wird der Herkunftsbereich auf dem Zielbereich abgebildet, wobei Elemente und Relationen systematisch miteinander korrespondieren. Unter »blending«[32] wird ebenfalls die gleichzeitige Aktivierung der Bereiche, aber im Sinne ihrer Vermischung verstanden. Die Interaktionstheorie beschreibt diese Wechselwirkung zwischen den gleichzeitig aktivierten Vorstellungen[33] als »wechselseitigen Interaktionsprozess«[34], in dem der metaphorische Ausdruck nicht mehr durch den eigentlichen Ausdruck ersetzt werden kann[35] (als Gegensatz zur Substitutionstheorie).

Diese aktuelleren Metapherntheorien sind aus den theoretischen Spannungsfeldern und Diskursen bezüglich verschiedener Explikationen des Metaphernbegriffs hervorgegangen, die in Poetiken enthalten sind. Frühe Formen bzw. Vorläufer der neueren Ansätze sind in jüngeren Poetiken zu erkennen, z.B. bei Herbert Seidler, dessen Werk das jüngste im Untersuchungskorpus darstellt. Er gebraucht für die Metapher zwar auch die Umschreibung »Übertragung«[36], erläutert ihre Funktionsweise jedoch bereits erkennbar interaktionstheoretisch als wechselseitigen Prozess, aus dem etwas Neues hervorgeht:

»Es wird der Gehalt oder besser: die konventionelle Bedeutung zweier Worte im Zusammenfügen erweitert und aufeinander abgestimmt; es entsteht ein neuer sprachlich gestalteter Bereich. Es werden also in diesen Fällen immer in zwei Worten neue Seiten angeleuchtet, herausgehoben, und dadurch schließen sich ihre Gehalte, die im konventionellen Sprachgebrauch nichts mehr miteinander zu tun haben, zu einem ästhetisch wirkungsvollen Gebilde zusammen; […] aus dem Zusammenwirken zweier Wortgehalte wird Neues erschlossen, erwächst eine neue Gestalt.«[37]

Durch die beschriebenen Annotationen wird explizit und auswertbar gemacht, wie diese Theoriediskurse im Vorfeld der modernen Theorien konfiguriert und welche Tendenzen und Entwicklungen erkennbar sind.

Darüber hinaus können Aspekte untersucht werden, die in der Metapherntheorie von Anfang an zentrale Themen dargestellt haben: zum einen die Verortung der Metapher zwischen Denken und Sprache, zum anderen der Metapherngebrauch in der Poesie einerseits und in der prosaischen Alltagssprache andererseits.

Die kognitive Dimension der Metapher wird schon bei Aristoteles ansatzweise dargestellt. Er postuliert, dass die Metapher den Wissenserwerb fördert, und hebt das Erkennen von Ähnlichkeiten als kognitive Funktion hervor.[38] Dies ist insofern bemerkenswert, als die Dichtung in der Antike im Konflikt zwischen Philosophie und Rhetorik steht und die Metapher durch Aristoteles eine Aufwertung erfährt, wodurch der Status des reinen Redeschmucks überwunden wird. Diese Dimension kommt im hier untersuchten Poetiken-Korpus jedoch nur im Rahmen der Wiedergabe der aristotelischen Ausführungen vor, wie z.B. bei Hermann Baumgart:

»Hier sei nur das eine hervorgehoben, daß also nach des Aristoteles Meinung ein wesentlicher Teil der poetischen Schönheit auf dieser lebhaft energischen Anschaulichkeit beruht, die dem Zuhörer die Freude des schnellsten, leichtesten Erkennens gewährt, weil sich vermöge derselben das innerste Wesen der Dinge unmittelbar dem ›Auge‹ darstellt.«[39]

Tiefgreifender werden kognitive Aspekte der Metapher in den untersuchten Poetiken zwischen 1770 und 1960 nicht behandelt. Die Autoren konzentrieren sich auf die Analyse der sprachlichen Form und erwähnen eher am Rande rezeptionsästhetische Funktionen und rhetorisch-persuasive Wirkungen. Ein interessanter Beobachtungsaspekt ist dabei, dass es Metaphern erfordert, um Metaphorik beschreiben zu können. Schon der Begriff der Übertragung bei Aristoteles ist metaphorisch gebraucht und auch im griechischen Text aus dem Bereich des physischen Transports entnommen.

Die tiefe Verwurzelung der Metapher in der Sprache – und zwar nicht nur in der poetischen, sondern auch in der prosaischen, alltäglichen Sprache, wird auch im untersuchten Poetiken-Korpus durchgehend nachvollzogen. Sie ist auch als Ursache für die Problematik der computergestützten Metaphern-Detektion anzusehen, die größtenteils auf das Erkennen eines Bruchs bzw. einer Distanz zum nicht-metaphorischen Text-Umfeld ausgerichtet ist – z.B. im mit ePoetics kooperierenden Projekt Natur und Staat des Graduiertenkollegs Knowledge Discovery in Scientific Literature der Technischen Universität Darmstadt.[40] Ab einem bestimmten Grad der Konventionalisierung von Metaphern können solche Detektionstechniken nicht mehr greifen und andere Ansatzpunkte müssen gefunden werden.

Im untersuchten Korpus werden Metaphern jedoch qualitativ unterschieden nach prosaischer und poetischer Verwendung – bspw. bei Wilhelm Scherer:

»Die Prosa ist das nur Angemessene, dem Bedürfniß Genügende, ohne Spiel, ohne Schmuck. Die Prosa ist das Gewöhnliche, Alltägliche; die Poesie ist das Neue, Überraschende. Metaphern, die alltäglich werden, wirken nicht mehr als solche. Das Metaphorische in der Poesie muß immer erneuert werden, da es ins tägliche Brot der Sprache übergeht. Poesie ist gleichsam Sonntagsstaat gegenüber der Alltagskleidung.«[41]

Der Konsens in den Poetiken wird auch deutlich durch Verweisungen innerhalb des Korpus und darüber hinaus, wie z.B. bei Beyer: »Diese besondere Klasse von Metaphern […] bezeichnet Gottschall als ›inkarnierte‹ Metaphern, welche meist ihre sinnliche Blüte gegen ihre geistige Bedeutung verloren haben. Bouterweck nennt diese Metaphern die prosaischen; […].«[42]

Dies zeigt, inwiefern zur Untersuchung theoretischer Explikationen und exemplarischer Literaturbeispiele auch die Analyse von Referenzstrukturen notwendig ist, die im nachfolgenden Abschnitt beschrieben wird.

4. Diskurse und Referenzstrukturen in Poetiken

Wie bereits erwähnt, findet die Diskussion von theoretischen Begriffen in den Poetiken nicht nur aus Sicht des jeweiligen Autors statt, sondern wird mit Verweisungen auf andere poetologische Texte innerhalb und außerhalb des Untersuchungskorpus diskursiv ausgehandelt. Somit kommen neben dem Autor der jeweiligen Poetik auch andere ›Stimmen‹ zu Wort, die es bei der manuellen Auszeichnung zu erkennen und zu benennen gilt.

An den bisher behandelten Auszügen aus Conrad Beyers Metaphern-Kapitel lassen sich diese möglichen anderen ›Stimmen‹ erkennen. Das anfängliche Faust-Zitat stammt natürlich nicht von Beyer selbst, sondern von Goethe, und ist als Beispiel für eine Metapher in einem literarischen Werk in die Poetik integriert. Daneben verweist Beyer auch auf ein ähnliches Begriffsverständnis der Metapher bei anderen Autoren des Untersuchungskorpus sowie darüber hinaus (vgl. Abbildung 3):

Abb. 3: Auszug zu Referenzen in Beyers Poetik, S.
                        157 (eigene Darstellung, 2015).
Abb. 3: Auszug zu Referenzen in Beyers Poetik, S. 157 (eigene Darstellung, 2015).

Er integriert also die Auseinandersetzung mit der Metapher in anderen theoretischen Texten und damit den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs über den Begriff. Um die diskursive Gestalt des Textes im Annotationsschema abbilden zu können, müssen drei Textebenen (bzw. ›Stimmen‹) differenziert werden: Der Poetikentext stellt die erste Ebene dar, auf der der Autor selbst spricht, meist theoretisierend, gelegentlich aber auch exemplifizierend, wenn etwas mit eigenen Beispielen belegt wird. Die zweite Ebene bilden Verweise auf Sekundärliteratur, also theoretische Texte, die die eigenen Ausführungen stützen oder die ggf. auch durch diese widerlegt werden können. Die literaturkritisch und exemplifizierend verwendete Primärliteratur ist Inhalt der dritten Ebene.

Das Projekt ePoetics zielt aber nicht nur auf das Sichtbarmachen der diskursiven Textstruktur und die Untersuchung des Verhältnisses von Poetikentext zu Primär- und Sekundärliteratur. Auch das ist zwar schon eine interessante Fragestellung, denn es verrät viel über den methodischen Ansatz einer Poetik, ob in ihr hauptsächlich theoretisiert oder viel mit Beispielen gearbeitet wird. Darüber hinaus soll aber erforscht werden, welche Beispiele benutzt und bewertet werden und in welchen Zusammenhängen welche Werke wie oft genannt werden. Dazu ist die exakte Benennung der jeweiligen ›Stimme‹ notwendig. Die Frage ›Wer spricht?‹ ist daher nicht allein mit einer der drei Kategorien der Textebene zu beantworten, sondern muss im Einzelfall durch die Angabe der Verweisungsform (Zitat bzw. Paraphrase eines Primär- / Sekundärwerks oder bloße Nennung einer Person oder eines Werkes im Poetikentext) und der Quelle (Autor und Werk) möglichst genau ergänzt werden. Dass dies jedoch nicht immer auf Anhieb und durch die im Text gegebenen Informationen möglich ist, wurde bereits am Beispiel von Beyers Faust-Zitat deutlich. Der Auszug aus Goethes Drama ist durch die Anführungszeichen als Zitat kenntlich gemacht und durch den Autorennamen referenziert. Es handelt sich somit auf den ersten Blick um ein explizites Zitat aus der Primärliteratur. Doch zum einen fehlt für die vollständige Referenzierung die Werkangabe und zum anderen ist der Wortlaut verändert (ohne dies kenntlich zu machen). Diese impliziten Informationen müssen bei der Auszeichnung der Textstelle ergänzt werden, um einerseits eine spätere computergestützte Auswertung und andererseits eine Verknüpfung mit den entsprechenden digitalen Editionen der Primärtexte zu ermöglichen. Diese elektronischen Links vernetzen die Poetiken bis auf Abschnittsebene genau mit den Textstellen der Primärliteratur, die teilweise im TextGrid/DARIAH-Repositorium digital verfügbar ist, wo auch die Poetiken als digitales Textkorpus (digitalisiert und ausgezeichnet durch die TU Darmstadt) eingespeist werden (darüber hinaus im Deutschen Textarchiv, DTA, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, BBAW), aber auch in externen elektronischen Text-Datenbanken, wie z.B. der Perseus Digital Library der Bostoner Tufts University, die digitale Editionen antiker Texte zugänglich macht.

Vor allem in der Kombination aus fehlender Werkangabe und falschem Wortlaut ist die Suche nach genauen Quellen schwierig. Das Faust-Zitat stellt aufgrund seines Bekanntheitsgrades kein Problem dar. Auf derselben Seite in Beyers Poetik gibt es aber auch andere, weitaus problematischere Beispiele: »›Eurer Mutter Brust ist Eisen worden‹ ist Metapher; […]«[43], sowie: »Sage ich z.B. ›Das Meerroß des Eroberers stürmt heran‹, so ist das eine Metapher.«[44] Die Kennzeichnung als Zitat ist auch hier in beiden Fällen durch die Anführungszeichen gegeben, doch fehlen sämtliche Verweise auf die Quellen. Das erste Beispiel lässt sich dank des hier korrekten Wortlauts Goethe zuordnen und als Auszug aus dessen Gedicht Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga bestimmen.[45] Damit handelt es sich hier um ein Zitat ohne Angabe, bei dem weder Autor noch Titel explizit genannt werden, sich beide Angaben aber zweifelsfrei rekonstruieren lassen. Beim zweiten Beispiel ist die Einordnung schwieriger, da der Wortlaut verändert zu sein scheint. Denn auch nach intensiver Suche kann es keiner Quelle zugeordnet werden. Hier ist also noch nicht einmal die Frage nach der Textebene einfach zu beantworten. Die Kennzeichnung durch Anführungszeichen spricht für ein Zitat aus der Primärliteratur. Unterstützt wird diese Annahme dadurch, dass Beyer in diesem Textabschnitt ausschließlich Beispiele aus der Primärliteratur aufführt, die er stets mit doppelten Anführungszeichen hervorhebt – aber unterschiedlich genau nachweist. Die fehlende Referenzierung und die Unauffindbarkeit der Stelle mit diesem Wortlaut in allen verfügbaren Primärliteratur-Quellen sprechen hingegen dafür, dass es sich um ein von Beyer selbst erdachtes Beispiel handelt, also exemplarischer Poetikentext vorliegt. Für derartige Problemfälle enthält das Annotationsschema die Möglichkeit, neben der Einordnung als Poetikentext mit exemplarischem Charakter zusätzlich eine Autoren- oder Werkannahme auszuzeichnen, die im Gegensatz zum impliziten Wissen einer – wenn auch begründeten – Vermutung entspricht. Hier ließe sich etwa vermuten, dass es sich um ein homerisches Epos handelt, was aber nicht zweifelsfrei rekonstruierbar ist.

Implizite Verweise können auch auf theoretischer Ebene vorhanden sein, wie an Beyers Metaphern-Explikation zu sehen ist, die sich implizit der Aussagen Quintilians in der Institutio Oratoria bedient. Eine korrekte Zuordnung von Beyers Metaphernverständnis zu einer Denkschule ist nur möglich, wenn dieses implizite Wissen ausgezeichnet und somit deutlich gemacht wird, dass im Fall dieser Explikation zwar Beyer spricht, also Poetikentext vorliegt, was er sagt aber einer impliziten Paraphrase von Quintilian entspricht. Die bereits erwähnten Verweise auf andere theoretische Texte von Zumpt, Wackernagel, Gottschall, Vischer und Müller sind hingegen der Sekundärliteratur-Ebene zuzuordnen. Es handelt sich um explizite Paraphrasen – auch wenn nur die Nachnamen der Bezugspersonen genannt werden.

Entscheidend bei der Auszeichnung sind neben der Textebene, der Verweisungsform und der Quellenangabe somit auch die Explizität der Referenzierung und die Korrektheit des Wortlauts bei Zitaten. Ergänzt man darüber hinaus noch den Aspekt des theoretischen oder exemplarischen Charakters von Poetikentext sowie die positive oder negative Bewertung von Primär- und Sekundärliteratur, so ergibt sich das folgende komplexe Schema für die Annotation der Referenzstruktur zur Metapher (vgl. Abbildung 4).

Abb. 4: Annotationsschema zur Referenzstruktur zum
                        Metaphernbegriff (eigene Darstellung, 2015).
Abb. 4: Annotationsschema zur Referenzstruktur zum Metaphernbegriff (eigene Darstellung, 2015).

Damit die Annotation nach diesem Schema intersubjektiv nachvollziehbar bleibt und nicht von Annotator/in zu Annotator/in variiert, ist es notwendig, die Kriterien einzelner Kategorien in Annotationsrichtlinien festzuhalten. Außerdem bestünde sonst die Gefahr, in den Text mehr hineinzulesen und zu annotieren, als tatsächlich enthalten ist. Für einige Aspekte liegen die Differenzierungskategorien nahe, beispielsweise für die möglichen Kombinationen von Textebenen und Verweisungsformen, wobei hier auch Problemfälle wie das erwähnte »Meerroß des Eroberers« ausgezeichnet werden können. In anderen Bereichen ist die begründete Aushandlung des Kategoriensystems schwieriger und erfordert bspw. die Festlegung von Richtlinien für die Interpretation von Zweifelsfällen. Die Frage nach der Bewertung von Primär- und Sekundärliteratur durch den Autor der jeweiligen Poetik ist ein solcher Fall. Das von Beyer gewählte Faust-Zitat wird von ihm nicht ausdrücklich als positives Beispiel einer Metapher angeführt. Dennoch beinhaltet bereits Beyers Entscheidung für dieses Beispiel (und gegen ein anderes) eine Bewertung. Für die Annotation muss daher grundsätzlich entschieden werden, ob jedes angeführte Textbeispiel, sobald es nicht als negatives bezeichnet wird, als positives anzusehen und auszuzeichnen ist. Diese implizite Form der Bewertung ist aber jedem Beispiel dieser Art eigen, weshalb sich darauf geeinigt wurde, nur dann eine positive Wertung zu annotieren, wenn diese explizit vorliegt. Daraus ergibt sich für die Annotation außerdem die Möglichkeit, den Aspekt der positiven Bewertung noch feingliedriger auszudifferenzieren und explizit hervorgehobene Beispiele als solche auszuzeichnen.

In Kombination mit dem im vorigen Abschnitt erläuterten Annotationsschema zum Metaphernbegriff ermöglicht das Referenzstruktur-Schema die Zuordnung von Poetiken zu bestimmten theoretischen Denkschulen – im konkreten Fall zum Metaphernverständnis nach Quintilian oder Aristoteles. Gleichzeit kann gezeigt werden, in welchen Kontexten einzelne Primärbeispiele oder bestimmte Autoren oder Werke vor allem angeführt werden.

Doch bereits die quantitative Auswertung der Textebenen in einzelnen Poetiken verrät einiges über deren methodischen Ansatz, z.B. ob eine Poetik eher als theoretischer Text gehalten ist, wie etwa Wilhelm Diltheys Einbildungskraft des Dichters[46], oder viel mit Beispielen arbeitet, wie dies bei Beyer der Fall ist, dessen Poetik eine Exempelsammlung mit Handbuchcharakter darstellt. Ähnlich viele Primärbeispiele nutzt Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik[47], allerdings ist hier durch die Auswertung der Quellenangaben erkennbar, dass immer wieder auf dieselben Primärwerke zurückgegriffen wird, während Beyer sich einer größeren Bandbreite unterschiedlicher Werke bedient. Rückschlüsse lassen sich hieraus auf die Auseinandersetzung mit der Primärliteratur ziehen. Denn während Staiger lange bei einzelnen Werken verweilt und diese ausführlich bespricht, zählt Beyer möglichst viele verschiedene Anwendungsfälle nacheinander auf, ohne diese jedoch ähnlich intensiv zu behandeln. Allgemein lassen sich auch Aussagen zum Umgang (Genauigkeit und Vollständigkeit) mit Referenzen und deren Nachweisen treffen, also wie exakt (aus heutigem wissenschaftlichem Verständnis) die Autoren der Poetiken gearbeitet haben. Eventuell werden Zitate wie der kurze Auszug aus Goethes Faust aber auch als bekannt vorausgesetzt, was neben der Häufigkeit des Vorkommens den Kanonisierungsgrad einzelner Werke aufzeigen kann.

5. Digitale Annotation als Erkenntnisprozess und diskursive Praktik im Sinne des ›Algorithmic Criticism‹

Die theoretische und literaturkritische Diskussion der Thematik ›Metapher‹ in Poetiken wird in ePoetics nach Stephen Ramsays Ansatz des ›Algorithmic Criticism‹[48] mit hermeneutischen und algorithmischen Methoden untersucht und erschlossen. Sowohl im Hinblick auf die Annotation als auch auf Analysen werden diese beiden Perspektiven eingenommen und iterativ aufeinander bezogen.

Das Forschungsparadigma des ›Algorithmic Criticism‹ bezieht sich ursprünglich auf literarische Texte. In ePoetics wird das wesentliche Prinzip des Ansatzes hingegen auf poetologische Texte angewendet. Nicht nur wegen dieser ›Umwidmung‹ muss der Ansatz hier ausführlicher beschrieben werden, sondern auch, um zu verhindern, dass er nur verkürzt als Überprüfung hermeneutisch erstellter Hypothesen mit Hilfe des Computers verstanden wird. Erst recht ist er zu unterscheiden von Ansätzen, die digital gestützte, quantitative Methoden der traditionellen hermeneutischen Textanalyse im empirisch-objektivierenden Sinne entgegensetzen. Ramsay grenzt den ›Algorithmic Criticism‹ explizit von dieser Forschungsrichtung ab. Genauer gesagt formuliert er das Forschungsparadigma als vermittelnden Ansatz vor dem Hintergrund dieser Opposition der Analyserichtungen. Ramsay beschreibt also eine dritte Perspektive, geprägt durch die Kombination von analogen und digitalen Verfahren – und zwar vor allem als zusätzliches Werkzeug zum Zweck der subjektiv-hermeneutisch geprägten Textanalyse, nicht als rein quantitativ ausgerichtetes Gegenmodell.

Zu beachten ist, dass unter ›Criticism‹ in dem Fall der »subjective act of critical interpretation«[49] verstanden wird, der nicht mit dem deutschsprachigen Begriff Literaturkritik übereinstimmt. Ramsay geht dabei davon aus, dass die Bedeutungskonstitution im Zuge der subjektiven Lektüre- und Verstehensprozesse von Rezipientinnen und Rezipienten erfolgt. Sein Ansatz steht der Rezeptionsästhetik nahe, die sich unter anderem auf die philosophisch-hermeneutischen Ansätze Hans-Georg Gadamers beruft, den Ramsay zitiert.[50] Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Bedeutungskonstitution wird davon ausgegangen, dass solche rezeptiv bzw. interaktiv generierten, komplexen Bedeutungsstrukturen nicht direkt mit empirisch-objektiven Methoden erkannt werden können. Es wird als Kategorienfehler beschrieben, dass in der bisherigen quantitativen Textanalyse zu interpretierende Bedeutungsstrukturen als Texteigenschaften betrachtet und untersucht werden, obwohl ihre Konstruktion eigentlich erst im Zuge der Rezeption erfolgt oder zumindest dann erst abgeschlossen wird: »The category error arises because we mistake questions about the properties of objects with questions about the phenomenal experience of observers.«[51] Für die Überprüfung solcher komplexen Interpretationsvorgänge sind empirische Methoden Ramsay zufolge nicht geeignet. Dabei macht er diese Einschränkung nicht an den aktuellen und zukünftigen Möglichkeiten digitaler Werkzeuge fest, sondern an der Problematik, dass der Mensch, der den Computer programmiert, die Parameter von Interpretationsprozessen, die beispielsweise auch sich dynamisch entwickelnden Faktoren wie Vorwissen und kulturellem Kontext abhängig sind, nicht intersubjektiv und konsistent festlegen kann:

»It is reasonable to imagine tools that can adjudicate questions about the properties of objects. Tools that can adjudicate the hermeneutical parameters of human reading experiences – tools that can tell you whether an interpretation is permissible – stretch considerably beyond the most ambitious fantasies of artificial intelligence. Calling computational tools ‚limited‘ because they cannot do this makes it sound as if they might one day evolve this capability, but it is not clear that human intelligence can make this determination objectively or consistently.«[52]

Die Problematik, intersubjektive Übereinstimmung bei Textanalysen zu erzielen, ist auch im Hinblick auf die digitale Annotation relevant. Der Aspekt des Inter-Annotator-Agreement wird im nachfolgenden Abschnitt aufgegriffen. Ramsay stellt jedoch heraus, dass es in der geisteswissenschaftlichen Forschung – und insbesondere bei der literaturwissenschaftlichen Interpretation – nicht vorrangig um die Ableitung von Schlüssen aus Fakten geht, die als objektive Daten in Texten enthalten sind, sondern vor allem darum, den wissenschaftlichen Diskurs voranzutreiben, zu entfalten und zu vertiefen. »But in literary criticism – and here I am thinking of ordinary ›paper based‹ literary criticism – conclusions are evaluated not in terms of what propositions the data allows, but in terms of the nature and depth of the discussions that result.«[53]

Wissenschaftliche Fragestellungen, Interpretationen und Erkenntnisse werden Ramsay zufolge zwischen Forscherinnen und Forschern diskursiv verhandelt: »›Verification‹ occurs in a social community of scholars whose agreement or disagreement is almost never put forth without qualification.«[54] Dabei fließen quantitative Aspekte durchaus in qualitative Überlegungen ein (und umgekehrt) und insofern können auch empirische Untersuchungen mit dem Computer sinnvolle Zwischenschritte bei der Erforschung von Fragestellungen sein. Ramsay sieht digitale Analysen als Teil der »Inventio«[55] des Forschungsprozesses. Dieser Begriff aus der Rhetorik beschreibt ursprünglich die Sammlung von Argumenten als Grundlage für eine Rede. Im ›Algorithmic Criticism‹ werden computergestützte Verfahren demnach zur initiierenden Datensammlung bzw. zur Generierung von möglichen Untersuchungsperspektiven genutzt oder iterativ angewendet. Transformationen der Ausgangstexte sollen neue multiperspektivische Rezeptionsmöglichkeiten erlauben – etwa durch die Selektion bestimmter Bestandteile, ihre Quantifizierung oder die Visualisierung von Mustern. Ein Aspekt, den Ramsay hervorhebt, ist die Transparenz des Forschungsprozesses, die auf diese Weise zumindest teilweise entwickelt wird. Explizit werden die einzelnen Schritte und Überlegungen einerseits im transformierten Text und andererseits im Algorithmus, der für die Transformation programmiert wurde.

Im Projekt ePoetics wird dieser Ansatz angewendet, aber auch erweitert. Denn die Untersuchungsgegenstände des Forschungsvorhabens sind – wie in den vorigen Abschnitten dargestellt – keine literarischen Texte, sondern poetologische Schriften, in denen literarische Beispiele diskutiert werden. Insofern wird in ePoetics keine interpretatorische Textanalyse von Literatur angestrebt, sondern die Identifikation und differenzierte Erschließung sprach- und literaturtheoretischer Begriffe. Allerdings müssen im Zuge dessen auch die Diskussionen der dazugehörigen Beispiele aus der Literatur miterfasst werden, was auch das Nachvollziehen von Interpretationen literarischen Texts erforderlich macht. Bei der Analyse und Zuordnung des Goethe-Zitats über den »goldnen Baum« standen die Annotatorinnen und Annotatoren des Projekts beispielsweise vor der Herausforderung, im Hinblick auf die Stelle in der Primärliteratur ein eindeutiges ›tertium comparationis‹ zu erkennen und bezogen auf die theoretischen Ausführungen in diesem Kontext zu entscheiden, ob Beyers Metaphernverständnis der Vergleichungs- oder der Ersetzungstheorie zuzuordnen ist. Beides erfordert auch interpretatorische Schritte.

Ein Konsens bzw. Lösungen bzgl. solcher Problemstellungen wurden in direkten Gesprächen bei Projekttreffen, aber auch durch den kollaborativen Austausch mittels des Annotationstools direkt am Untersuchungsgegenstand erreicht. Das – unter anderem – genutzte UAM Corpus Tool [56] ermöglicht die diskursive Verhandlung von Zweifelsfällen direkt an der betreffenden Textstelle, indem in einem Kommentarfenster die Problematik beschrieben und in einem weiteren ein entsprechender Vorschlag für eine Annotationsrichtlinie formuliert werden kann (vgl. Abbildung 5) – beides sichtbar für alle Annotatorinnen und Annotatoren.

Abb. 5: Kollaborativ-diskursive Kommentierung von
                        Zweifelsfällen und Formulierung von Annotationsrichtlinien im
                           UAM-Corpus-Tool (eigene Darstellung, 2015).
Abb. 5: Kollaborativ-diskursive Kommentierung von Zweifelsfällen und Formulierung von Annotationsrichtlinien im UAM-Corpus-Tool (eigene Darstellung, 2015).

Diese Aushandlungsprozesse und die damit verbundenen Annotationspraktiken können aber erst erfolgen, wenn relevante Textstellen selektiert und vorstrukturiert worden sind. Dafür wird auf algorithmische, insbesondere computerlinguistische Verfahren und Visualisierungstechniken zurückgegriffen. Diese Methoden werden im Folgenden kurz vorgestellt, aber nicht ausführlich behandelt, weil im vorliegenden Beitrag die Annotation, die damit verbundenen Erkenntnisprozesse und die iterativen Wechselwirkungen mit automatisierten Verfahren im Mittelpunkt stehen. Insofern geht der Beitrag vor allem auf die Funktion algorithmischer Methoden für die Annotation ein – und umgekehrt –, nicht aber auf tiefergreifende technische Aspekte.

Zur Selektion und Vorstrukturierung wird beispielsweise das automatisierte Erkennen von Namen, Werktiteln und Text in Anführungszeichen genutzt. Letzterer kann wiederum weiter klassifiziert werden – etwa in Hervorhebungen, Titel und Zitate, die innerhalb von Anführungszeichen stehen können. Einen visuell-interaktiven Zugang zum Text-Korpus bietet der Varifocal Reader, der im Rahmen des Projekts am Institut für Visualisierung und interaktive Systeme der Universität Stuttgart entwickelt wurde (vgl. Abbildung 6).[57] Das System ermöglicht die Navigation in den digitalisierten Poetiken auf verschiedenen strukturellen Hierarchie-Ebenen – vom Faksimile über einzelne Abschnitte und Kapitel-Ebenen bis hin zur Inhaltsverzeichnis-Ebene, aber auch die Anzeige von bereits bestehenden Annotationen auf verschiedenen Abstraktionsebenen, ebenso die Visualisierung von Suchergebnissen in unterschiedlichen Perspektiven sowie Darstellungen von Worthäufigkeiten.

Abb. 6: Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik dargestellt im Varifocal Reader (von links nach rechts)
                        als Wortwolke (häufigste Wörter) zu Kapiteln, Balkendiagramme und
                        Piktogramme zu Unterkapiteln, Seitenansichten und Faksimiles (eigene
                        Darstellung, 2015).
Abb. 6: Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik dargestellt im Varifocal Reader (von links nach rechts) als Wortwolke (häufigste Wörter) zu Kapiteln, Balkendiagramme und Piktogramme zu Unterkapiteln, Seitenansichten und Faksimiles (eigene Darstellung, 2015).

Die Annotationsebene entsteht also mit Unterstützung dieser auf Algorithmen basierenden Techniken, speist sie aber auch zugleich. Denn die beschriebenen Werkzeuge können auf die immer differenzierteren Annotationen zugreifen und dadurch trainiert werden (›Machine Learning‹). Die Annotationen werden also in einem iterativen Prozess entwickelt und stehen zwischen den zu untersuchenden Texten und deren algorithmischer Transformation (bzw. dem jeweiligen Algorithmus selbst), wie Ramsay die Selektion und die Visualisierungsperspektiven benennen würde.[58]

Diese zusätzliche textuelle Schicht der Annotationen enthält die in den vorigen Abschnitten erläuterten Schemata, ihre konkrete Anwendung in Form der Auszeichnung der relevanten Textstellen und die Dokumentation des Aushandlungsprozesses sowie die Begründungen von beispielsweise Klassifikationsentscheidungen in den Annotationsrichtlinien. Die hermeneutische Untersuchung der Textstellen wird also inklusive ihrer Interaktion mit algorithmischen Verfahren transparent gemacht, die einzelnen Schritte werden expliziert und nachvollziehbar dokumentiert. Dabei wird auch festgehalten, inwieweit eine Kategorisierung in Annotationsschemata möglich ist und wo die Grenzen liegen – zum Beispiel die im Korpus weit verbreiteten, teilweise widersprüchlichen Kombinationen theoretischer Ansätze zum Metaphernbegriff. Auch diese Grenzen stellen Erkenntnisse dar, die – mit der digitalen Weiterverarbeitbarkeit als Folie – im Zuge der möglichst weitgehenden, trennscharfen, antizipatorischen Operationalisierung für den Computer ausgelotet werden können. Nicht nur die algorithmischen Analysen selbst können als Kritik- und Reflexionsmöglichkeit bezüglich hermeneutischer Annahmen fruchtbar gemacht werden. Schon die Aufbereitung für die automatisierte Auswertung bietet Erkenntnismöglichkeiten – und zwar nicht nur hinsichtlich der Ausdifferenzierung geisteswissenschaftlicher Konzepte, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen algorithmischer Verfahren, also auch einem ›Criticism‹ hinsichtlich der Informatik. Diese dritte textuelle Ebene der Annotationen – zwischen annotiertem Text und algorithmischer Transformation – ist sozusagen das ›tertium comparationis‹, durch das der ›Algorithmic Criticism‹ als Forschungsparadigma erweitert werden kann.

6. Fazit: Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen des Ansatzes

Ramsays Ansatz war ursprünglich für die Interpretation literarischer Texte gedacht, die dem Leser bewusst Spielräume oder Leerstellen bieten. Im Projekt ePoetics hat sich aber gezeigt, dass sich der ›Algorithmic Criticism‹ auch auf wissenschaftliche Sachtexte anwenden lässt, die durchaus ebenfalls Aspekte aufweisen, die eine interpretatorische Analyse erfordern. Auch sie enthalten Leerstellen, die ergänzt und mit relevanten Inhalten angereichert, sowie implizite Informationen, die explizit gemacht werden können.

Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten wurden anhand der Beispiele und Annotationsschemata gezeigt. Um den theoretischen und exemplarischen Diskurs über den Metaphernbegriff in Poetiken in seiner Vernetzung zu erfassen, ist eine Bündelung der Schemata zum Begriffsverständnis und zur Referenzierung notwendig, da sie sich wechselseitig ergänzen (oder widersprechen). Dass sich hierbei jedoch nicht alle Grauzonen der Explikationen in schwarz oder weiß auflösen lassen und nicht immer eindeutige Zuordnungen von Poetiken zu einzelnen Denkschulen und Vorbildern möglich sind, das hat das Beyer-Beispiel gezeigt. Gerade die synoptische Betrachtung der Begriffsbestimmungen und der damit verbundenen Verweisungsstrukturen verdeutlicht, dass es Überschneidungen, und Vernetzungen von Ansätzen gibt, die letztlich zur Weiterentwicklung der Metapherntheorie führen. Aus Unschärfen, Differenzen und widersprüchlichen Aspekten bei der Bestimmung und Abgrenzung von Begriffen wie der Metapher und dem Vergleich entstehen neue theoretische Ansätze.

Die beschriebenen Operationalisierungen und Objektivierungen lassen aber auch bestimmte Tendenzen und große, korpusübergreifende Linien erkennen. So wird beispielsweise deutlich, dass neben Beyer auch Gottschall und Wackernagel an Quintilians Ansatz anknüpfen (und dabei auch aufeinander Bezug nehmen), während Baumgart und Borinski[59] die Metapher als Übertragung explizit im Verständnis von Aristoteles sehen. Andere Autoren verfolgen Mischformen daraus oder entwickeln das Begriffsverständnis tatsächlich weiter. Seidler versteht die Metapher zwar als Übertragung, seine Erläuterungen enthalten aber, wie erwähnt, schon Aspekte der modernen Interaktionstheorie, was insofern passend ist, als es sich bei seiner Poetik um das jüngste Werk im Untersuchungskorpus handelt. Die historische Diskussion über den Metaphernbegriff und die Anknüpfungspunkte an aktuelle Diskussionen werden durch die Ausdifferenzierung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede solcher Ansätze sowie deren wechselseitige Referenzierungen nachvollziehbar.

Auch im Hinblick auf den Umgang mit Primärliteratur konnten Erkenntnisse gewonnen werden: Zum einen lässt sich die Frage beantworten, welche Werke im konkreten Kontext immer wieder auftauchen, zum anderen aber auch, aus welchen Werken sich der literarische Kanon, der hier aufgerufen wird, insgesamt zusammensetzt. Bereits die bewusste Entscheidung für eine Textstelle oder ein Werk oder eine Autorin bzw. einen Autor kann als – wenn auch implizite – Wertung angesehen werden, ihr bzw. ihm eine gewisse Bedeutung zuzuweisen. Dies gilt auch für Beyers Wahl, den Auszug aus Goethes Faust als Beispiel für die Abgrenzung der Metapher vom Vergleich und ihrer Explikation als verkürzte Vergleichung anzuführen. Speziell bei Goethe fällt auf, dass dessen Metapherngebrauch im Untersuchungskorpus immer wieder negative Bewertungen erfährt, sich in den Primärbeispielen wie bei Beyer aber dennoch sehr häufig Goethe-Zitate finden. Shakespeare wird hingegen häufig als Musterautor der Metaphorik angeführt. In den Poetiken von Clodius[60], Gottschall und Dilthey wird er übereinstimmend als einer der metaphernreichsten Dichter und als Vorbild im Hinblick auf den richtigen Gebrauch von Metaphern aufgeführt. Ihm werden neben Goethe auch weitere Negativbeispiele gegenübergestellt. Dies sind vor allem die antiken Autoren Sophokles und Aischylos. Autorenbezogene Zuschreibungen wie diese lassen sich über das gesamte Korpus nachvollziehen und (auch diachron) vergleichend analysieren. Dass auch hierbei Problemstellungen bei der systematischen Erschließung auftreten, wurde anhand der unvollständigen Referenzierung und des geänderten Wortlauts des Goethe-Beispiels deutlich, ebenso, wie diese gelöst werden können. Dass aber auch hier Leerstellen nicht immer eindeutig ausgefüllt werden können, zeigte Beyers Beispiel vom »Meerroß des Eroberers«[61], bei dem nicht einmal die Textebene sicher bestimmbar ist.

Die automatisierte Auswertung setzt klare Kategorien und Variablen bei der Auszeichnung voraus. Insofern gilt es, auch die Grauzonen der Theorie dahingehend zu untersuchen, inwiefern eindeutige Abgrenzungen möglich sind – die Schärfung und Ausdifferenzierung bisheriger Ansätze ist an einigen Punkten umsetzbar, aber nicht immer. Das Projekt ePoetics hat den Versuch unternommen im Zuge der Erstellung von Annotationsschemata für sprach- und literaturtheoretische Begriffe eine Baumstruktur zu entwickeln, die nicht nur theoretisch funktioniert, sondern auch in der Wirklichkeit des Textes und der algorithmischen Auswertungsverfahren – sozusagen einen Goldstandard, der als gemeinsamer Nenner, als ›tertium comparationis‹ zwischen sprach- und literaturwissenschaftlicher Theorie und Informatik fungiert. Insofern kann man von der Suche nach dem »goldnen Baum« sprechen. Bis zu einem gewissen Punkt war die Suche auch erfolgreich. Einige Strukturen konnten identifiziert und ausdifferenziert werden. Die in den Schaubildern visualisierten Schema-Ausschnitte lassen sich auch auf andere Begriffe übertragen – in ePoetics wird beispielsweise an den Termini ›Erzähler‹ und ›Das Erhabene‹ gearbeitet. Doch es ist mehr daraus hervorgegangen als ein schematischer Baum mit begrenzten Verästelungsmöglichkeiten. Die Auseinandersetzung mit dem digitalen Paradigma und seinen Grenzen auf dieser dritten textuellen Ebene der Annotation zwischen Text und algorithmischer Transformation führt dazu, dass auch die Wurzeln der Theorien und ihre teilweise rhizomatischen Verknüpfungen besser beleuchtet werden können. Um ihre netzartige Komplexität zu erfassen, muss man die Grenzen der Baumstruktur jedoch überwinden.


Fußnoten


Bibliographische Angaben

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  • Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. [Nachweis im GVK]


Abbildungslegende und -nachweise

  • Abb. 1: Auszug zur Metapher aus Beyers Poetik, S. 157 (eigene Darstellung, 2015).
  • Abb. 2: Annotationsschema zum Metaphernbegriff (eigene Darstellung, 2015).
  • Abb. 3: Auszug zu Referenzen in Beyers Poetik, S. 157 (eigene Darstellung, 2015).
  • Abb. 4: Annotationsschema zur Referenzstruktur zum Metaphernbegriff (eigene Darstellung, 2015).
  • Abb. 5: Kollaborativ-diskursive Kommentierung von Zweifelsfällen und Formulierung von Annotationsrichtlinien im UAM-Corpus-Tool (eigene Darstellung, 2015).
  • Abb. 6: Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik dargestellt im Varifocal Reader (von links nach rechts) als Wortwolke (häufigste Wörter) zu Kapiteln, Balkendiagramme und Piktogramme zu Unterkapiteln, Seitenansichten und Faksimiles (eigene Darstellung, 2015).